10 | Bauen
Eine seltsame Ruhe herrschte in der Halle. Im flackernden Licht schwebten die gesprochenen Worte. Sie forderten keine unmittelbare Erwiderung, dafür jedoch seine Aufmerksamkeit. Er folgte ihnen durch das Kirchenschiff zum Altar und hoch hinauf.
In dem Schein der Kerzen wirkte das Kreuz weniger drastisch, als würde es Jesus viel eher tragen, statt er daran hängen; als würde es ihm Halt verleihen, wie die imposanten Säulen eine Stütze für die Kirche waren.
Die Buntglasfenster erzählten eine Geschichte. Auch wenn Leon diese nicht ernsthaft begriff, konnte er durchaus die Liebe darin erkennen, die Gemeinschaft, die die Menschen bildeten.
Eine Arche. Für ihn. Es wäre eine Säule, die er um sich herumbauen könnte.
»Aber diese Kirche darfst du gerne als eine Art Arche betrachten«, bot Pastor Hansen ihm vor einigen Augenblicken an. Worte, denen er gerade nachfühlte und folgte, um in Erfahrung zu bringen, was es für ihn zu bedeuten hatte.
Sein Blick wanderte über die Deckenwölbung nach hinten zu dem offenen Kirchenschiff, wobei er sich umdrehte. Die Kirchentüren schienen verschlossen zu sein. Er steuerte mit seinen Augen ein klares Ziel an. Den Sitzplatz, auf dem ihn der Pastor gefunden hatte.
Er erinnerte sich zurück an den Abend vor zwei Tagen. Erfroren und nahe dem Tod; wie er der Allgemeinheit für diesen Ort dankte; dann erschien jemand – Pastor Hansen – für diesen Niemand. Für ihn.
Er konnte es nicht verhindern, dass sich eine Träne löste, wofür er sich unmittelbar erneut schämte. Nachdem diese trocknete, drehte er sich zu Pastor Hansen um. Graue Augen schauten ihn noch immer an. Grau ist nicht gleich grau. Es lag kein Grauen in dem grauen Augenpaar. Sondern Wärme.
Ein zaghaftes, lächelndes Nicken brachte Leon zustande und hoffte, dass der Pastor es als dankende Zustimmung interpretierte.
»Schön, dann wäre das ja geklärt«, entgegnete Pastor Hansen mit schimmernden Augen.
Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf den Seitenausgang und erst da begriff Leon, dass es dem Pastor lediglich darum ging. Um sein Geschenk, was ihm erneut Tränen in die Augen trieb. Auf dem Rückweg erkundigte sich der Pastor, ob Leon Verwandte habe, was er mit einem Kopfschütteln verneinte. Daraufhin entschied der Pastor, dass Leon auf unbestimmte Zeit im Gemeindehaus unterkommen könnte, wenn er das ebenso möchte. Und falls dem so sei, würde er sich selbst ebenfalls dort einquartieren, da er sowieso die meiste Zeit dort wäre.
Viel zu eilig, befand Leon zumindest selbst, nickte er dem Vorschlag zu, was Pastor Hansen auflachen ließ. Dann sagte er: »Sehr schön.«
Nach ein paar weiteren Schritten kamen sie bereits beim Gemeindehaus an. Mit einem Lächeln im Gesicht wandte sich Hansen der Tür zu, schloss und hielt sie auf, sodass Leon vorgehen konnte.
An der Garderobe zogen die beiden sich die Jacken aus. Die Schuhe könne Leon sich im Zimmer abstreifen, damit er nicht den ganzen Weg auf kaltem Boden laufen müsse. Das sah Leon als Zeichen an, zu seinem zugeteilten Raum zu gehen.
»Warte noch, bitte«, hielt ihn der Pastor zurück. Die Worte, wie sie gesagt wurden, konnten nichts Gutes verheißen, eher etwas Grauenvolles.
»Gestern Abend kam der Pastor des Nachbarortes vorbei.« Leon spürte den durchbohrenden Blick von Hansen, der versuchte, etwas aus seiner Haltung ablesen zu können. Er scheiterte kläglich daran, seinen Körper entspannt zu halten. Jedes einzelne Wort fuhr ihm wie ein Messer ins Fleisch und trieb ihm den Schweiß aus allen Poren.
»Weißt du, von wem ich spreche?«, fragte Hansen.
Leon schüttelte sofort mit dem Kopf zur Verneinung.
»Er meinte, er wolle nur bei allen angrenzenden Gebieten nachschauen und fragen, wie es ihnen ergangen ist mit dem grauenhaften Wetter.«
Pastor Hansen hatte den Wortteil ›grauen‹ genauso betont, wie es Wolfgang immer tat und konnte sich gut vorstellen, dass er ihn damit nachahmte.
»Und ob wir auch Verluste erlitten haben.«
Erneut stockte Pastor Hansen. Erneut, um Leons Reaktionen abzuwarten. Doch er wollte standhaft bleiben, nichts verraten.
»Ich habe ihm gesagt, dass nichts Außergewöhnliches geschehen ist. Alles ruhig wie immer zu solchen stürmischen Tagen. Dann hat er sich verabschiedet.«
Leon reagierte nicht. Weder Kopfschütteln noch ein Nicken kam von ihm.
»In Ordnung, geh ruhig ins Zimmer, wenn du möchtest. Zum Essen hole ich dich dann ab.«
Leon nickte ihm zu und verschwand dann so schnell, wie es ging durch den Gang in seinen Raum. Hinter sich hätte er am liebsten die Tür zugeknallt, aber er besann sich rechtzeitig und ließ sie vorsichtig zugleiten.
In diesem Raum ist es sicher, wiederholte er immer wieder zu sich selbst in Gedanken sprechend.
Hier in diesem Zimmer konnte er nicht von Wolfgang gefunden werden. Es sei denn, Pastor Hansen würde ihn verraten. Erneut brach Schweiß aus. Er knibbelte an seinen Fingern, ließ sie dann aber hinunterschwingen, lief daraufhin quer durch den Raum und wurde beinahe verrückt. Sein Blick glitt zu der Bibel, aus der Pastor Hansen ihm vorgelesen hatte.
Dieser Pastor war anders. Das traute er ihm nicht zu. Mit ihm konnte er sich Stützpfeiler aufbauen. Und er war einer davon, der erste sogar.
Jedoch konnte das Kästchen nicht hierbleiben. Nicht in diesem Zimmer. Viel zu hoch war das Risiko – die Gefahr –, dass es doch gefunden wurde oder womöglich aus Neugierde angeschaut werden würde.
Er besah sich den ganzen Raum, ob es eine Tasche, einen Beutel oder etwas dergleichen gab. Es waren keine Schränke in diesem Zimmer vorhanden, doch in einer Schublade des ihm nahestehenden Tisches wurde er fündig. Ein weinroter Beutel kam zum Vorschein. Er kroch unter das Bett, holte das Scheusal hervor und verstaute es in dem Beutel.
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