16. Kapitel


Ich hatte mich nun schon seit einer Woche bei Enzo und Sienna eingenistet und trotz all meiner Erwartungen, schienen die Beiden nicht genervt von mir zu sein.
Sie wirkten eher so, als würden sie sich Sorgen um mich machen. Vor allem Sienna schien mit meiner Tiefstimmung nicht besonders klar zu kommen.
Ich war wie ein schwarzer Fleck in dem perfekten Leben der Beiden und dennoch tolerierten sie mich.

Während Enzo mir den Freiraum gab, den ich brauchte, scharwenzelte Sienna ständig um mich herum.
Ständig versuchte sie mich von einen Filmabend zu überzeugen, doch ich hatte keine Lust, wie das dritte Rad am Wagen, meinen Abend neben einem kuschelnden Pärchen zu verbringen. Vor allem nicht, nachdem Patrick und Blake Schuld an meiner miesen Laune trugen.

Den Vormittag über verschanzte ich mich solange in meinem Zimmer, bis Enzo mich um Hilfe im Restaurant bat. Danach blieb ich bis zum Ladenschluss unten und bediente die spärliche Auswahl an Kunden, die sich bei dem Schneetreiben in den Italiener verirrt hatten.
Den Rest des Abends verbrachte ich dann auf der Couch, sofern keiner zuhause war, und zog mir einen Horrorstreifen nach den anderen rein.
Das schauerliche Geschrei von panikerfüllten Menschen schien das Einzige zu sein, was meine angeschlagenen Nerven ertrugen. Es lenkte mich erfolgreich von all dem Drama in meinem Leben ab.
Die Nächte verbrachte ich meist wach und ruhelos. Meine Gedanken erlaubten mir keinen Schlaf.

Gerade rekelte ich mich träge auf der Couch meiner Gastgeber und beobachtete mit halbherzigem Interesse, wie ein junges Mädchen verzweifelt Schutz in einem verstaubten Schrank fand.
Normalerweise war ich ein ziemlicher schreckhafter Mensch. Horrorfilme waren für mich der pure Alptraum, doch jetzt beruhigte der übliche Ablauf der Handlung mich.
Ich konnte genau vorhersagen, wann der Mörder zuschlagen würde. Es war einfach offensichtlich. Es gab keine Überraschungen.
Anders als in meinem Leben.

Ich seufzte leise auf und rollte mit den Augen, als das Mädchen keuchend die Schranktüren öffnete. Langsam und mit Bedacht. Nur wenige Sekunden später tauchte das entstellte Gesicht des Psychopathen auf. Ein grässlich greller Schrei begleitete sein Auftreten.
„Was für eine Überraschung", murmelte ich ironisch. „Wer hätte mit dieser Wendung rechnen können?"
Gelangweilt rollte ich mich auf der Couch herum, sodass ich mein Gesicht in der Decke vergraben konnte, welche ich provisorisch als Kopfkissen benutzt hatte.

Das Piepen meines Handys verlangte meine Aufmerksamkeit und ich ließ bereitwillig meinen Blick von dem Fernseher auf den Beistelltisch gleiten.
Eine Nachricht erhellte das Display und ich kniff mühevoll die Augen zusammen, um den Namen des Absenders zu entziffern. Vergebens.
Mit einem gequälten Stöhnen richtete ich mich auf der Couch auf, um mein Smartphone zwischen die Finger zu bekommen.
Wider meiner Erwartung war es nicht Enzo, der mich von meiner öden Trostlosigkeit befreite, indem er um Hilfe im Restaurant bat. Stattdessen hatte mir Ava eine Nachricht hinterlassen.

Ich zögerte eine Sekunde, bevor ich mithilfe meines Fingers das Handy entsperrte und Avas bittende Worte überflog.
In den vergangenen Tagen hatte ich, im regelmäßigen Abstand, Nachrichten von meinen Freundinnen bekommen, in denen sie immer wieder nach einem Treffen fragten.
Während Harper mich mit tröstenden Worten zu locken versuchte, schlug mir Ava immer wieder die eiskalte Wahrheit ins Gesicht.

Ich wusste nicht, wie lange ich die Beiden noch aus meinem Leben ausschließen konnte, aber ich war definitiv noch nicht bereit, ihnen wieder gegenüber zu stehen.
Dafür war die Wunde noch zu frisch. Der Schmerz zu groß. Ich hatte wirklich noch keine Kraft dazu, um das Erlebte vor meinen Freundinnen zu offenbaren.
Ich würde die Enttäuschung in Harpers Augen nicht ertragen, wenn sie erfuhr, dass ich mit ihrem Mitbewohner einen Schritt zu weit gegangen war und somit ihren Wunsch missachtet hatte.

Ohne auf Avas Nachricht zu antworten legte ich das Handy zurück auf den Tisch und widmete mich wieder dem Film, der das Wohnzimmer in ein schaurig düsteres Licht tauchte.
Das Mädchen war mittlerweile tot und der Killer hatte sich ein neues Opfer gesucht, an dessen Fersen er sich heften kann.
Was für eine Überraschung! Mit solch einer Wendung des Filmes hatte ich überhaupt nicht gerechnet!

Ich rollte mit den Augen, kuschelte mich aber dennoch tiefer in das provisorische Kissen und beobachtete die Handlung weiterhin mit mangelndem Interesse.
Vielleicht konnte eine überraschende Wendung meine Meinung noch ändern. Wer weiß?
Allerdings ließ der momentane Ablauf nicht darauf schließen, dass der Drehbuchautor von dem üblichen Schema der Gruselfilme abweichen würde.

Mit einem verzweifelten Seufzer, der meine Langweile graziös zum Ausdruck brachte, wandte ich mich auf der Couch solange herum, bis ich anstatt des flimmernden Bildschirms die weiß gestrichene Decke betrachten konnte.
Was tat ich eigentlich mit meinem Leben? Ich verkroch mich bei einem jungen Paar, das ich kaum kannte, nur weil ich nicht den Mut besaß, mich der Wirklichkeit zu stellen.

Es war eine logische Schlussfolgerung, dass Sienna und Enzo mich bald ihres Heimes verweisen würden, da die trübe Aura, welche mich auf Schritt und Tritt verfolgte, ihre reine und perfekte Welt befleckte.
Ich würde auch nicht ein Mädchen bei mir hausen lassen, dass das Lachen verlernt hatte. Vor allem nicht, wenn ich solch ein, von positiven Gefühlen überquellender, Mensch wie Sienna wäre.
Es grenzte wahrlich an einem Wunder, dass die dunkelblonde Schönheit mein zurückgezogenes Leben bisher toleriert hat.

Unwillkürlich schweiften meine Gedanken zu Blake. Seine blauen, tiefgründigen Augen. Die kleine Narbe, die verhinderte, dass an seiner rechten Augenbraue die Härchen regelmäßig wachsen.
Ich schüttelte den Kopf, um Blakes markante Gesichtszüge aus meinem Gedächtnis zu vertreiben. Vergebens.
Blakes Lippen wollten einfach nicht aus meinen Gedanken verschwinden.

Warum hatte ich diesen überhaupt Schritt gewagt? Ich wusste doch von Anfang an, dass Blake es unmöglich ernst mit mir meinen konnte.
Seit ich in Harpers Zimmer Zuflucht gefunden hatte, wusste ich, dass Blake ein typischer Player ist. Der unnahbare Kerl mit der düsteren Aura.
Eigentlich genau mein Typ und dennoch hatte ich mich stets von solchen Jungs ferngehalten. Zurecht, wie ich jetzt weiß.
Hätte ich mich an meine üblichen Vorsätze gehalten, wäre ich jetzt nicht in diesem Schlamassel.
Aber was ist dann bei meiner Beziehung zu Patrick falsch gelaufen?

Er war der übliche Sunny Boy. Ein Junge, dessen Lächeln sämtliche Mädchenherzen höherschlagen ließ.
Er brauchte nicht diese Bad-Boy-Masche, um bei Mädchen eine Chance zu haben. Sie liefen ihm auch so bereitwillig in die Arme.
Vielleicht war das auch der Grund, weshalb ich ihm vom ersten Augenblick an verfallen war.

Er gefiel mir; trotz seiner strohblonden Haare, die ich unter normalen Umständen alles andere als attraktiv gefunden hätte. Aber seine charmanten Gesten und die lockere, unkomplizierte Art, die sein Auftreten stetig begleitete.
Es schien, als könnte Pat nichts aus der Fassung bringen. Er bot mir Sicherheit und das war genau das, was ich in diesem Abschnitt meines Lebens gesucht hatte.
Nur ist von dieser anfänglichen Sicherheit nichts mehr übrig. Ich sollte wohl in Zukunft nicht auf die Persönlichkeiten meiner potentiellen Partner achten, die sie so offenherzigen ausstrahlten, sondern mich mehr darauf konzentrieren hinter ihre Fassaden zu gelangen.

Eigentlich war ich nach Windfield gekommen, um endlich zur Ruhe zu kommen und meinem gebrochenen Herz die Zeit zu geben, die alten Wunden zu verarbeiten.
Aber was war passiert? Anstatt eines Problems, hatte ich nun zwei.
Mein Herz war zersplitterter als je zuvor und obwohl ich mit Patrick die letzten Jahre verbracht hatte, schien die Zurückweisung von Blake mehr zu schmerzen.
Aber warum? Ich wusste, dass für Blake diese Liebkosung von keinerlei Bedeutung sein würden, während ich über Patricks Untreue im Unwissende war. Und das über Monate hinweg.
Hatte ich wirklich schon so schnell mit seinem Verrat abgeschlossen? Konnte es wirklich so einfach sein?

Mit einem leisen, missmutigen Schnauben richtete ich mich auf der Couch auf und erhaschte einen kurzen Blick auf den Abspann des Films.
Schon zu Ende? Wie lange hatte ich denn über mein verdorbenes Leben nachgegrübelt?

Mir war Langweilig. Stinklangweilig.
Und dennoch fand ich nicht die Motivation, um etwas an meinem momentanen Lebensstandard zu verändern.
Warum sollte ich auch? Ich hatte doch selbst keine Ahnung, was ich wirklich wollte.
Mich mit Ava und Harper treffen? Nein, dazu hatte ich definitiv keine Lust.
Mir einen weiteren Horrorstreifen reinziehen? Niemals!
Meinen Hintern endlich hochbekommen und meinem Leben die Stirn bieten? Vielleicht morgen.

Ich stieß ein gequältes Geräusch aus und rutschte unruhig auf dem schwarzen Leder hin und her. Meine Augen zuckten von dem flimmernden Bildschirm zu der Glastür, die auf den Balkon führte.
Vielleicht würde mir etwas frische Luft guttun. Immerhin hatte ich Enzos Wohnung seit einer Woche nicht mehr verlassen.
Die einzige Sauerstoffquelle, die mein momentanes Dasein bot, war die auf schwenkende Tür im Restaurant.

Ich kratze mein letztes bisschen Motivation zusammen und erhob mich von der Couch. Auf nackten Fußsohlen durchquerte ich das Wohnzimmer, ehe ich meine Hände an das kühle Glas legte und die Tür vorsichtig aufstieß.
Ein eisiger Windstoß begrüßte mich freudig, als ich mich durch den kleinen Spalt hindurchzwängte und an das Geländer trat.
Die sanften Windböen umspielten mein kastanienbraunes Haar und ließen es in der kalten Nachtluft tanzen.
Ich fühlte mich augenblicklich besser.

Mit einem zufriedenen Seufzer schloss ich meine Augen und genoss die kühle Luft an meiner Haut, die meinen müden Körper langsam zum Leben erweckte.
Es schneite etwas. Das konnte ich an den klitzekleinen Schneeflocken erkennen, die sich augenblicklich zu Wasser formten, sobald sie auf meine überhitze Haut trafen.

Zuckend öffnete ich meine Lider wieder, damit ich das sanfte Schneetreiben beobachten konnte.
Hatte es in den letzten Tagen überhaupt aufgehört zu stürmen und zu schneien? Wenn ich meiner Umgebung mehr Aufmerksamkeit gewidmet hätte, würde ich es vermutlich wissen.
Suchend ließ ich meinen Blick über die verschneiten Straßen Windfields gleiten. Kleine Schneehaufen säumten die Gehwege und nur hin und wieder verirrte sich der Puderschnee auf die nasse Fahrbahn, nachdem er von einem kleinen Windstoß in die Luft gewirbelt wurde.
Wie konnte ich all die Tage meine Augen vor solch einer Schönheit verschließen? Und das, obwohl der Winter meine liebste Jahreszeit war?

Vorsichtig legte ich meine Hände auf das Geländer und beseitigte somit die dünne Schneeschicht, die sich dort angesammelt hatte.
Ich erschauderte, als die einzelnen Flocken meine Haut zuerst kühlten und schließlich meine Handinnenflächen benässten.

Fasziniert starrte ich auf die verschneite Stadt hinab und bemerkte die herannahenden Schritte daher erst, als sich bereits eine zierliche Hand auf meine Schulter legte.
Ich wirbelte erschrocken herum und krallte mich hilfesuchend an der Person fest, als ich durch meine heftige Bewegung ins Wanken gerat.
Sienna stieß einen überraschten Laut aus, als ich meine Fingernägel in ihre Armbeuge bohrte. „Sorry! Ich wollte dich nicht erschrecken."

Trotz meines heftigen Herzschlags löste ich meine Hände ziemlich rasch von Siennas Arm und senkte beschämt den Blick.
Mein Puls jagte durch meine Adern und ich rieb mir unauffällig über die Handgelenke, um das unangenehme Kribbeln zu vertreiben.
„Ist schon okay", murmelte ich verlegen und bedachte die Socken meiner Gastgeberin mit interessiertem Blick.

„Ich wollte nur sicher gehen, dass du nicht springst", versuchte Sienna die Situation aufzulockern und kniff unbeholfen die Augen zusammen.
Ich stieß ein leises Lachen aus und obwohl ich mich wirklich bemühte, klang es unehrlich und verbittert.
Siennas Mundwinkel zuckten für eine Millisekunde nach unten, ehe sie wieder ein strahlendes Lächeln aufsetzte.

„Hast du Lust etwas zu unternehmen? Wir könnten uns den neuen Teil von Jonny English ansehen", schlug sie schließlich zögerlich vor und neigte fragend den Kopf zur Seite. „Oder wir könnten auch einfach Shoppen gehen, wenn du willst."
Ich warf einen zweifelnden Blick über das Geländer in die Dämmerung hinein. Shoppen? Um diese Uhrzeit?
Ich weiß zwar, dass Sienna sich Sorgen um mich macht und sich vermutlich dazu verpflichtet fühlt, mich wieder in die Außenwelt zu integrieren, aber ich konnte mich einfach nicht dazu aufrappeln.
Vermutlich war es keine besonders gute Ausrede, dass Blakes unausgesprochene Zurückweisung mich immer noch belastete, obwohl ich ihn gerade Mal fünf Tage kannte, aber was sollte ich schon tun, wenn es der Wahrheit entsprach?

Die Tatsache, dass sich jeder Kerl, an dem ich Interesse fand, von mir abwandte, trieb mich geradezu in das tiefe Loch aus Selbstmitleid. Wie konnte es auch anders sein?
Es verwunderte mich nicht, dass Sienna das nicht nachvollziehen konnte. Immerhin hatte sie keine Ahnung, was mir in den vergangenen Wochen alles passiert war. Nicht, dass sie es verstehen würde.
Sie hatte bereits einen wundervollen Mann an ihrer Seite, der sie niemals verlassen würde. Warum sollte er auch? Sienna war einfach perfekt.

„Vielleicht ein anderes Mal. Ich bin wirklich müde", wiegelte ich ihre Vorschläge halbherzig ab und zwang mich zu einem milden Lächeln.
Sienna erwiderte es traurig. „Harp und Ava machen sich wirklich große Sorgen um dich, Macy. Und ich auch."
Bei dem Klang von den Namen meiner Freundinnen wurde ich hellhörig. Sienna hatte sich mit den Beiden ausgetauscht? Wussten sie etwa, dass ich bei ihr untergekommen war?

Sienna schien meine alarmierte Miene bemerkt zu haben, denn sie hob in beruhigender Manier ihre Hände.
„Keine Sorge, ich hab ihnen nicht verraten wo du steckst. Ich hab mir schon gedacht, dass du lieber deine Ruhe haben willst."
Als ich Siennas Blick begegnete, meinte ich etwas Vorwurfsvolles in ihren Augen aufblitzen zu sehen.

„Danke", murmelte ich leise und starrte schuldbewusst auf meine nackten Füße hinab, welche inzwischen von der eisigen Kälte der Fliesen ganz taub geworden waren.
„Bedank dich nicht zu früh. Wir treffen uns morgen nämlich mit ihnen", erwiderte Sienna schlicht.
Ich wollte protestieren, doch Siennas unergründliche Miene ließ mich verstummen, noch ehe ich ein anständiges Wort hervorbringen konnte.
„Sie sind deine besten Freunde, Macy. Du kannst sie nicht einfach aus deinem Leben ausschließen. Nicht so."

Ich wusste das Sienna Recht hatte. Verdammt, ich hatte ja schon selbst die ganze Zeit darüber nachgedacht, wie lange ich Ava und Harper vertrösten konnte, ohne dass es Konsequenzen mit sich ziehen würde.
Bestimmt waren die Beiden jetzt schon fürchterlich enttäuscht von mir und dass, obwohl sie nur einen Teil des Geschehens kannten.
Es war feige von mir, mich vor ihrer Unterstützung zu verstecken. Und es war dumm zu glauben, dass die Beiden mich einfach so ziehen lassen würden.
Ava und Harper waren seit meiner Kindheit in meinem Leben existent. Selbst als sie nach Pennsylvania gezogen waren, hatten sie versucht, regelmäßigen Kontakt mit mir zu halten.
Doch ich war von meinen Aufgaben als perfekte Freundin und Hausfrau so geblendet gewesen, dass ich sie nach und nach aus meinem Alltag gestrichen hatte.
Ich sollte froh sein, dass mich die Beiden so herzlich aufgenommen hatten, nachdem ich mich Monate nicht bei ihnen gemeldet hatte.

„Okay", murmelte ich ergeben und strich mir unsicher über die Schläfe. „Ich werde mitkommen."

Mal ein weniger ereignisreiches Kapitel :c


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