19 | Schauen
Je weiter sich Leon mit den Jahren von Pastor Hansen – und von viel höherer Bedeutung von Grauen – entfernte, desto näher brachte es ihn ans tatsächliche Grauen.
Er wurde zunehmend hemmungsloser. Seien es die Tätigkeiten, die er ausübte, um Nahrhaftes zu sich nehmen zu können. Oder aber eben auch das. Das, was er in sich hinein füllte, um seinen Magen zu besänftigen. Immer der Spirale nach lief sein Ablauf nur in eine Richtung. Nach unten. Wie bei einer herabsausenden Lawine konnte er es nicht aufhalten, nur dabei zuschauen.
Doch nun stand er an einem Scheidepunkt.
Leon war verunsichert. Erst schleichend, dann immer aufdringlicher schlichen sich misstrauische Fragen in seinen Kopf; breiteten sich von dort aus; nahmen ihn ein. In seinem ganzen Sein.
Nach wie vor hörte er nichts von einer ganz bestimmten Meldung oder las über einen ganz bestimmten Pastor aus Grauen. Wurde es lediglich nicht publik gemacht? Oder hatte er sich in Pastor Hansen getäuscht? Konnte das wirklich möglich sein?
Zu Beginn hatte er sich mit jedem Schritt auch innerlich von den damaligen Geschehnissen gelöst; eher sie verdrängen wollen. Abwarten, sagte er sich stets und bemühte sich, eine Zeit lang nicht aktiv Antworten zu erhalten.
Doch obwohl er sich mit dem Weggang von der Kirche St. Nikolai vor allem von Wolfgang distanzieren wollte, schaffte er es nie. Nicht im Geiste. Im Inneren hatte er immer die Hoffnung, dass diese Geschichte aufgelöst und ein Ende finden würde. Mit der Zeit erhoffte er sich vor allem dadurch frei werden zu können und dass es ihn von seinen Qualen erlösen würde.
Ein winzig kleiner Spross an Hoffnung keimte sogar in ihm, dass er eines Tages zurückgehen konnte. Nicht zurück nach Grauen. Zurück zu Pastor Hansen. In den wenigen Momenten, in denen er vollkommen ehrlich zu sich war, hielten ihn nicht nur seine eigenen Sünden davon ab. Sondern auch die Furcht, dass sich womöglich nichts getan hatte. Dass Pastor Hansen – sein Retter und Vorbild – nichts unternommen hatte.
Mittlerweile gliederten sich ebenso diese Gedanken und verfälschte Bilder in die Strudel der Lawinen mit ein, die ihn sowohl nachts als auch am Tage heimsuchten. Denen er hemmungslos ausgeliefert war, denen er lediglich als Zuschauer beiwohnen konnte.
Auf welcher Seite stand Pastor Hansen? Wollte er es wirklich herausfinden? Auf gar keinen Fall!, schrie ihn ein Teil seines Inneren an. Wenn er sich in Hansen getäuscht hatte, würde das sein gänzliches, noch tragendes Bild, was er sich mühsam aufgebaut hatte, zerstören. Doch andererseits mochte er endlich eine Antwort darauf haben. Und vielleicht war Pastor Hansen genau der Mensch, den er immer in ihn gesehen hatte. Ein guter, aufrichtiger, ehrenwerter Mann. Einen, dem er vertrauen und zu dem er aufschauen konnte. Er war immer gut zu mir, warum kann ich darauf nicht vertrauen?
Welchen Schritt er als nächstes tun wollte, stand fest. Jedoch musste er schauen, ob er bereit war, die Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Vielmehr, ob er sie tragen konnte.
Welche Art von Lawine würde sich dadurch heranbahnen? Es gab viele Möglichkeiten. Es könnte eine sein, die ihn voller Glück zufriedenstellte und in den Schoß Gottes zurückkehren ließ oder eine unaufhaltsame und zerstörerische, die ihn ein erneutes Mal brechen würde.
Würde er der Lawine von einem halbwegs sicheren Platz aus zuschauen können oder würde er unter ihr begraben werden? Es machte ihm genauso Angst, nicht zu wissen, was kommt wie die Unwissenheit an sich.
Das, was er wollte, wusste er. Er musste sich lediglich überwinden. Seine Angst überwinden. Oder eher die Furcht, was daraufhin passieren würde. Es war ein Hin und Her in seinem Kopf. Er konnte die nächsten Jahre weiter so leben wie bisher, was eher einem Überleben statt Leben glich. Oder aber er bemühte sich endlich um Antworten. Auch dann – mit einer wie auch immer gearteten Antwort – bestand noch die Möglichkeit, zu schauen, wie es wohin ging.
Er befand sich an einem Scheidepunkt und hatte die Chance, die Spirale zu durchbrechen.
Leon schaute hoch hinauf in den Himmel. Er hat mich einmal gerettet, er wird es wieder tun. Der Herr ist mit mir, ganz gleich, wo ich bin. Er steht mir bei. Er nahm das goldene Kreuz, das die Jahre überstand und immer noch um seinen Hals hing, in die Hand, um es zu küssen. Dann schob er es wieder unter sein T-Shirt.
Er wusste nun, wohin ihn seine Füße tragen sollten. Auf dem Feldweg entlang der Hauptstraße begab er sich nach Linden. Einen Ort, den er nur einmal durchquerte, aber in dem er sich bisher noch nicht aufgehalten hatte. Der ihn dennoch ein kleines Stückchen näher zurückbrachte.
Mit den ersten Schritten spürte er sein Herz wilder klopfen. Aufgeregt visierte er gedanklich sein Ziel an. Das erste Mal hatte er ein klar benennbares Ziel. Das nächste Gemeindehaus oder den nächsten Treff in Linden. Ganz egal, Hauptsache, einen Platz, an dem er einen öffentlich zugänglichen Computer nutzen durfte.
»Habe ich dir nicht befohlen«, begann er laut gegen die Böen die Bibel zu zitieren – Buch Josua, Kapitel eins, Vers neun. »Fürchte dich also nicht und hab keine Angst; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir überall, wo du unterwegs bist«, rief er weiter. Dadurch, dass der Wind ihm seinen neuen Vers entgegenwehte, fühlte es sich so an, als würde er erneut mit den Worten beglückt werden. Es gab ihm sowohl Auftrieb als auch Rückenwind.
Somit stellte der Gegenwind für ihn kein Hindernis dar. Plötzlich konnte Leon es gar nicht mehr erwarten. Nun gab es kein Halten mehr. Seine Schritte wurden größer und schneller. In seinem Kopf kreiste nur diese eine Frage herum sowie sein Verlangen nach der Antwort.
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