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Als ich nach Hause kam, wartete meine Mutter Küchentür auf mich. In ihrer Hand qualmte eine Zigarette.
„Ich hatte keine Zeit zu kochen", begrüßte sie mich, „Holst du was?" Ich hatte noch nicht mal die Wohnungstür hinter mir geschlossen und wollte eigentlich nur in mein Zimmer und mich in meinem Bett verkriechen. „Wie siehst du denn aus?", fragte sie plötzlich. Ich dachte schon, sie sorgte sich um meine geschwollene Nase oder die aufgeschlagenen Knie, aber als ich den Blick hob, sah ich, dass sie nur meine kaputte Hose anstarrte. „Du weißt genau, dass wir uns keine neuen Klamotten für dich leisten können."
„Das teuer Bier, das dein Macker immer trinkt, schon", murmelte ich leise und bereute es sofort. Ich hatte nicht gesehen, dass Kurt in der Ecke der Küche saß. Er hatte jedes Wort gehört. Jetzt stand er auf und kam gefährlich langsam auf mich.
„So redest du nicht mit deiner Mutter", polterte er, obwohl ich wusste, dass es ihm nicht um meine Mutter ging. Aber ich entschuldigte mich nicht. Diesmal nicht, diese Demütigung wollte ich heute nicht auch noch über mich ergehen lassen.
„Ich hole dann essen", murmelte ich daher nur und wollte wieder auf den Flur verschwinden, aber Kurt packte mich am Arm und hielt mich grob zurück.
„Nicht so schnell, Freundchen!", brüllte er durch den ganzen Hausflur. Die anderen Mieter waren das Theater schon gewöhnt, nirgendwo ging eine Tür auf. Ich blieb stehen. „Sieh mich gefälligst an wenn ich mit dir rede!" Ich drehte mich langsam um und merkte, dass ich einen weiteren Fehler gemacht hatte, als Kurts Faust mich mitten ins Gesicht traf. Meine schmerzende Nase begann sofort wieder zu bluten und ein pochender Schmerz zog von meinem Auge in die Schläfe. Als er zuschlug, hatte Kurt meinen Arm losgelassen, sodass ich zum wiederholten Mal an diesem Tag zu Boden stürzte. „Jetzt scher dich weg und besorg uns was zu Essen!" Er trat meinen Rucksack zu mir auf den Flur und knallte die Wohnungstür zu. Ich blieb sitzen und drückte mir den Ärmel meines Pullovers gegen die blutende Nase. Ein paar Minuten vergingen in denen ich meine Mutter drinnen lachen hörte. Es klang falsch, nicht so wie das Lachen, das ich von früher kannte. Aber mich nicht in ihre Beziehungen einzumischen hatte ich bereits bei ihren Verflossenen gelernt. Seit sie Kurt hatte, sagte ich besser nichts mehr. Meine Mutter schien eine Schwäche für Kerle wie ihn zu haben. Wieso auch immer. Mein Vater war nicht so gewesen. Aber er war nicht mehr da um mich oder meine Mutter zu beschützen.
Ich kaufte in der Pommesbude um die Ecke drei Mal Pommes mit Currywurst. Natürlich von meinem Geld, meine Mutter gab mir nichts. Dann beeilte ich mich nach Hause zu kommen, damit Kurt keinen weiteren Grund hatte um mir noch eine zu verpassen. Meine Nase hatte zum Glück aufgehört zu bluten. In der Pommesbude hatte man mich gefragt ob ich zusammengeschlagen wurde und einen Krankenwagen bräuchte, aber ich hatte abgelehnt. Noch mehr Aufmerksamkeit konnte ich nicht gebrauchen.
Zuhause stellte ich das Essen für meine Mutter und Kurt in die Küche, die beiden waren verschwunden. Vermutlich ins Schlafzimmer, so genau wollte ich das gar nicht wissen. Ich beeilte mich in mein Zimmer zu kommen, schloss die Tür hinter mir ab und stellte die Pommes auf meinen Schreibtisch. Dann setzte ich meine Kopfhörer auf und machte die Musik so laut, dass sie meine Gedanken übertönte. Was für ein unglaublich beschissener Tag.
Ich drehte mich auf die Seite und schlief irgendwann ein ohne mein Essen angerührt zu haben. Ohne bisher irgendwas gegessen zu haben. Aber was tat das schon zur Sache. Es würde sowieso niemanden interessieren, wenn ich nicht mehr da wäre.
Am nächsten Morgen erwachte ich eine Stunde bevor mein Wecker klingelte. Keine Ahnung wieso. Mein Handy war irgendwann in der Nacht ausgegangen und ich hängte es an die Steckdose, nachdem ich die Kopfhörer beiseite gelegt hatte. Ich aß die kalten Pommes ehe ich ins Badezimmer ging um in den Spiegel zu schauen. Der Anblick erschütterte mich. Blaue Schatten lagen um meine Nase an der noch Blut klebte und mein Auge war in einem satten lila angelaufen. Meine aufgeschrabbten Hände waren verkrustet, genau wie die aufgeschlagenen Knie. Der Beginn eines vielversprechenden Schultags. Schon jetzt hatte ich Johns Stimme im Ohr, der mich verhöhnte, mit dem Lachen der gesamten Klasse im Hintergrund. Es wäre schöner einfach Zuhause zu bleiben, überlegte ich, aber als ich einen Blick ins Schlafzimmer meiner Mutter warf sah ich Kurt neben ihr liegen. Ich ging lieber bevor er aufwachte. Deshalb duschte ich schnell, packte meine Bücher ich den kaputten Rucksack und verschwand schon um viertel nach Sechs aus dem Haus. Als Frühstück packte ich mir nur einen Apfel ein. Den einzigen, den ich in der Küche noch finden konnte.
Statt zur Schule ging ich in das Waldgebiet nicht weit von meinem Haus entfernt. Es war sowieso noch viel zu früh. Langsam schlenderte ich auf dem Waldweg zwischen den grünen Bäumen entlang. Ein paar Vögel zwitscherten und die ersten Sonnenstrahlen erwärmten den kalten Frühlingsmorgen. Eigentlich war es ein wirklich schöner Tag, aber ich konnte ihn nicht genießen. Die Gedanken an mein beschissenes Leben verhinderten es.
Der Waldweg führte mich zu einer Brücke unter der Zugschienen verliefen. Langsam trat ich an das rostige Geländer und stütze mich mit den Unterarmen darauf ab. Mein Blick schwiff in die Ferne, wo die Schienen schnurgerade zum Horizont führten. Einfach wegfahren, das wär's jetzt. Weg von John, Kurt und dem Rest dieser beschissenen Stadt. Aber das ging nicht. Selbst wenn ich das Geld für eine Fahrkarte irgendwie aufbringen könnte, wo sollte ich hin? Es gab keine Freunde oder Verwandten, die ich besuchen könnte.
Seufzend ließ ich meinen Blick die Schienen entlang wandern, bis ich die anstarrte, die sich direkt unter meinen Füßen befanden. Ganz schön hoch diese Brücke. Ein schmerzhafter Gedanke machte sich in meinem Hinterkopf breit. Wenn ich nicht mehr da wäre, gäbe es niemanden, der mich vermissen würde. Niemanden, der um mich trauert. Vielleicht würde meine Mutter alle paar Monate mal Blumen auf mein Grab legen, wenn sie gerade wieder Streit mit Kurt hatte. Mehr aber auch nicht.
Ich strich mit den Fingern über die raue Oberfläche des Geländers. Die Farbe war abgeblättert, früher war es mal blau gewesen. Ich könnte meinen Fuß auf dieses Geländer setzen und springen. Keiner würde mich daran hindern. Keiner könnte mich abhalten und danach würde sich keiner mehr über mich lustig machen. Wenn jemand starb tat es allen leid, was sie gesagt und getan hatten. Man redete niemals schlecht über Tote. Vielleicht würde sogar John seine Worte bereuen.
Ich holte tief Luft und spürte, wie ich zitterte. Ganz langsam drückte ich mich hoch und hob einen Fuß auf das Geländer.
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