17 | Rauen

Nach getaner Arbeit stellte er sich an. An eine Schlange voll mit Freaks. Zu Beginn dachte er, dass er unter ihnen – seinesgleichen – Freunde finden könnte oder wenigstens Bekanntschaften. Doch da irrte er sich wie bei vielem gewaltig. Selbst bei ihnen war er der Niemand und Ausgestoßene.

Chucky!, war nur eine – und eine der harmlosesten – Bezeichnungen für ihn. Und ein ›Hey‹ oder ›Hallo‹ hatten die wenigsten für ihn übrig. Jeden Tag aufs Neue alles Abwertende abzutun; an sich abprallen zu lassen, das kostete ihn viele Nerven – und obendrein Zeit. Immer wieder die harte, poröse Außenschale zu kitten und auszubessern, beanspruchte beides. Wobei er mit ihr – seiner Außenschale oder der Schutzschicht – noch unerbittlich im Zweikampf stand. Sie ließ sich nicht beirren, genauso wenig wie er. Die äußere Schale bröckelte stets weiter, als wäre das ihre Aufgabe, während er alles daran setzte, dass sie hielt.

Es ging ein paar Schritte weiter vorwärts. Kurz darauf stand er vor dem Kasten, der aussah wie manch Tauschschalter im Casino. Er legte seine Hand offen hin, sodass sein mickriger Lohn den Weg zu ihm finden konnte. Es glich eher einer Entschädigung denn einem Lohn. Für den Aufwand, den er sich antun musste. Dafür, dass er überleben konnte. Und doch war es viel zu wenig.

Er schloss seine Hand zur Faust und ließ damit seinen Lohn darin entschwinden. Nachdem er sich umdrehte und aus der Reihe schritt, stopfte er das Geld in die Hosentasche zu dem übrigen. Mit zügigen Schritten steuerte er den Ausgang an, derweil er sich seine Jacke an- und die Kapuze überzog. Tief über den Kopf, so tief wie nur möglich. Damit sein Gesicht den nötigen Schutz erfuhr. Nein, vielmehr war es andersherum. Damit die Außenwelt vor ihm und seinem entstellten, gruseligen Antlitz geschützt sein würde.

Um ein weiteres Stück seiner Würde beraubt, trat Leon aus dem Etablissement; hinaus in eine Nacht, die sich ihm wohlgesonnen zeigte. Er atmete tief durch. Die Luft brauste frisch auf, als würden sie sich auf hoher See befinden. Ihr raues Wesen schob ihn an, glitt hinten über seinen Rücken bis hoch an die Kapuze, als würde sie ihn streichelnd loben.

An den Gemäuern zu seinen Seiten wandelten Schatten, die ihn auf Schritt und Tritt folgten. Doch sie hatten nichts Bedrohliches an sich; eher sah er sie als seine freundliche Begleitung an. Auch wenn er sich bewusst war, dass es lediglich die Projektionen seiner selbst und der Umgebung waren, wurden die Schatten genauso seine Freunde wie die rauen Wände und die Nacht.

Im Beistand der Dunkelheit konnte Leon sich einzelner seiner geißelnden Schranken entledigen. Dann durfte auch er einen Hauch von Freiheit erschnuppern. Besonders unter der Woche.

Sobald die Sonne sich gen Horizont neigte, der Tag an Helligkeit verlor, machte Leon sich auf. Nicht, um seinen Feierabend zu zelebrieren wie die meisten anderen. Sondern um seinen Tag anzugehen; um seinen Angelegenheiten nachzukommen.

Nur zwei Schneidepunkte musste er dafür in Kauf nehmen, in denen Ansammlungen von Menschen einzukalkulieren waren. Doch es war berechenbar und damit auszuhalten. Kurz vor Sonnenuntergang, wenn er etwas anschaffen musste oder wenn er auf der Suche nach einer neuen Tätigkeit war.

Für heute aber war die Arbeit erledigt – er konnte aufatmen. Die Gassen gehörten ihm. An seiner Seite das Schattenspiel folgte er seiner Lieblingsroute, die ihm zum Marktplatz führte.

Vor ihm ragte ein alter Brunnen aus Stein gemeißelt auf. Mit irgendwelchen Figuren oder Statuen, dessen Namen er nicht nennen konnte. Es interessierte ihn schlichtweg nicht. Sie sollten lediglich sein Publikum darstellen. Er legte seinen Beutel und seine Jacke auf die Sitzfläche vor ihm ab und ging wieder ein paar Schritte zurück.

Sein linkes Bein zog er spielerisch über den Boden im Halbkreis, als würde er den Grund auf seine Beschaffenheit prüfen. Doch das musste er gar nicht, es wurde zu einem Ritual, mit dem er stets begann. Ganz automatisch setzte dann eine Melodie ein, zu der nur er fähig war, sie zu hören. Woher sie einmal kam, wusste er nicht. Er hinterfragte es auch nicht. Sie wurde ebenfalls zu einer treuen Begleiterin. Nach der er sich frei bewegte.

Als der erste Klang ertönte, erst leise und sacht, fügte sich sein Körper instinktiv. Leichte Bewegungen wurden ausgeführt, wobei seine Arme und Beine den eigenen Empfindungen nach ihren Ausdruck suchten. Bei jeder Steigerung des Rhythmus' wirkte auch sein Tanz belebter. Wie er sich in Kreisen über den Platz schwingen ließ, zeugte davon. Beflügelt vollführte er Drehungen um Drehungen, die sich wie eine Einheit anfühlten. Nahe des Endes nahmen seine Bewegungen eine Geschwindigkeit an, von der vielen schwindelig geworden wäre – sowohl beim Ausführen als auch beim Zuschauen. Der Schluss war eine wendige Mehrfachdrehung, die er abrupt stoppte und aus der er sich fallen ließ.

Nur in diesen Momenten ließ er sein Inneres übernehmen. Seine Hand lag auf Brusthöhe. Hektisch atmend befühlte er das Andenken an das Geheimnis, was unter seiner Kleidung verborgen lag. Ganz gleich, wie weit er sich von Grauen entfernte, er kam davon nicht los.

Hatte Pastor Hansen gehandelt? Er hatte nichts darüber erfahren. Wäre es nicht in den Medien erschienen?

Als sich sein Atem beruhigte, erhob er sich vom Boden, um sich beim Brunnen dankend zu verbeugen. Dann ließ er sich noch kurz auf die Sitzfläche davor nieder. Langsam zog er sich seine Jacke wieder über und griff schon einmal seinen Beutel.

Gab es irgendwie eine Möglichkeit, abseits von Grauen herauszufinden, ob der Pastor gehandelt hatte?

Irritiert durch Geräusche, die an seine Ohren drangen, schaute Leon auf und um sich. Heute war er spät hierhergekommen, viel später als sonst, bemerkte er in diesem Augenblick. Offenbar begann bald der Tag.

Kurz vor Sonnenaufgang kam der zweite Schnittpunkt mit der Bevölkerung. Während die ersten anderen Menschen ihren Tag in Angriff nahmen und manche von ihnen trällernd an ihm vorbeizogen, bekam er erneut gespiegelt, wie sein Leben nicht aussah: Normal.

Das Klima in diesem kleinen Ort veränderte sich zunehmend; der Wind würde nicht mehr lange seine Segel stützen. Es wurde deutlich rauer. Bald würde er weiterziehen müssen. 

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