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Ich blieb so lange auf dem Boden liegen, bis die weißen Flecken aus meinem Sichtfeld verschwanden und ich wieder in der Lage war mich zu bewegen. Langsam richtete ich mich auf. Schmerzen durchzogen meinen ganzen Körper und auf meiner Zunge lag ein ekelhafter Kotzgeschmack. Was für ein beschissener Tag. Ich hatte doch gewusst, dass dieser Neue mir nichts als Ärger bereiten würde. Es war so schon alles schlimm genug, aber ohne ihn wäre es nie so weit gekommen, dass John mich zusammengeschlagen hätte.
Ich brauchte nicht lange darüber nachdenken um mir darüber klar zu werden, dass ich nicht nach Hause gehen würde. Noch eine Demütigung würde ich nicht verkraften. Ich wollte weder Kurt noch meine Mutter sehen, die nichts als eine Verräterin war. Ich wollte weg, wollte vergessen. Dieses Leben war nichts wert, nicht mehr als Dreck.
Ich rappelte mich auf, hängte mir meinen kaputten Rucksack über die Schulter und schlurfte den Bürgersteig hinab. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, aber das war mir egal. Ich schleppte mich zu einem kleinen Getränkemarkt, in dem nie nach dem Ausweis gefragt wurde. Ich suchte mir den billigsten Vodka den ich finden konnte und bezahlte ihn mit meinem letzten Kleingeld.
Mein Weg führte mich geradewegs zur Eisenbahnbrücke zurück, ohne, dass es Absicht gewesen wäre. Ich lief einfach nur vorwärts und trank, bis meine Schmerzen nachließen. Trank, bis meine Gedanken diffuser wurden und alle Klarheit aus ihnen verschwand. Der scheußliche Benzingeschmack brannte in meiner Kehle, aber es war ein gutes Gefühl. Ein Schmerz, über den ich selber bestimmte. Ein guter Schmerz, der mir half zu vergessen.
Nach einer Weile war meine Zunge wie betäubt und der ekelhafte Geschmack verflüchtigte sich. Nur die Wärme in meinem leeren Magen blieb. Ich setzte mich auf den Boden und lehnte meinen Rücken an die Stäbe des Brückengeländers. Sie waren vom Wetter gegerbt und unzählige Unregelmäßigkeiten übersäten das Metall. Eine Weil saß ich so da, nahm ab und an ein paar Schlucke von dem Vodka und lauschte den Umgebungsgeräuschen. Blätter, die im Wind raschelten, vereinzelte zwitschernde Vögel und ein Zug der unter mir dahinrauschte. Schließlich zog ich meine Kopfhörer und mein Smartphone hervor. Ich benutzte es nur noch zum Musik hören, das Internet hatte ich schon vor Tagen ausgestellt. Nach allem, was mir bereits in der Schule an den Kopf geworfen wurde, brauchte ich nicht lesen was meine sogenannten Freunde über mich auf Facebook schrieben. Brauchte nicht lesen, wie John sich in unserer Stufengruppe über mich ausließ und wie keiner ihm widersprach. Ich brauchte nicht die beleidigenden Nachrichten lesen, die mir irgendwelche fremden Leute, deren Nummern ich nicht kannte, auf WhatsApp schrieben. Lieber blieb ich bei meiner Musik, denn die hatte mich noch nie enttäuscht. Deshalb steckte ich mir die Kopfhörer in die Ohren, drückte auf Play und ließ meinen Kopf mit geschlossenen Augen gegen das kalte Metall sinken. Meine Gedanken wurden von der rauen Stimme des Sängers von Rise Against überschattet. Er sang von einem Leben zwischen Glück und völliger Zerstörung. Von einem Leben, bei dem man dem Abgrund immer näher kam.
Wenn ich doch nur irgendeinen Halt hätte. Irgendwas, an das ich mich klammern könnte. Aber da war nichts mehr. Alles was je von Bedeutung gewesen war, hatte ich verloren.
Er sang von den endlosen Momenten, in denen man nur wartete, dass die Zeit verstrich und davon, dass dies bedeutete all seine Träume und Hoffnung aufzugeben. Das Leben aufzugeben.
Aufgeben wäre wirklich nicht die schlechteste Idee. Einfach gehen, einfach verschwinden. Mir wurde klar, dass dieselben Gedanken mich bereits am Morgen erfüllt hatten. Wenn ich es beendet hätte, wäre mir so viel Scheiße erspart geblieben. Wenn ich einfach gesprungen wäre, statt einen Rückzieher zu machen.
Ich schüttelte den Kopf und trank den Vodka leer. Erleichterung überkam mich als der Alkohol seine Wirkung vollends entfaltete. Es war angenehm warm unter meiner Jacke, obwohl zuvor noch ein kühler Wind geweht hatte. Der Druck, der auf meiner Seele lag, rückte langsam in den Hintergrund, während die Worte des Sängers durch mein Gehirn rauschten. Die Welt schien sich nur darum zu drehen. Meine Glieder wurden langsam schwer und in diesem Frieden wollte ich einfach nur schlafen.
Ich hörte nur noch die die Stimme des Sängers in meinem Kopf, während mein Bewusstsein in weite Ferne driftete. Er erzählte davon, wie das Zuhause einem fremd wurde, wie man sich selbst nicht wiedererkannte. Bis man irgendwann die Kontrolle verlor.
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