15. Kapitel
Enzos Wohnung war wirklich klein.
Die Wände im Flur standen so nahe beieinander, dass meine Klaustrophobie ein nervöses Kribbeln durch meinen Körper sandte, als ich Enzo langsam folgte.
Ein paar Türen säumten den Gang und hin und wieder blieb Enzo stehen, um mir zu zeigen, was sich hinter dem weiß lackierten Holz verbarg.
Ich bemühte mich wirklich, seinen Worten zu lauschen, doch mein Verstand interessierte sich momentan nicht dafür, in welch einem traurigen Zustand sich das Badezimmer befand. Das Einzige, was meine Nerven in diesem Moment beruhigen konnte, war das erlösende Licht am Ende des Flurs, was einen geräumigeren Raum versprechen ließ.
Unruhig streckte ich meine Hände zur Seite aus und ließ meine Fingerspitzen über die kunstvolle Tapete gleiten.
Ich schloss meine Augen und zwang mich zu einer ruhigen Atmung.
Eigentlich hatte ich meine Klaustrophobie ganz gut im Griff. Es gab nur selten irgendwelche beengten Räume, die Panikattacken in mir hervorrufen konnten. Eigentlich.
Doch aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, von der dunkelgrünen Farbe und den riesigen Gemälden erdrückt zu werden.
„Und was ist da hinten?", stieß ich atemlos hervor, als Enzo seinen Bericht zu der Küche geendet hatte.
Enzo drehte sich langsam in die Richtung, ich die ich mit zittrigen Fingern zeigte.
„Das Wohnzimmer", beantwortete er meine Frage. „Willst du es sehen, oder sollen wir uns zuerst dein Zimmer ansehen?"
Enzo bedachte mich mit einem abwartenden Blick und obwohl ich nur zu gern wissen würde, ob mein zukünftiges Zimmer groß genug war, um meine seltenen Panikattacken nicht hervorzurufen, drängte mich mein Fluchtinstinkt Richtung Wohnzimmer.
„Das Wohnzimmer! Unbedingt! Ich liebe Wohnzimmer!", plapperte ich auch schon unkontrolliert los und stieß ein nervöses Lachen aus, als Enzo irritiert eine Braue nach oben wandern ließ.
„Das... das sind tolle Räume", versuchte ich mein merkwürdiges Verhalten zu erklären.
Enzo nickte langsam. „Ja, in der Tat."
Endlich drehte er sich zum Ende des Flurs hin und setzte sich in Bewegung. Erleichtert folgte ich ihm.
Die Wände weiteten sich etwas und gaben schließlich ein Wohnzimmer frei, das vermutlich größer war, als all die restlichen Räume zusammen.
Enzo führte mich zwei kleine Treppen hinab und breitete die Arme aus. „Herzlich Willkommen in meinem bescheidenen Heim!"
Ich atmete tief ein und genoss das Gefühl der Erleichterung, die sich wie ein kühler Schaum über meine aufwallende Panik legte und meine Angst zurück in ihre Tiefen drückte.
In der Mitte des Raumes thronte eine schwarze Ledercouch, auf der bestimmt mehr als vier Leute Platz finden konnten.
Davor stand ein kleiner, dunkelbrauner Beistelltisch, auf dem sich kleine Untersetzer stapelten. Das Fernsehprogramm für den heutigen Abend sprang mir aus der beiliegenden Zeitschrift entgegen.
Als ich mich etwas nach links drehte, entdeckte ich einen kleinen, altmodischen Fernseher auf einem niedrigen Tisch. Der kleine Bildschirm flackerte und tauchte den Raum in ein bläuliches Licht.
Rechts von dem Gerät entdeckte ich eine schmale Glastür, die wohl auf den Balkon führte. Eine weiße Decke hatte sich über das hölzerne Geländer gelegt und die tanzenden Flocken ließen die Aussicht nur erahnen.
Ich ließ meinen Blick wieder durch den Raum schweifen.
Unzählige Regale säumten die Wände und verdeckten die weiße Wandfarbe.
Ich trat näher an ein Bücherregal heran und bedachte die Werke mit einem kurzen Blick, ehe ich mich weiter umsah.
Ein schmaler Tisch stand am Ende des Raumes und wurde lediglich von zwei Stühlen flankiert. Ein Adventskranz säumte die, ansonsten leere, Fläche.
„Es ist wirklich wunderschön hier", meinte ich nach einer Weile und spürte, wie sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen zauberte.
Es gefiel mir hier, wirklich. Das Einzige, was sich als Problem herausstellen könnte, war der beengte Flur.
Vermutlich würde ich jedes Mal wie eine Verrückte durch den Gang sausen, wobei es mir jetzt schon davor graute, je wieder einen Fuß zwischen diese Wände zu setzten.
Mit einem unsicheren Lächeln drehte ich mich zu Enzo herum, welcher mich aufmerksam beobachtete.
Als er meinem Blick begegnete, erwiderte er mein Lächeln.
„Es freut mich, dass es dir gefällt!" Enzo trat an die Glastür und starrte in den grauen Himmel.
„Sienna wird auch bald zuhause sein. Dann könnt ihr euch kennenlernen."
Bei dem Namen Sienna horchte ich unwillkürlich auf.
Irgendetwas klingelte da bei mir. Kannte ich nicht jemanden, mit diesem Namen?
Angestrengt legte ich die Stirn in Falten und musterte Enzo nachdenklich.
„Sienna?", wiederholte ich den Namen langsam.
Irritiert wandte mir Enzo den Kopf zu. Gerade als er mir antworten wollte, erklangen dumpfe Schritte aus dem Flur.
Während sich auf Enzos Gesicht ein strahlendes Lächeln ausbreitete, wirbelte ich aufgescheucht zu dem Ursprung des Geräusches herum.
Ein, mir ziemlich bekanntes, Mädchen stand im Flur und starrte uns Beide überrascht an.
„Macy?", fragte sie mit zarter Stimme und neigte den Kopf etwas zur Seite. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie mich, ehe ein ehrliches Lächeln ihr Gesicht erstrahlen ließ.
„Macy!", wiederholte sie erfreut und sprang die zwei Treppchen zu uns herunter. „Was machst du denn hier?"
Ohne auf meine Antwort zu warten schloss sie die Distanz zwischen uns und nahm mich freundschaftlich in den Arm, während ich, völlig überrumpelt, unter ihrer Berührung erstarrte.
Warum nur waren all diese Menschen hier in Windfield so herzlich? Okay, ausgenommen Blake.
Aber was ist mit diesen Leuten bloß los? Warum boten sie einer wildfremden Person ein Zimmer an? Versorgten sie mit einem Job und trösteten sie, obwohl sie nicht einmal ihren Nachnamen kannten?
Und Sienna war sowieso das größte Rätsel, das mein Gehirn gerade zu lösen versuchte.
Ich hatte mit diesem Mädchen erst einmal in meinem Leben gesprochen. Und das nicht sonderlich freundlich.
Ich hatte sie mit abwesenden Blicken und knappen Wörtern gestraft und das nur, weil ich eifersüchtig war. Eifersüchtig auf ihre gute Beziehung zu meinen Freundinnen.
Entweder hatte sie meine abwehrende Haltung damals nicht großartig zur Kenntnis genommen, oder es war ihr schlichtweg egal, dass ich sie offensichtlich nicht besonders leiden konnte.
Aber das erklärte noch lange nicht, warum sie mich umarmte, als wären wir schon mehr als zwei Jahren befreundet.
Etwas unbeholfen erwiderte ich ihre Umarmung und klopfte ihr halbherzig auf die Schulter, woraufhin sich Sienna von mir löste.
Sie taxierte mich mit einem kurzen Blick, ehe ihr Lächeln ihre blauen Augen wieder zum strahlen brachte.
„Hallo, Sienna", stieß ich mühevoll hervor und zog meine Mundwinkel nach oben. Ich hoffte, dass es nicht so falsch aussah, wie es sich anfühlte.
„Was machst du hier?", wiederholte sie ihre Frage und sah mich warmherzig an.
Sofort schämte ich mich dafür, jemals schlecht über dieses Mädchen gedacht zu haben.
Ich hatte sie nicht gekannt und dennoch in meinem Kopf über sie geurteilt.
„Enzo hat mich dazu eingeladen, ein paar Tage bei euch zu schlafen", klärte ich sie schließlich auf und warf Enzo einen unsicheren Blick zu.
Sienna wandte sich kurz ihrem Freund zu, ehe sie mich stirnrunzelnd betrachtete. „Warum wohnst du nicht mehr bei Harp? Ist etwas passiert?"
Mein Magen zog sich vor Schuldgefühlen zusammen, als ehrliche Besorgnis in Siennas Augen aufblitzte.
„Nein, zwischen uns ist alles in Ordnung", ich strich mir die wirren Locken aus dem Gesicht, „Nur Blake und ich... hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit. Er wollte mich nicht länger in seiner Wohnung haben."
Mitleid legte sich über Siennas Zügen und kurz befürchtete ich, sie würde mich gleich nochmal in den Arm nehmen.
Nichts gegen das Mädchen, sie war wirklich zuckersüß, aber ich war nicht wirklich ein Fan von Umarmungen.
Zumindest, wenn sie von Menschen stammen, die ich nicht besonders gut kannte.
„Blake kann manchmal ein ziemliches Arschloch sein", murmelte Sienna kopfschüttelnd, ehe ein trauriges Lächeln über ihr Gesicht huschte. „Aber wen wundert das auch schon, bei diesem Vater?"
Ich horchte auf.
„Was ist denn mit seinem Vater?", hakte ich, von plötzlicher Neugier gepackt, nach.
Ertappt senkte Sienna den Kopf und strich sich die dunkelblonden Locken hinters Ohr.
„Nichts Besonderes. Er ist einfach etwas strenger, als Väter es für gewöhnlich sein sollten", winkte sie rasch ab und warf Enzo einen kurzen Blick zu.
„Du hast doch nichts dagegen, wenn Macy für eine Weile hierbleibt, oder? Sie wird mir im Restaurant aushelfen."
Enzo trat an Siennas Seite und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Sienna lächelte abwesend und lehnte ihren Kopf gegen Enzos Schulter.
„Natürlich nicht", meinte sie und bedachte mich eines kurzen Blickes. „Das wird bestimmt lustig."
Unbehaglich schlang ich meine Arme um meinen Oberkörper und spürte, wie sich mein Brustkorb vor Sehnsucht zusammenzog.
Sienna und Enzo sahen so glücklich miteinander aus. Die kleinen, vertrauten Gesten, die deutlich zeigten, wie viel sie einander bedeuteten.
Sienna lebte bestimmt nicht in der Angst, dass sie Enzo jemals in Flagranti erwischen könnte.
Schon die Art und Weise wie sie mich begrüßt hatte zeigte, dass sie nicht einmal im Traum daran dachte, dass ihr Freund sie betrügen könnte.
Ich wäre bestimmt skeptisch gewesen, wenn ich Patrick alleine mit einer fremden Frau in meinem Wohnzimmer aufgelesen hätte. Eine unbegründete Sorge, wie ich jetzt weiß.
Ob mich Pat auch immer mit diesem seligen Lächeln betrachtet hat, wie Enzo es gerade bei Sienna tat? Vermutlich nicht. Und Blake?
Schnell schüttelte ich den Gedanken an die beiden Männer ab und konzentrierte mich auf das hier und jetzt.
Warum sollte ich weiter Zeit damit verschwenden, darüber nachzudenken, ob Patrick mich jemals wirklich geliebt hat? Oder ob ein Funken Wahrheit in Blakes Küssen gelegen hatte? Ich wusste doch die Antwort darauf bereits. Ich sollte mir keine unnötigen Hoffnungen mehr machen.
Mein Handy piepte leise, als ich meine mobilen Daten aktivierte.
Während ich darauf wartete, dass all die neuen Nachrichten eintrudelten, kramte ich in meiner riesigen Reisetasche nach dem Ladekabel, da mir die Prozentzahl des Akkus schon in roten Zahlen entgegenschien.
4 neue Nachrichten
2 Anrufe in Abwesenheit
Ein Anruf war von Harper, während er andere... von meiner Mutter war. Mein Magen zog sich in böser Vorahnung zusammen, doch da war noch ein anderes Gefühl.
Und dieses Gefühl sorgte dafür, dass ich, ohne länger darüber nachzudenken, die Rückruftaste betätigte und das Handy an mein Ohr hielt.
Ein Piepen ertönte. Und noch eins.
Ich war in großer Versuchung, wieder aufzulegen, als ein kleines Rauschen am anderen Ende der Leitung ertönte.
„Macy-Schatz, bist du das?", die vertraute Stimme meiner Mutter drang durch die Lautsprecher meines Smartphones zu mir durch. Beim Klang ihrer Stimme zog sich meine Brust schmerzhaft zusammen.
Tränen bildeten sich in meinen Augenwinkeln und befeuchteten meinen Wimpernkranz. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glatt behaupten, dass ich Heimweh hatte.
„Hallo? Wer ist da?" Meine Mutter klang alarmiert.
„Ja, Mutter. Ich bin es", meine Stimme zitterte gefährlich.
„Macy! Gott sei Dank! Warum meldest du dich denn nicht? Wir sind schon ganz krank vor Sorge! Wie geht es dir denn?"
Der Redeschwall meiner Mutter besänftigte meine Nerven und zauberte ein kleines Lächeln auf meine Lippen.
Es war schön zu hören, dass mein Verschwinden zuhause eine Reaktion hervorgerufen hatte.
„Mir geht es gut. Ich brauchte einfach einmal eine Auszeit von allem", erklärte ich leise.
„Ja, Patrick hat uns über euren Streit informiert, aber Kind, das ist noch lange kein Grund einfach zu verschwinden! Warum redest du denn nicht mit uns?"
„Hättet ihr es denn verstanden?", entgegnete ich stumpf und ließ mich in die frischbezogene Bettwäsche fallen.
„Aber sicher do-", am anderen Ende der Leitung knackte es leise und meine Mutter brach mitten im Satz ab.
Ein Rauschen folgte und ich konnte im Hintergrund die Protestrufe meiner Mutter vernehmen.
„Mutter?", besorgt presste ich das Handy fester gegen mein Ohr.
„Macy!", die Stimme meines Vaters schallt durch die Lautsprecher und ließ mich zusammenzucken. „Wo zur Hölle steckst du?!"
„Ich... ich", stotterte ich unbeholfen.
„Ist auch egal - Du kommst sofort nachhause! Was hast du dir nur dabei gedacht, einfach abzuhauen? Was sollen die ganzen Leute denken? Willst du, dass unser Ruf völlig den Bach runtergeht?!", fuhr er auch schon ungehalten los.
Instinktiv zuckte ich von meinem Handy zurück. Ich könnte die wutverzerrte Stimme meines Vaters auch noch hören, wenn ich mein Handy aus dem Fenster fallen lassen würde. Meine Brust zog sich vor Enttäuschung zusammen. Er hatte mich gar nicht vermisst.
„Dir geht es also nur um unseren Ruf. Nicht um mich", sagte ich resigniert und schloss meine Augen.
Ohne noch länger zu zögern, beendete ich den Anruf und erstickte somit die Standpauke meines Vaters.
Warum war ich eigentlich enttäuscht? Ich wusste doch ganz genau, dass das Unternehmen für meinen Vater an oberster Stelle stand. Ohne einen guten Ruf, gab es keine Kunden und ohne Kunden gab es keinen Erfolg.
Vielleicht würde er sich mehr Sorgen um mich machen, wenn ich es in meiner Kindheit geschafft hätte, seinen Stolz und seine Zuneigung auf mich zu ziehen.
Ich hätte nicht einfach damit abschließen sollen, dass Cameron nun Mal der Liebling meiner Eltern war. Ich hätte ihm diesen Triumph nicht so einfach vergönnen sollen.
Ich hätte vieles anders machen sollen.
Ich seufzte leise auf und versuchte, die aufsteigende Trauer in mir zu ignorieren. Mir sollte es so langsam egal sein, was um mich herum geschah und wie mich meine Mitmenschen behandelten.
Mittlerweile sollte ich es ja gewöhnt sein, dass sie lediglich auf meinen Gefühlen herumtrampelten. Keiner von ihnen interessierte sich wirklich für mich. Sie nutzten nur meine Existenz und bedachten dabei nicht, dass ich sehr wohl fühlen konnte.
Ich warf noch einen kurzen Blick auf meine Nachrichten, woraus ich entnehmen konnte, dass Harper meinen Auszug bereits bemerkt hatte. Ava ebenso.
Mit einem knappen ‚Bin wo untergekommen. Melde mich später' vertröstete ich die Beiden und schaltete mein Handy aus.
Freut ihr euch auch schon so sehr aufs Wochenende? :o
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