32. Ironie

Maeve P.o.V.

Einstein hat gesagt, Zeit wäre eine Illusion. Es gibt im Grunde kein Jetzt, keine Vergangenheit oder Zukunft, denn alle Momente sind gleichwertig, gleich real.

Zeit...

Nach Einstein wäre das hier, jetzt, auch nur eine Illusion, nur einer von vielen realen Momenten. Ein Moment, der mir so vorkommt, als würde er nie enden wollen.

Es fühlt sich an, als würde mein Herz am Steuer eines unaufhaltbaren Sportwagens sitzen, unangeschnallt und mit voller Wucht in eine Eiche rasen. Aber es ist nicht gleich tot, es blutet, es zieht und es wird immer schlimmer.

Die Glassplitter bohren sich unerträglich langsam hinein, Stück für Stück, jedes noch langsamer.

Und jede Millisekunde, die verstreicht, bringt neue Erkenntnisse. Das Netz in meinem Kopf verknüpft sich allmählich zu einer geschlossenen Decke, falsche Fäden fallen ab und werden ersetzt.

All das nur, weil Mace Gesicht mich voller Energie und Fröhlichkeit anstrahlt. Die Haare sind etwas länger als heute, doch die Augen funkeln so strahlend wie immer.

Vielleicht war ich auch nur eine Kamera? Jemand, den er so angesehen hat.

Alle Fünf auf Skateboards, alle Fünf im edlen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Fliege. Und alle strahlen in die Kamera.

Die Reklame flackert grell, am liebsten würde ich meine Augen zusammenkneifen, aber ich kann nicht wegsehen – so muss Zane sich gefühlt haben, als er damals seine Zunge an den eisigen Laternenpfosten gedrückt hat und sie angefroren ist.

Plötzlich bewegen sie sich, Murph und Mika springen vollkommen aufs Skateboard, Mace geht in die Hocke, Max zieht sein Board kunstvoll nach oben und Isaac springt in die Luft, dann platzt die rote Schrift ins Bild. Ich habe das Gefühl als würde sich die schwarze Umrahmung in mein Herz bohren.

„MI5 – Upcoming Tour" Die kleinen Zahlen und Städtenamen verschwimmen in meinen starren Augen.

„Maeve..."

In diesem Moment, in dieser Illusion, konnte ich spüren, wie das Blut in meinen Adern erlag, wie mein Herz für einen realen Augenblick seinen Schlag aufgab und sämtliche Muskeln sich verkrampften.

Mace P.o.V.

*** Zehn Minuten vorher ***

"Wann soll die Tour nochmal genau losgehen?" In diesem Moment verspürte ich wieder einmal eine Woge der puren Dankbarkeit für Max.

Hätte er nicht so einen kühlen Kopf wäre ich sicherlich aufgesprungen.

Es bedarf nur einen Blick von Mealla oder Gabe und sie stoßen mich rücksichtslos zurück in den Pool aus Vorwürfen und Warnungen, die ich mir kürzlich anhören durfte.

Es würde sich nicht lohnen, es würde alles auffliegen, es würde Maeve zerstören, es wäre selbstsüchtig, ich wäre ein Monster...

Das waren nur die netten Aussagen.

„Dreißigster September geht's los. Ihr wusstet das."

Seit ich mit Maeve zusammen bin – und die beiden Manager davon wissen – habe ich permanent das Gefühl, als würden sie nur zu mir sprechen und der bittere Unterton sollte das ständige Kopfschütteln oder Mahnen ersetzen. Den Jungs ist das natürlich nicht aufgefallen, vielleicht, weil sie selbst viel zu beschäftigt damit waren.

„Ihr solltet euch nicht all zu viel vornehmen in nächster Zeit, wir werden auf Promotion-Vor-Tour gehen." Wieder treffen mich Meallas Augen stahlhart. Nichts Warmes oder Weiches, nur pure Härte.

Es juckt in meinen Fingerspitzen mit geschlossener Faust auf den Tisch zu knallen. Es reicht!

Ich weiß selbst, was für ein... Ekel ich bin und es jeden Tag von allen Seiten noch einmal zu hören bekommen ändert es kein Stück!

Wieder kommt mir Max zuvor, indem er mir den dampfenden Kaffee zuschiebt und sich selbst eine frische Tasse macht. Der rote Knopf blinkt erwartungsfreudig. „In den USA?"

„Ja, vorwiegend. Wir versuchen alles im August unterzubringen und noch eine Woche in Europa vorher."

„Schaut nicht so! Ich versteh euch nicht. Es stand immer fest im Kalender, wir mussten nur das Album fertig basteln."

„Ja, klar. Trotzdem, ein bisschen Pause wäre ziemlich angenehm gewesen.", hakte Murph ein, doch Gabe brachte ihm mit einem genervten Blick zum Schweigen. „Angenehm? Weißt du was angenehm wäre? Ein Wellnesshotel, macht doch eins auf, dann könnte ihr am Abend dort singen."

Damit hielten wir alle die Klappe.

Betreten starre ich an ihm vorbei durch die Glasfront, hinunter auf den rappelvollen Picadilly-Circus. Ein Wunder, dass der Verkehr so gleichmäßig fließt.

Mealla erinnert uns nochmal an sämtliche, wichtige Termine, die wir auf keinen Fall vergessen dürfen. Ihre Stimme ist dünner als ein Drahtseil.

Plötzlich vibriert mein Handy und ich lasse von der roten Tasse ab, ohne überhaupt einen Schluck vom Kaffee genommen zu haben. Vielleicht später... Maeve!

'Na?' Dazu ein Foto und ....

Wow.

Für einen Augenblick verpuffen alle Probleme, es gibt mal wieder nur Maeve in meinem Kopf, die mich in wohlige Zuckerwatte packt. Rasch tippe ich eine Antwort zurück.

Ich frage mich, wann ich wieder lügen muss. Ihr Abschlussball ist demnächst und die Jungs – und ich – sind überzeugt, sie wird mich noch fragen.

Zurücklegen lassen? Oh Maeve! Nimm es, bitte.

'Wo seid ihr?'

'Picadilly-Circus, wir sind gleich bei der Statue... Wie läuft die Arbeit?'

Plötzlich schwingt die Glastür auf und die zwei Stars des Meetings beehren uns endlich. Mr. und Mrs. Bradford lächeln uns der Reihe nach an, dann strecken sie uns freundlich die Hände entgegen. Brav schütteln wir sie und wollen uns schon wieder setzen, da winkt die Frau im schwarzen Kleid mit der Hand.

„Na na, kommt mal her. Wir haben eine Überraschung für euch."

Eine Überraschung... Für uns?

Die fragenden Blicke und das Zögern sind vorprogrammiert, worüber Mrs. Bradford nur künstlich lächelt, fast so, als wäre sie belustigt. Auch ihr Mann setzt ein gefälschtes Lächeln auf.

Ahnungslos stehen wir nun vor der Glasfront und betrachten ziellos das Treiben unter uns.

Der Gedanke daran, dass Maeve dort unten irgendwo ist beruhigt mich auf eine seltsame Weise.

„Also... wir haben uns Gedanken gemacht und... die Augen bitte auf die Nike-Reklametafel..."

Zeitgleich mit dem schwarzen Display vibriert mein Handy. Ich bin im Begriff die Unaufmerksamkeit auszunutzen, Maeves Nachricht zu lesen, als meine Hand mitten in der Bewegung gefriert.

Nein!

Ich weiß nicht, was ich sonst denken soll. Ich denke nichts. Mein Kopf ist leer. Für diese zwei Sekunden, in denen unsere Gesichter aufflackern, unsere Anzüge, fühlt sich mein Kopf an wie ein verlassenes Haus.

Unheimlich, still und verlassen. Mein Körper ist schockgefrostet.

Zwei Sekunden...

Nach drei Sekunden spüre ich ein Kribbeln.

Sie darf es nicht sehen!

Sinnlos, sie wird es.

Nein, sie darf nicht.

Mein Herz spaltet sich in zwei Hälften, die Eine will zusammen brechen, die andere losrennen, doch meine Beine sind versteinert.

Ich muss zu ihr!

Sie darf einfach nicht...

„Und, was sagt ihr?"

Die kehlige Stimme von Mr. Bradford gibt mir den endgültigen Stoß. Ich muss einfach... ich muss es versuchen.

Meine Ohren schalten auf Durchzug, ich ignoriere all die Rufe nach meinem Namen und renne. Ich renne einfach. Ich renne das Treppenhaus hinunter, Aufzug dauert zu lange.

Brunnen...

Sie hat gesagt am Brunnen. Das ist nicht weit.

Ich muss zu ihr.

Dieser eine Gedanke beherrscht meinen gesamten Geist, befeuert meine Lungen, meine Beine, alles.

Sie wäre stolz auf mich, würde sie sehen, dass ich keine Menschen mit Papierstapel im Arm umrenne, dass ich auf das Klischee verzichte. Sie würde mich anlächeln und sagen „Wow, du schaffst das wirklich."

Ihre roten Haare würden ihre Smaragdaugen unterstreichen, sie noch mehr zum Funkeln bringen.

„MACE!" Die Tür knallt wieder hinter mir zu und der Name hallt geisterhaft im Treppenhaus umher.

Vielleicht sollte ich anfangen meinen Verstand einzuschalten, aber der nackte Gedanke an Maeve versperrt alles andere. Sie darf es nicht sehen, ich muss es ihr sagen, ich muss ihr zuvorkommen.

Rückblickend fühlte ich mich wie Usain Bolt bei seinem Rekordsprint, während ich über die grüne Ampel stürme. Glück, zum ersten Mal heute.

Sie trägt ihren „Royalen Mantel", er hing über der Stuhllehne in der Umkleide. Ich würde am liebsten lächeln, der Gedanke an unsere Alberei, als ich gemeint habe es wäre ein royales Blau und sie eine Queen, macht mich glücklich.

Aber ich brauche die Energie.

Ich habe das Gefühl als würden meine Füße, ihr Aufprall, einen unerträglich lauten Donner über den gesamten Platz erzeugen, aber ich bilde es mir ein.

Sobald ich die Statue entdecke beschleunige ich mein Tempo, sprinte über die nächste Ampel, rot, aber es war eben noch grün, es geht.

Maeve! Maeve, wo bist du?

Noch hundert Meter...

Da!

Ihr flammendes Haar wellt sich widerspenstig übers das blaue Stoffmeer.

Ich bin zu spät...

Zu spät!

„Maeve..."

Meine Stimme ist ein atemloses Hauchen. Am liebsten würde ich mich auf meine Knie stützen, ihr um den Hals fallen, sie küssen, sie in meine Arme schließen oder ihr sagen, wie sehr ich sie liebe.

Doch Maeves Körper verkrampft sich, als hätte ich einen Giftpfeil abgeschossen.

Mit jedem Schritt, den ich näherkomme, wächst meine Angst. Mein Herz rutscht immer tiefer.

Zwischen uns liegt vielleicht noch ein Meter.

Es kommt mir vor, als würde es in Zeitlupe geschehen. Jedes ihrer Haare wippt zur Seite, ihre Wange, ihre Augen...

Plötzlich steht sie mir gegenüber.

Das Gesicht, das ich so liebe, die Augen, die mich zum Lachen bringen... alles ist mir gegenüber und die unsichtbare Schnur, die mich zurück hält, bringt mich schier um.

"Du hast mich sechs Monate belogen..." Ihre Stimme ist ein einziges Zittern und Wackeln, sie brennt in meinen Ohren wie Zitronensaft in einer frischen Wunde. "... sechs Monate, und ich habe nichts gemerkt."

"Maeve..." Ich will nicht, dass sie weiterspricht, mir das Unvermeidliche mitteilt. Ich weiß nicht, ob ich das aushalte, ohne zusammen zu brechen. Maeve ist mein Mittelpunkt, meine Seelenverwandte. Am liebsten würde ich ihr all das sagen, sie anflehen, es nicht zu tun, dass jeder Fehler macht, aber sie hebt ihre bebende Hand.

Blitze umhüllen uns, aber ein gewisser Anstandskreis umgibt uns, ein bisschen Privatsphäre. Also schweige ich. Die Zukunft hängt von dem ab, was wir heute tun. Ihre Worte...

Es fühlt sich an, als wäre ein Laster mit voller Wucht, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, zu bremsen, in mich gerast, hätte mich einen steilen Berghang hinunter geschleudert und jetzt lag es am Fahrer, ob er mich von der Kante der Schlucht weg zog, oder ob es zu spät war, ob ich längst an einem knorrigen, senilen Ast hing, der jeder Zeit bereit war, bei einem Windstoß zu brechen, vielleicht auch schon von einem Atemwölkchen.

Ich will hier weg, ich will das mit Maeve allein bereden, nicht unter tausend Augen, vor Kameras...

"Wag. Es. Nicht..." Schlangenlinien, zick zack, ihre Augen füllen sich mit einem grausamen Schimmer, die Wimpern klimpern immer schneller.

Da höre ich es! Das Krachen, dieses tödliche Knacken, das Brechen. Maeves Herz und zeitgleich der verdorrte Ast, der sich zum Abschied in meine Brust gebohrt hat und anschließend seine Wurzel aus dem Gestein löst.

Freier Fall.

"Bleib fern von mir..." Ein letztes Hauchen, dann weicht sie wie betäubt zurück, Schritt für Schritt, Träne für Träne, einzeln. Die Menge öffnet ihr den Weg, starrt sie baff an, doch Maeve hat immer nur noch Augen für mich, Augen gefüllt mit blanker Enttäuschung, Wut und Hass.

Da war kein Platz für Liebe, egal wie sehr ich ihr meine vor die Füße geworfen hätte.

Und plötzlich, ja ganz plötzlich, tropfte etwas Nasses auf meine Hand, meine Wange.

Fast war sie weg, da hielt sie vor der Treppe inne, drehte sich nochmal um und fasste sich schwerfällig um den Hals. Ich habe es nicht wirklich gehört, aber ich konnte mir das metallische Klirren, von Silber und Asphalt vorstellen. Wie ein Messer, nur war es die Kette. Wie die Tatwaffe, die nach dem schockierenden Mord aus der Hand fällt, weil man jetzt erst realisiert, was man da gerade getan hat. Sie war einen Augenblick gefangen von dem silbernen Stück am Boden, riss sich los und stapfte davon.

Und ich... Ich wusste, dass ich gerade im freien Fall war, obwohl es sich längst wie der Aufprall anfühlte. Nein, der Aufprall würde später kommen, damit hatte Isaac mir immer gedroht, oder mich gewarnt. Meine Eltern haben gesagt, dass es schlimm wird, grausam, aber dass sie es vielleicht versteht...

So nicht.

"MACE!" Ein Chor, meine Jungs.

Ich weiß nicht was es war, aber es herrschte Totenstille um uns. Kein Gekreische, kein Gezanke oder Gebettle um ein Autogramm, einfach nur laufende Handykameras, die geschockt mein Privatleben aufzeichneten, blanke Gesichter von jungen Mädchen, die mich heulen sehen.

Hände trafen meine Schultern, zogen mich bestimmt davon, in ein Auto.

"Mace! Was ist passiert?"

Keine Antwort.

"MACE!" Geschrei.

Keine Antwort.

"Mace... red mit uns." Maxime.

Immer noch nichts.

"Leute... lasst ihn..."

Spätestens Morgen kann jeder alles ausführlich in der Presse lesen, sehen, aufsaugen. Meine Jungs können die Videos auf YouTube und Insta verfolgen. Die ganze Welt kann sehen, was ich für ein gewaltiges Arschloch ich bin. Und ich kann immer und immer wieder den Moment erleben, als Maeve das getan hat, was von vornherein passieren musste.

Schweigen blankes Schweigen

Maeve P.o.V.

Es ist mir gerade eben eingefallen, als ich das teuflisch-grinsende Buch aus meinem Regal gezogen habe. Der Buchrücken hatte mich verspottet und finster betört, dass mir nichts anderes übrig blieb.

Vorsichtig fahre ich über die Buchstaben, obwohl es kein zerbrechliches Glas ist, kein zerbrechliches Herz. 'Peter Pan'

Zwei dicke, salzige Tränen platzen provokant aufs Cover und hinterlassen, egal wie schnell ich sie beiseite wische, kratzige Umrisse, tief gelb. Widerwillig lache ich auf, spöttisch und voller bitterem Hohn.

Ich kann mir diese Szene im Park wie ein Polaroid vorstellen, dass nun zittrig aus meinen Fingern gleitet. Mace und ich vor der Statue, mit dem Rücken zur imaginären Kamera, händchenhaltend und gebannt starrend. Man könnte munkeln, wir wären zum ersten Mal dort und sind fasziniert davon...

Erstaunlich, wie wenig man vergisst, wenn man den Dingen wahrhaftige Bedeutung schenkt. Wie jetzt: Jedes Wort poppt in meinen Kopf und die fiese Ironie könnte nicht hinterlistiger sein.

'Sie hat ihm was bedeutet und er hat nur versucht sich selbst zu schützen'

Sich selbst schützen! Ja, das hat er. Genauso egoistisch wie Peter. Ich zweifle nicht an seinen Gefühlen oder, dass ich ihm etwas bedeutet habe, aber ich zweifle an der Tiefe. Mace hat mit diesem, diesem... mit dieser Scharade sein Glück gesucht, die Folgen waren ihm egal, es ging nur um ihn.

Ja, es ist verdammt schwer jemanden zu finden, der mit ehrlichem Herz bei ihm ist. Nur, gibt ihm das das Recht mich dermaßen zu belügen und betrügen? Ich glaube nicht.

Egoistisches Verhalten. 

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N°3 von 4

Noch ein Kapitel...

Fandet ihr Maeves Reaktion gut oder Mace?

Wer hat die Pointe von Peter Pan am Anfang geahnt? 

XOXO Maggie 🧡

Ps. Schaut doch mal bei mir auf Instagram vorbei💘: @sxmelittlestories (wie hier auf Wattpad)

Ihr findet dort alles rund um Bücher, von Wattpad und aus dem Buchladen; Updates meiner Bücher/Storys und Rezensionen. Vielleicht habe ich auch mal einen Anflug zum Quasseln über meinen geliebten John Green, Gale Forman oder der traumhaften Lauren Oliver. 

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