11 | Erlauben
Das weinrote Päckchen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, was es verbarg – vielmehr betonte es seinen Inhalt. Es war wie bei einem fürchterlichen Unfall. Nicht, das Leon schon mal einen zu Gesicht bekam, doch er verstand die Redewendung durchaus. Man wollte wegschauen, doch konnte es einfach nicht. In diesem Fall jedoch nicht wegen des Offensichtlichen, sondern wegen dem, was zu einem unfreiwilligen Geheimnis zwischen ihm und Wolfgang geworden war. Er wollte es nur noch loswerden, nichts mehr damit zu schaffen haben. Eigentlich wünschte er sich, es niemals gefunden zu haben; niemals an Schätze und Wunder geglaubt zu haben.
Ihm fiel nur ein Ort zum Verscharren ein. Gleichsam war es ein geradezu geeigneter sowie undenkbar unpassender Ort. Niemand würde damit rechnen, doch er würde sich einen besonderen Platz verderben, bevor er ihn auskosten konnte.
Aber die bedeutendere Frage war: Wie kam er dort ungesehen hin? Konnte er sich erlauben, sich hinauszustehlen? Er hatte keinen blassen Schimmer, wie die Abläufe des Pastors vonstattengingen, wie viele eventuell noch im Gemeindehaus hin- und herliefen; ob er jemandem begegnen konnte und Geschweige denn, wie er sich ihnen gegenüber verhalten sollte.
Doch sobald er sich dem Päckchen besah, wusste er, er hatte keine andere Wahl. Er nahm seine Schuhe sowie den Beutel in die Hand und schlich zur Zimmertür, um sie vorsichtig zu öffnen. Dann, eng an dem Türrahmen anlehnend, lugte er hinaus in den Gang und spitzte seine Ohren. Es waren keine Geräusche zu vernehmen. Vermutlich saß Pastor Hansen in seinem Büro, und wenn sich noch jemand anders hier aufhielt, tat der das Gleiche.
Leon zählte von drei abwärts herunter und stieß sich dann von dem Türrahmen ab. Mit großen Schritten tapste er auf Zehenspitzen den Gang geradewegs auf den Ausgang zu. Bevor die Hauseingangstür zu polterte, stoppte er sie rechtzeitig. Nicht nur, um das Geräusch zu verhindern, sondern auch, weil ihm einfiel, dass er keinen Schlüssel hatte.
Wie sollte er wieder hineingelangen? Das Vertrauen, das er vom Pastor entgegengebracht bekam, wollte er nicht schamlos ausnutzen beziehungsweise es nicht derart aussehen lassen. Sorgenvoll guckte er sich mit der Tür im Rücken anlehnend um. In der Hoffnung, unentdeckt zu bleiben. Ein Glück für ihn, dass die Tretmatte hier unversehrt geblieben war. Er schlüpfte wieder etwas durch die Tür hinein, rollte die Matte zusammen und stopfte diese zwischen Tür und den Rahmen. Es hielt; einen Spalt breit blieb sie offenstehen.
Eilig schritt er seinen Weg fort. Wann es Essen geben würde, wusste er nicht, aber der Druck saß ihm nun im Nacken. Nicht nur der. Scham, Schuld und Angst machten sich auf seinem Rücken breit und tobten sich ordentlich aus.
Bei seiner Beobachtung vorhin hatte er eine Schaufel im Kräutergarten gesehen, mit der er die Erde auf der Seite mit der Bank ausheben wollte. Diese Kleinigkeit – das Kästchen hier zu vergraben – musste er sich erlauben, auch wenn es sich zugleich falsch und als Verrat anfühlte.
Als er im Innenhof ankam, dankte er dem Himmel, dass niemand anwesend war. Vorsichtig, da er seine neue Kleidung bestmöglich vor Schmutz bewahren wollte, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, machte er sich an die Arbeit. Ebenso dankte er dafür, dass Gehilfen hier fortwährend die Erde lockerten und sie demnach nicht zu hart durch das Schneetreiben geworden war. Dadurch wurde er recht schnell mit seinem Vorhaben fertig.
Sein Körper dankte es ihm wiederum nicht, denn der war für derartige Belastungen noch nicht zu gebrauchen, wie er auf dem Rückweg merkte.
Die Tür des Gemeindehauses rückte in sein Sichtfeld, doch zu seinem Entsetzen war die Tür geschlossen und die Matte lag ordentlich davor. Seine Schritte entschleunigten sich. Die Spielkumpane seines Rückens – Schuld und Scham – beehrten ihn erneut und krochen von unten nach oben hinauf; setzten sich an seinem Nacken fest.
Was sollte er nun tun?
Er ging gesenktem Hauptes bis vor zur Tür, die sich prompt öffnete. »Was erlaubst du dir eigentlich, mir so einen Schrecken einzujagen? Ich habe mir Sorgen gemacht!«, wurde er direkt angesprochen und dadurch erschreckt. Trotz des harscheren Tons konnte er die Sorge aus Pastor Hansens Stimme heraushören. »Ein Glück geht es dir gut. Mach das ja nie wieder mit mir, okay?«
Leon wusste nicht, wie ihm geschah. Schon wieder rollte ihm eine Träne über sein Gesicht. Ob der Erleichterung oder weil es ihn gerührt hat, vermochte er nicht einzuordnen.
Pastor Hansen führte Leon, nachdem dieser sich im Bad erfrischte, mit in einen größeren Raum, in dem sie gemeinsam beteten und aßen.
Später, als Leon alleine in seinem Zimmer saß, überkamen ihn Zweifel. Er war zwar abseits von Grauen, aber nicht weit weg. Wolfgang war bereits hier. Was geschieht, wenn er wieder kommt? Sollte er nicht lieber an seinem ersten Plan festhalten und dies als Zwischenstation ansehen?
Andererseits hatte Pastor Hansen ihm gesagt, dass er Wolfgang gegenüber nichts von ihm erzählte. Konnte er sich etwas denken? Sollte er dann nicht so oder so fliehen? Wäre es nicht für alle besser, wenn er verschwinden würde?
›Du bist eine Schande und bringst auch nichts als das‹, hörte er erneut.
Er war nur ein Niemand, der jedem anderem Übles brachte, der sich viel zu viel erlaubte. Wie konnte er nur denken, dass er so etwas wie Stützpfeiler, eine Arche und einen Hansen verdiente?
Die Selbstzweifel kamen mit voller Wucht zurück. Die Narben fraßen sich dieses Mal von außen in ihn hinein. Das Gute, das er sich erlaubte zu kosten, konnte nicht von langer Dauer sein. Wie konnte ich das nur glauben? Ich habe es gar nicht verdient.
Pastor Hansens Großmütigkeit in allen Ehren, doch ...
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