16 | Taugen

Braun an Braun zog sich zu allen Seiten fort. Helles, dunkles und verschiedenste andere Abstufungen von Braun. Zwischendrin versuchten Halme ihr Glück, das letzte bisschen an Wasser in sich aufzusaugen, um überdauern zu können. Doch ihr Schicksal schien bereits besiegelt zu sein. Dürr und niedergeschlagen hingen sie matt dem Boden entgegen, der ebenso braun war. Einen deutlichen Kontrast zum Braun konnten sie keinesfalls mehr herstellen. Eher reihten sie sich in dem Gemisch aus Trostlosigkeit und Verdammnis mit ein. Einzig die dunklen Konturen, die sich im Boden auftaten, hoben sich ab, waren jedoch nicht weniger niederschmetternd. Beinahe hätte der Boden einen täuschen können; gar glauben lassen können, dass er aus einzelnen verlegten Steinen bestehen würde, doch seine Versuche dahingehend waren zu offensichtlich, dreist und auch durchschaubar. Dazu die unzähligen Risse nicht exakt genau.

Bald würden sich die Rinnen füllen. Vielleicht nicht heute, aber in den nächsten Tagen könnte es einen ordentlichen Schauer geben. Der Himmel schien bedeckter zu werden. Die ausgedörrte Welt würde sich freuen, wenn sie dabei nicht ertrinken würde. Wie das Spiel ausgehen würde, würde sich noch zeigen.

Aber ... eine kahle Landschaft würde eine kahle Landschaft bleiben, es sei denn, die Gesellschaft sah sich verantwortlich und zwang sich, endlich in die Umsetzung zu gehen. Doch dazu taugte sie nicht.

Daran glaubte Leon schon lange nicht mehr. Wenn einmal etwas abgeschrieben war, würde das auch genau so fortbestehen. Er trat aus dem Wanderpfad heraus und überquerte die Landstraße, die er für ein paar Meter nehmen musste, um in das Zentrum des Ortes zu gelangen. Sein Ziel. Im Gegensatz zu den Feldern war die Straße einigermaßen intakt.

Seit er vom Pastor fortging, um sich seinem Glück zu stellen; sich seinem Weg zu öffnen, war er nur um ein paar Münzen reicher geworden und hatte schon mehr Ortschaften durchzogen, als er Sockenpaare bei sich trug.

Das Leben war hart. Gerade für jemanden wie ihn. Abseits von Grauen gab es für ihn dennoch nichts als Grauen.

Überall, wo er hinkam, war er der Nichtsnutz, der Ausgestoßene, ein Niemand. Der, auf den sie alle zeigten. Der, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte. Mittlerweile überwog das Verständnis die Enttäuschung. Tatsächlich konnte er sie verstehen. Daher mied er die meisten sozialen Interaktionen, wollte er doch niemanden erschrecken.

Sein Gesicht machte so manch übler Gestalt Konkurrenz. Aufgrund der leichten Deformierung im Gesicht – wie die wenigen Leute meinten, die mit ihm sprachen, denen er jedoch keinen Glauben schenken konnte. Und weil es dazu an eine überreife Avocado erinnerte, könnte er in jedem Fall dazu taugen, in einigen Horror-Schaufenstern anstelle der Gruselpuppen zu stehen.

Auf solche Komplimente konnte Leon jedoch verzichten. Dann mochte er wirklich lieber gar keine Kontakte. Obwohl er sich inzwischen ziemlich einsam fühlte. Immer mehr wurde Leon bewusst, was unfrei in Wahrheit bedeutete. Bei Pastor Hansen dachte er, er wäre unfrei, doch nun war er es. Oft sehnte er sich zurück in das Gemeindehaus.

Niedergeschlagen wie die Halme, die er eben erst bemitleidet hatte, bog er in den Ortskern hinein, der ihn genauso wenig willkommen hieß wie seine Bewohner. Aufschauen musste er dafür nicht, ebenso nicht für den Weg, den er einschlagen wollte. Leon grub seine Hände tiefer in die Hosentaschen und befühlte, was er dort finden konnte. Nur wenige Münzen, wie er schon vermutet hatte. Heute würde er das Essen sein lassen; sich ganz dem anderen Ziel hingeben.

Nach ein paar weiteren Schritten schlürfte er in die nächste Gasse, in der sich die Ortskirche befand. Doch die war nicht sein Ziel. Ganz im Gegenteil. Seit der Kirche St. Nikolai hatte er zwar noch Kirchen betreten. Doch nachdem ihm kein Obdach mehr gewährt wurde, ließ er es gänzlich bleiben. Es war keine bewusste Entscheidung, die er gefällt hatte, es kam eher so. Je mehr Zeit verstrich, desto weniger fand er den Mut, eine Tür zum Gotteshaus zu öffnen.

Die letzten Strahlen des Tages trafen vor ihm auf den gepflasterten Boden, sodass er kurz innehielt und nach oben in den Himmel sah.

Von seinem hart verdienten Geld konnte er sich gerade mal alle paar Tage etwas zu essen leisten. Er musste nehmen, was er bekam. Vor Jesus bereute er jede einzelne Sekunde von dem, was er tat, und wenn Pastor Hansen es wissen würde, würde er sich vor ihm fürchterlich in Grund und Boden schämen. Vergib mir, sprach er zum Himmel und richtete seinen Blick wieder auf den Weg.

Doch er wusste, dass er das nehmen musste, was er bekommen konnte. Und deswegen ging er nun genau zu diesem Ort, den sonst ein Jugendlicher eher mied. Ob ihn jemand für jugendlich hielt? Vermutlich nicht. Seine Schritte wurden größer, damit er schnellstmöglich an der Kirche vorbeihuschen und in die nächste Gasse abbiegen konnte.

Es waren zwar keine Schaufenster in einem Laden für Gruselbedarf, aber er sollte sich zur Schau stellen. Damit ihn andere anstarren und begaffen konnten, um ihn dadurch zu peinigen, während er nur still und stumm da stand; derweil er alles über sich ergehen lassen musste. Für ein bisschen Geld.

Das gläubige Gebet wird den Kranken retten und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden begangen hat, werden sie ihm vergeben‹, betete er sich gedanklich auf den letzten Metern zu. Zu einem Ort voller Grauen für ihn. Einem Ort, an dem er etwas taugte. Für etwas, das er verabscheute.

Leon war zu dieser Zeit siebzehn Jahre alt. 

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