3. Kapitel - Saphira
"Saphira, liest du schon wieder dieses unsägliche Buch?"
Oh nein. Ich habe vergessen die Musik anzumachen. Ich höre immer klassische Musik beim lesen! Jetzt muss ich mir eine Ausrede einfallen lassen, und zwar schnell.
"Nein Mama!" rufe ich ihr zu und verstecke hastig das Buch unter der Matratze. "Ich..." Mein Blick schweift durch den Raum. Mein Philosophiebuch! Blitzschnell ergreife ich es, setze mich an meinen Schreibtisch und schlage wahllos eine Seite auf. "Ich lerne! Für Philosophie!" Glück gehabt.
Einen kurzen Moment später kommt auch schon meine Mutter in mein Zimmer. Nach einem skeptischen Blick auf das Schulbuch meint sie: "Empirismus nach John Locke? Das hattet ihr doch noch gar nicht."
Verdammt. "Äh ja... ich... ich wollte es mir nur schon einmal angucken. Du weißt schon, für meine Mitarbeitsnote. Dann weiß ich schon ein wenig darüber, wenn wir es im Unterricht behandeln, und kann mich viel besser beteiligen." Bitte lass sie nichts merken, bitte lass sie nichts merken. Ich hasse es, meine Mutter anzulügen, denn ich weiß, dass sie nur das Beste für mich will. Außerdem habe ich sie furchtbar lieb; doch ich kann es einfach nicht riskieren, dass sie mir Romeo und Julia abnimmt.
Als sie mich das letzte Mal mit diesem Buch erwischte, hat sie es im Wohnzimmerschrank eingeschlossen und gedroht, es in den Kamin zu werfen, sollte sie mich noch einmal damit erwischen. Sie weiß um den Wert dieses Buches für mich und auch weshalb mir so viel an ihm liegt, doch meine Mutter ist durch und durch eine dân tộc und hält streng an den Regeln fest. Teilweise etwas zu fest, denn Menschenliteratur ist nicht verboten, doch für mich ist sie es. Selbiges gilt für Musik, weshalb meine Sammlung an modernen Schallplatten äußerst gering ist. Die einzige Ausnahme bildet klassische Musik, keine Ahnung wieso, doch deshalb ist es meine Lieblingsmusik: bei ihr habe ich die größte Auswahl.
Noch immer skeptisch schaut meine Mutter mich an, versucht mich zu enttarnen, doch scheinbar habe ich sie überzeugt, denn mit einem "Mach nicht zu lange, okay Schatz?" verlässt sie mein Zimmer und zieht die Tür hinter sich zu.
Mir fällt ein Stein vom Herzen. Normalerweise bin ich eine grottenschlechte Lügnerin, was ein Grund mehr ist, dass ich es nur äußerst ungern tue.
Nun traue ich mich nicht mehr, das Buch hervorzuholen, aus Angst, dass meine Mutter noch einmal herein kommt - ich würde es ihr durchaus zutrauen.
Folglich muss ich mir etwas anderes ausdenken, wie ich meinen Nachmittag verbringe. Lesen scheidet für mich jetzt schonmal aus; Romeo und Julia wäre zu riskant, und ich habe gestern erst ein Buch ausgelesen. In eine vollkommen neue Welt abzutauchen wäre mir jetzt zu anstrengend.
Ich könnte natürlich auch meine Ausrede wahr werden lassen und mich schon einmal mit Lockes Empirismus beschäftigen, doch man kann es auch übertreiben. Mein Zimmer aufräumen kommt auch nicht in Frage, denn das sieht bereits aus wie geleckt. Hier gibt es nicht einmal Staub den ich wegwischen könnte. Auch meine Hausarbeiten sind schon erledigt, unser Garten sieht wunderbar gepflegt aus, die Blumen blühen, die Hecken sind perfekt gestutzt und der Rasen frei von Unkraut.
Ich kann doch nicht die einzige sein, die schon alles fertig hat. Klar, ich bin in gewisser Hinsicht schon eine Vorzeigetochter, zumindest nach außen hin, doch das wird hier nun einmal erwartet. Vielleicht hat ja Jasmina Zeit für mich? Sie ist seit Jahren meine beste Freundin, doch ich bin mir nicht so sicher ob sie gerade wirklich Freizeit hat. Denn sie ist eher das Gegenteil einer Vorzeigetochter. Zu ihren Pflichten im Haushalt muss man sie fast schon drängen, ach was, das "fast" kann man auch streichen, und in der Schule wird sie auch von Zeit zu Zeit ermahnt, etwas, was hier bei den dân tộc eigentlich überhaupt nicht geht. Doch ich mag sie trotzdem, auch wenn sie manchmal ein bisschen durch den Wind ist. Ich vertraue ihr und würde ihr wirklich alles erzählen.
Ich beschließe, einfach einen Versuch zu wagen, denn mir ist schrecklich langweilig. Schnell schnappe ich mir eine Jacke aus meinem Kleiderschrank, flitze in den Flur und rufe meiner Mutter zu: "Ich geh zu Jasmina, bin zum Abendessen zurück!", während ich in meine Schuhe schlüpfe und schon zur Tür raus bin, bevor meine Mutter auch nur eine Chance hat zu antworten.
Zu Jasmina ist es nicht weit, etwa zehn Minuten. Obwohl das für ein Dorf ja schon nicht ganz kurz ist. Zur Schule brauche ich etwa doppelt so lang, und da muss ich einmal quer durchs Dorf.
Bei meiner besten Freundin angekommen öffnet mir auf mein Klopfen hin ihre Mutter. "Guten Tag, Ma'am. Hat Jasmina Zeit?"
Jasminas Mutter lächelt mich an und antwortet: "Na ja, eigentlich nicht, aber sie arbeitet den ganzen Nachmittag über schon so fleißig, da hat sie sich eine Auszeit verdient. Und nochmal, nenn mich Heike. Ich kenne dich seit Jahren, da ist das in Ordnung Saphira. Außerdem habe ich dir das schon eine Million Mal gesagt."
"In Ordnung Ma'am. Können sie Jasmina ausrichten dass ich am Waldrand auf sie warten werde? Sie wird schon wissen wo genau ich dann bin."
"Gerne doch. Bis bald!"
Voller Vorfreude mache ich mich auf zu unserem geheimen Pfad durch den Wald. Er führt zu einem kleinen Weiher, der gar nicht mal so nah an unserem Dorf führt, und außer uns kennt ihn so weit ich weiß keiner. Fast immer wenn wir uns nicht im Haus aufhalten gehen Jasmina und ich dort hin, und wir haben bisher noch nie jemanden getroffen.
Kurze Zeit später trifft auch sie am Anfang unseres Pfades ein und begrüßt mich erstmal überschwänglich. Unterwegs redet sie in einer Tour auf mich ein: "Man bin ich froh dass du gekommen bist, ich bin da drin fast gestorben. Meine Mutter hat doch tatsächlich gedacht ich würde lernen, dabei hab ich die ganze Zeit nur gezeichnet und mich vor der Gartenpflege gedrückt, denn mal ganz im Ernst, sehen diese Hände aus wie für Gartenarbeit gemacht?" Sie streckt mir ihre Hände entgegen. "Ganz genau, eher nicht, die sind viel zu filigran. Du glaubst gar nicht was ich für Schiss hatte dass meine Mutter in mein Zimmer kommt und mich dabei erwischt, dass ich gar nicht lerne. Das hätte Ärger gegeben, das kannst du mir glauben..."
Den ganzen restlichen Nachmittag sitzen wir an unserem Weiher, genießen die Natur und labern und lachen, sodass wir fast die Zeit vergessen, welche uns erst einfällt, als die Dämmerung einsetzt. Fast schon panisch springen wir auf und wissen sofort, ohne Verwandlung schaffen wir es nicht mehr rechtzeitig zum Essen nach Hause.
Also verwandeln wir uns und laufen so schnell wir können in unserer Wolfsform zum Waldrand, wo wir wieder unsere menschliche Gestalt annehmen, uns beeilen nach Hause zu kommen und ganz knapp pünktlich zum Abendessen dort eintreffen. Zumindest ich, ich hoffe Jasmina auch.
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