15 | Tauschen
Die Zeit verflog. Leon irrte umher. Das Leben abseits von Grauen und der Kirche St. Nikolai stellte er sich anders vor.
Vor vielen Jahren trieb ihn die Angst und Furcht weg vom Bekannten – er war geflüchtet und fand eine Zuflucht. Nun war er von dieser erneut fortgegangen. Aus anderen Gründen und doch fühlte er sich weiterhin, als wäre er auf der Flucht. Doch wovor?
Es war ein inneres, jagendes Gefühl, dass ihn vorantrieb. Teilweise stand sein Körper unter höchster Anspannung und sein Geist meinte ihm zuzuflüstern, das Schatten hinter ihm auflauern. Teilweise. Denn andererseits war da nichts. Sowohl hinter ihm als auch in seinen Gedanken. Anspannung und Leere wechselten sich ab; spielten Pingpong miteinander und Leon blieb nichts anderes übrig, als dabei zuzusehen, wer den nächsten Treffer landete.
Ihm wurde bewusst, dass Freiheit nicht gleich Freisein bedeutet. Er war jung und doch standen ihm nicht alle Möglichkeiten offen wie vielen anderen.
Wenn ich nur tauschen könnte ... Ein Wunsch, den Leon immer wieder heimsuchte, anstatt sich mit dem zufriedengeben zu können, was er hatte. Wenn ihm dieser Gedanke kam, wuchs binnen weniger Sekunden danach sein schlechtes Gewissen rasant an. Warum nur gelang es ihm nicht, glücklich zu sein? Er war da, niemand hielt ihn auf. Und doch war da sehr viel nicht.
Er hatte weder ein richtiges Ziel noch viele Optionen. Zunächst gab es lediglich das Vorhaben, in die Welt zu gehen. Doch dann? Er wusste es nicht; wusste nicht, was dann folgen sollte; was er tun konnte.
Obdach in Kirchen zu finden, funktionierte zu Beginn. Doch lange währte es nicht. Es wurde immer rauer für ihn und so musste er immer häufiger im Freien übernächtigen. Nichts, was vermochte ihn zu brechen. Damit konnte er sich arrangieren. Standhaft wollte er bleiben, zudem sich aus unerfindlichen Gründen bloß nicht auf den Rückweg begeben. Vermutlich auch, weil er es geschafft hatte, sich von Grauen zu distanzieren. Das tat ihm gut. Außerdem wollte er sich nicht beirren lassen und Hoffnung in seinen neugewonnen Glauben stecken. Obwohl Letzteres gefühlt bereits immer weiter schwand.
Was ihn vielmehr drohte zu Sturz zu bringen, waren die unablässigen Blicke der anderen; der Angehörigen der Gesellschaft. Sie vermittelten ihm, dass er nicht dazugehörte; dass er das bleiben würde, was er immer schon war. Sie zeigten ihm, dass es für ihn kein Entkommen gab und er niemals eine Chance erhalten würde, sich daraus zu befreien.
Er war ein Niemand.
Seine Entstellungen im Gesicht würden ihn für immer brandmarken. Dieser eine Abend, als er sich meinte, von Wolfgang zu befreien, hatte zwei Seiten: Befreiung und Begrenzung. Für ihn hinterließ das Damalige ernsthafte Konsequenzen, die ihn auf ewig begleiteten. Narben – nicht nur außen.
Sobald ihn doch jemand wahrnahm, schienen sie in ihm eine Art Monster zu sehen. Die Reaktionen glichen den seinen, wenn er nichts als Verdorbenes zu essen bekam. Wie er sich fühlte, wenn er sich nichts leisten konnte und sich den Abfalltonnen annehmen musste, um dort nach Resten zu suchen. Angewidert waren sie von ihm.
Mittlerweile bereute er es, dass er sich nicht einmal die Adresse von Pastor Hansen – beziehungsweise die der Kirche St. Nikolai – notiert hatte; dass er die physische Bindung auf diese brachiale Art gekappt hatte.
Aber ganz vielleicht würden sich eines Tages doch noch einmal ihre Wege kreuzen? Eins hatte Leon in jedem Falle vor. Zu beobachten, was dort, wo er herkam, geschehen war.
Ob der Pastor noch an ihn dachte; ihn wirklich in seine Gebete einschloss? Wenn dem so war, wo ist Gott oder sein Sohn, um mir meinen Weg zu zeigen? Leon fühlte sich zeitweise hilflos und von Gottes Hilfe verlassen. Auf die geistige Verbindung zu Pastor Hansen hoffte er dennoch immer.
Die anfängliche Euphorie, die Welt zu erkunden, schlug schnell in Sehnsucht um. Nach mehr, nach etwas anderem, aber vor allem – wenn er es schaffte, ehrlich zu sich zu sein – nach dem Bekannten, was er in den vorherigen Jahren gewinnen durfte. Am liebsten hätte er seine Entscheidung rückgängig gemacht.
Wie konnte er so dumm sein und glauben, dass er sein Selbst finden würde?
Doch er wollte stark bleiben und tief im Inneren wollte er es sich und allen anderen beweisen. Außerdem ließ es sich nicht ändern. Die Entscheidung war gefällt – wie auch alle anderen bisherigen in seinem Leben. Ihm wurde bewusst, dass er vielleicht vieles in bestimmten Situationen bedachte, aber eine wirklich richtige Wahl zu treffen, gehörte nicht zu seinen Stärken.
Du hast die Konsequenzen daraus zu tragen, hörte er mal wieder seine mahnende innere Stimme zu ihm sagen, der er zustimmen musste. Das gehörte schließlich zum Leben dazu. So nahm er sich vor, nicht zurückzublicken, sondern nach vorne.
Ein knappes Jahr irrte er bereits umher. In diesem Jahr hatte er schon einiges gelernt. Insbesondere, wie es in der Welt tatsächlich zuging. Dass die Welt der Kirche St. Nikolai dagegen wahrlich eine kleine Arche war. Jedoch rückte dieser sichere Hafen für ihn immer weiter in die Ferne. Mit jedem Schritt und jedem Tag schien es, als würde sie sich ohne ihn Platz für Platz füllen und bald ohne ihn hinaussegeln, während er der Flut ausgesetzt sein würde.
Obgleich Leon sich wünschte, mit jemanden auf Noahs Arche tauschen zu können, lenkte er nicht ein. Er folgte seinem Vorhaben, wenn auch ohne richtigen Plan. Er schritt weiter vorwärts.
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