Rostfreier Edelstahl
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Diese Kurzgeschichte ist im Rahmen des Schreibwettbewerbs von der lieben @eisbaerlady und der lieben @Hauchlied entstanden.
Genre: Science Fiction
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Ich saß an der Bushaltestelle und wartete. Der nächste Flugbus würde in zehn Minuten eintreffen. Sie waren seit einigen Jahren sehr engmaschig getaktet und schwebten mit 500 Kilometern pro Stunde, aber heute war kein Tag wie jeder andere. Obwohl mir meine App nichts gemeldet hatte, verspäteten sich die Busse ungewöhnlich stark. Die Flugbus AG brüstete sich damit, dass keine Verspätung von mehr als 500 Millisekunden vorkommen würde. Niemals. Schließlich hatte eine Künstliche Intelligenz - die Zentrale Organisationsinstanz - die Oberhand bei der Planung. Was auch immer heute los war, etwas stimmte eindeutig nicht.
Es sollte mir aber recht sein. Und insgeheim freute ich mich, dass sogar eine Künstliche Intelligenz anfällig für Fehler war. So würde ich wenigstens etwas zu spät zu meinem langweiligen Job kommen. Ob mir mein Chef die Ausrede glauben würde, dass der Flugbus zu spät war? Es war nirgends eine Meldung zu vernehmen. Ich öffnete den Browser und tippte den Namen meines Heimatortes Eistal und das Wort Flugbus ein und innerhalb weniger Nanosekunden lieferte mir die Suchmaschine nur Ergebnisse wie "Stadt Eistal stolz auf pünktliche Flugbusse", "Neuer, schneller, effizienter: Eistal rüstet auf mit Hochgeschwindigkeits-Flugbussen", "Eistaler Bürgermeister stolz: Keine einzige Verspätung im Jahr 2299". Toll. Sie würden es auch nicht zugeben wollen, wenn es anders wäre.
Mit einem Seufzen steckte ich mein Handy zurück in meine violette, aus Kunststofffasern von einer Schneider-KI gewebten Tasche und schaute mir die Gegend an. Diese Tätigkeit kam mir seltsam fremd vor. In einer Welt, in der alles so eng verzahnt war, dass für ungeplante Pausen nie Zeit war, gab es sonst keine Gelegenheit, sich einfach umzusehen. Jetzt, wo ich einmal Zeit hatte, meine Umgebung genauer zu betrachten, fiel mir auf, wie schrecklich dieser Busbahnhof eigentlich aussah. Er war lupenrein, auf dem Boden flog kein einziger Schmutzpartikel herum - kein Wunder, denn die computergesteuerten Reinigungskräfte mit ihren Schmutzsensoren waren rund um die Uhr im Einsatz. Aber die Kälte des Betonbodens und das sterile Aussehen der farblosen Fahrpläne konnten sie auch nicht aufpolieren. Wie sollte man hier glücklich werden?
Für einen kurzen Moment brauten sich durch diese Eindrücke ein toxischer Gefühlscocktail aus Wut und Ekel in mir zusammen und ehe mein Frühstück die Rückreise antreten konnte, versuchte ich, meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Diese Aufgabe wurde mir zum Glück erleichtert, denn einige Meter von mir entfernt sah ich einen Jungen herumstromern. Das war an und für sich nichts Ungewöhnliches. Eigentlich nicht. Doch an einem Werktag Vormittags kam es nicht allzu oft vor. Alle Kinder zwischen sechs und achtzehn Jahren waren von acht Uhr morgens bis sechzehn Uhr Nachmittags in der Schule. Alle, ausnahmslos. Damit ihre Eltern in den bildschönen grauen Fabriken ackern konnten. All das tun, was die Künstliche Intelligenz nicht zu tun vermochte. Was nicht sehr viel war.
Meine Augen folgten dem kleinen Kerl, der höchstens fünfzehn Jahre alt sein konnte. Er näherte sich einem der Mülleimer, die exakt im Abstand von fünf Metern und dreißig Zentimetern voneinander entfernt standen. Seine Hand glitt durch den länglichen Schlitz in den grau glänzenden Behälter. Rostfreier Edelstahl. Kein einfaches Blech mehr wie vor ein paar Jahren noch. Mich wunderte es, dass die Dinger nicht aus Platin waren. Für einen winzigen Moment lang berührte seine Hand die obere Kante des Schlitzes. Sofort ertönte eine ohrenbetäubende Sirene und die rote Lampe, die in den Deckel eingelassen war, leuchtete pulsierend auf und ab.
Für die Umstehenden war es nichts Neues. Wer sowieso schon in die Richtung schaute, in der der Junge vor dem Mülleimer stand, der ließ seine trägen Augen auch das Jammerbild fokussieren. Doch keiner drehte sich extra dafür um. Zu oft ertönten die nervigen Sirenen in letzter Zeit. Immer wieder versuchten Leute, etwas aus den Eimern zu fischen, das andere hineingeworfen hatten. Die Behälter waren vornehmlich für kleineren Elektroschrott vorgesehen. Und dieser beinhaltete oftmals Kupferdrähte, manchmal waren Bestandteile auch aus Gold. Kein Wunder also, dass sie so akribisch gesichert waren.
Noch war niemand in Sicht. Dennoch sah der Junge zu, so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Es war zwar mittlerweile alltäglich geworden, dass ein Mülleimer auf sich aufmerksam machte - und häufig handelte es sich auch um einen Fehlalarm - aber er wollte sicherlich nicht einen näheren Kontakt mit dem Taser eines Sicherheitsbeamten herausfordern. Ohne einen Deut mehr zu haben, als zu dem Zeitpunkt, als er losgezogen war, rannte er davon und verschwand in der Menschenmenge, bevor die Sicherheitskräfte eintrafen.
Ich erhob mich von meinem Sitzplatz und ging ein paar Schritte in die Richtung, in die er gesprintet war. Dabei fiel mir etwas auf, das ich gerade so aus dem Augenwinkel wahrnehmen konnte. Wie eine paradoxe Sternschnuppe, die das Gegenteil von dem brachte, was man sich wünschte, sauste der silbergraue Kastenwagen nur wenige hundert Meter von dem Jungen entfernt vorbei. Er hielt sich an die Richtgeschwindigkeit von 1000 km/h und war somit wenige Millisekunden zu spät da. Ich grinste in mich hinein. Der Knirps hatte doch tatsächlich die Technik geschlagen!
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Als er weit genug von dem Schauplatz entfernt war, entspannte Justus sich ein wenig und hörte damit auf, sich ständig heimlich umzusehen. Er wusste, er sollte das lassen, da es ihn erst recht ziemlich verdächtig erscheinen ließ. Aber seine Paranoia konnte er einfach nicht ablegen, insbesondere nicht, wenn man in Anbetracht zog, dass er vor nicht allzu langer Zeit die erste unliebsame Bekanntschaft mit einem Taser hatte machen dürfen. Ein Erlebnis, bei dem er keinen Wiederholungsbedarf verspürte.
Er wusste, dass die Sicherheitskräfte einen entlaufenen Mülldieb nicht sehr weit verfolgten. Nicht mehr. Wenn sie ihn in flagranti erwischten, dann wurde er - sofern er sich widersetzte - mit der Gewalt von 50.000 Volt außer Kraft gesetzt und in die nächste Polizeiwache gebracht. Dort wurde er in eine Zelle gesteckt, wo er mindestens vierundzwanzig Stunden lang verharren musste. Dann wurde er laufen gelassen, sofern keine stichhaltigen Beweise vorlagen. Das war zum Beispiel dann der Fall, wenn man so clever war wie Justus und sich seine Mütze tief ins Gesicht und den Schal bis zur Nase zog. Dann konnten auch die ach so tollen Sicherheitskameras, die überall hingen, nichts nachweisen.
Noch nicht ganz erholt ließ der Junge sich auf einer Parkbank nieder und schnaufte. Sehr entspannt konnte er dort nicht sitzen. Mit seinem abgewetzten Jeans, an deren Säumen getrockneter Schlamm eine unappetitliche Kruste bildete, galt er als Erregung öffentlichen Ärgernisses. Wenn jemand von der Sicherheitsbehörde zufällig herumpatrouillierte und ihn zu Gesicht bekam, dann würde er ohne weiteres verjagt werden. Oder vielleicht sogar als Tatverdächtiger in Gewahrsam kommen. Das war zwar eher unwahrscheinlich, da der Park der einzige Ort war, an dem keine Kameras hingen, aber es kam vor. Eben weil der Park der einzige Ort war, an dem keine digitalen Augen wachten.
"Hey." Eine Stimme hinter Justus ließ ihn zusammenfahren. Dabei klang sie ruhig und sanft und unter anderen Umständen sogar beruhigend. Die von der Sicherheitsbehörde klangen anders. Hastig drehte sich Justus um und blickte in ein jugendliches, sommersprossiges Gesicht, das von langen blonden Haaren eingerahmt wurde.
"Hey", gab Justus zurück.
"Bist du mein Echo?", fragte der unbekannte Junge und stützte sich mit den Unterarmen auf die Lehne der Bank. Ganz schön frech, dachte sich Justus und beschloss, aus Trotz nichts darauf zu erwidern. Stattdessen starrte er den Jungen einfach an. Für diesen war das jedoch nur eine Einladung, ihn noch weiter zu triezen.
"Jetzt hat es dir die Sprache verschlagen", sagte er und zog die Nase kraus. Er war sicherlich einige Jahre älter als Justus, vielleicht sogar volljährig, aber dafür um Längen kindischer. Erst jetzt fiel Justus die Kleidung des frechen Bengels auf. Er trug ein gebügeltes buntes Hemd und eine hellbraune Cordhose. Scheiße, einer von den Reichen, ging es Justus durch den Kopf und er war schon halb von der Bank aufgestanden, da zog ihn der Junge an der Kapuze seines Pullovers zurück. Auch das noch. Sein Griff war relativ kräftig, so leicht würde Justus ihm nicht entkommen.
"Wo willst du hin? Ohne dich vorzustellen. Du bist richtig unhöflich", tadelte ihn der Kerl mit unüberhörbar sarkastischem Unterton. So, so, Justus war sein Mittel gegen Langeweile? Sein Zeitvertreib? Darauf hatte er keine Lust.
Allmählich ging der Kerl Justus auf die Nerven. Geschickt wand er sich aus seinem Kapuzenpullover heraus. Perplex stand der Blonde mit dem verwaschenen Pullover in der Hand da und Justus rannte in seinem weißen Unterhemd ein paar Meter entfernt. Als er bemerkte, dass der junge Mann ihm nicht folgte, drehte er sich um. Der stand immer noch da wie eine bescheuerte Statue und schaute in Justus' Richtung. Wie kam er jetzt aus dieser Nummer wieder heraus? Was würde man in der Einrichtung sagen, wenn Justus ohne den verdammten Pullover wieder kommen würde?
Nur Probleme, es würde nur Unannehmlichkeiten und Ärger geben. Und am Ende würde herauskommen, dass Justus verbotenerweise im Park statt in der Schule gewesen war und dass ein sorgloser Dandy seinen Pullover in den nächsten Mülleimer geworfen hatte. Justus wägte ab, welche Situation die unangenehmeren Konsequenzen bringen würde. Dann entschied er sich zähneknirschend, zurück zu gehen.
"Gib ihn her", sagte er matt und streckte die Hand aus. Er kam sich lächerlich vor, wie er in seinem weißen Unterhemd auf diesen gut gekleideten jungen Mann zuging.
"Hey, war doch nur Spaß", sagte der Blonde und strich sich verlegen eine Strähne hinters Ohr.
"Für mich ist das nicht ganz so witzig", raunte Justus, ohne ihm direkt in die Augen zu sehen. Er beobachtete, wie auf den hellen Wangen des jungen Mannes rote Röslein blühten.
"Tut mir echt leid. Bekommst du Ärger mit deinen Eltern?", fragte er mit gesenkter Stimme. Justus wandte das Gesicht ab. Ohne ein weiteres Wort hielt ihm der Dandy den Pullover entgegen.
"Ich will es wieder gut machen", sagte er dann und griff in seine Hosentasche.
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Zu meiner Überraschung war der Junge in den Park gelaufen. Im Grunde war es für jeden Dieb, für jeden Herumtreiber die eizig logische Konsequenz an genau den Ort zu laufen, auf den die Zentrale Organisationsinstanz ihr Auge nicht warf. Doch das war ein Trugschluss und das sollte jemand wie er auch eigentlich wissen. Hier waren keine Kameras, doch ein ganzer Haufen ziviler Sicherheitsbeamter schlenderte durch den Park und sah sich um. Nur weil keine Kameras hier hingen, bedeutete das nicht, dass niemand ein Auge darauf hatte, was sich hier abspielte. Wie sonst erklärte es sich, dass in dem Park schon seit Jahrzehnten keine Drogen konsumiert wurden?
Von weitem sah ich, wie der Junge bei einem jungen Mann stand. Den Kapuzenpullover, den er vorhin noch getragen hatte, hatte dieser andere Kerl in der Hand. Der war deutlich besser angezogen und ich fragte mich, ob er nicht auch zu dieser Uhrzeit in der Schule sein müsste. Dann kam mir wieder der Ausfall der Flugbusse in den Sinn. Wahrscheinlich betraf der Fauxpas der Künstlichen Intelligenz noch andere Lebensbereiche. Die Kinder würde es ebenso wenig wie mich stören, wenn ihre Schule ausfallen würde.
Ich beobachtete, wie der modisch gekleidete Mann dem Jungen den Pullover reichte. Dieser nahm ihn zögerlich entgegen und streifte ihn sich über. Einen Moment lang lief die einzige Kommunikation nur über Blicke. Dann über ein paar Worte, die ich nicht hören konnte. Und dann lief mir eine Frau mit ihrem bescheuerten Roboterhund durchs Bild. Verdammt, musste sie ausgerechnet jetzt und hier ihren metallenen Köter in der Ausführung Riesenschnauzer herumführen?
Diese gefühllosen Dinger ersetzten schon seit rund fünfzig Jahren die echten felligen Gefährten. Auch wenn sie täuschend echt aussahen, erkannte man an ihren viel zu flüssigen Bewegungen, dass sie es nicht waren. Aber sie hatten sich durchgesetzt. Sie hatten keine Bedürfnisse. Man hatte im Grund nur die Anschaffungskosten. Futter, Pflege, Tierarzt - alles unnötig. Ab und an mussten sie neu kalibriert werden, aber das war es dann auch schon. Nicht einmal das Gassigehen brauchten sie im Grunde. Das taten die Besitzer nur, um das normale Gefühl zu imitieren, das sie mit einem echten Tier gehabt hätten.
Als die Dame endlich aus meinem Sichtfeld verschwand, waren auch die beiden Jungen weg. Ich schlug mir mit der Faust auf den Oberschenkel und fluchte vor mich hin. Die Dame drehte sich um, bedachte mich mit einem skeptischen Blick und machte sich von dannen. Der Hund würdigte mich keines Blickes. Im perfekten und immer gleichen Winkel wedelte sein mechanischer Schwanz von links nach rechts und seine in der Sonne glänzende Nase machte Schnüffelgeräusche. Dann waren sie weg.
Eilig stand ich auf und sah mich um. Dann fiel mir ein, wo ich mich jetzt gerade eigentlich befinden sollte. Ich blickte auf meine Uhr. Neun Uhr zwanzig und dreißig Sekunden. Ich hätte schon längst auf der Arbeit sein müssen. Ich hätte mindestens auf den nächsten Flugbus warten müssen. Stattdessen interessierte ich mich für das Schicksal eines offensichtlich mittellosen Jungen. Ich schüttelte den Kopf über mich selbst. Was hatte mich geritten? Der Hass auf meinen Job? Oder bloße Neugier? Wahrscheinlich beides. Wenn man so einer trostlosen Tätigkeit nachging wie ich, dann interessierte man sich auch für die Fotosynthese seiner Zimmerpflanze.
Ich ärgerte mich über mich selbst. Nicht etwa, weil ich Arbeitszeit verschwendet hatte. Nein, das war mir herzlich egal. Der goldgerahmte Schriftzug TEMPUS FUGIT brannte vor meinem inneren Auge. Die Zeit rennt. Überall eingraviert in der Fabrik, in der ich arbeitete. Auf den Visitenkarten, auf den Kugelschreiber, auf dem Toilettenpapier. Man kam nicht daran vorbei, diese beiden Worte Tag für Tag zu lesen. TEMPUS FUGIT. Wie schlecht ich mich damit identifizieren konnte! Kein Wunder, dass ich jede Gelegenheit, diesem Ort fern zu bleiben, dankbar annahm. In diesem Moment wurde mir schmerzlich wie sonst noch nie klar, dass ich kein Teil mehr davon sein wollte. Kein Teil mehr von TEMPUS FUGIT.
Und dennoch würde ich auch heute unweigerlich wieder dorthin gehen müssen. Auf dem Weg zurück zum Busbahnhof hörte ich plötzlich lautes Geschrei. Ich war gerade aus dem Areal des Parks heraus getreten, da sah ich, wie zwei Sicherheitsbeamte den Jungen abführten. Mein Herz wurde augenblicklich schwer, als ich sah, wie er zappelnd versuchte, den beiden zu entkommen. Eine Beamtin kam hinzu und ich sah, wie ihre Hand noch im Laufen zum Taser schnellte, der an ihrem Holster befestigt war. In dem Moment blieb ich wie vom Donner gerührt stehen. Sie würde doch wohl nicht ...? Sie zog den Taser ohne zu zögern heraus. Ich wartete keine Sekunde länger ab.
"Halt! HALT!!!!", rief ich und sie hielt inne. Auch die beiden Beamten und sogar der Junge drehten sich zu mir um.
"Lassen Sie den Jungen gehen", sagte ich und trabte heran.
"Sie sind ...?", fragte die Frau und musterte mich eindringlich aus moosgrünen Augen.
"Seine Schwester", sagte ich in Ermangelung einer besseren Antwort. Ich hatte mir nichts zurecht legen können. Aber wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, wäre mir vermutlich auch nichts Besseres eingefallen.
"Dann möchte ich Ihren Ausweis sehen", sagte die Beamtin. Jetzt wurde es brenzlig für mich. An dem Punkt würde meine Blindflugaktion auffliegen. Natürlich würde ich einen anderen Nachnamen haben als der Junge. Alles andere wäre unverschämtes Glück. Trotzdem fischte ich mein Portemonnaie aus der Tasche. Wenigstens, um Zeit zu schinden. Die Beamtin hatte schon die Hand nach dem Ausweis ausgestreckt, da forderte ich: "Lassen Sie ihn erst los."
Ihr Blick sagte mir, dass sie zu keiner Verhandlung bereit war. Wir verharrten beide in einer reglosen Position. Keine von beiden bereit, nachzugeben. Dann gab sie schlussendlich doch ihren beiden Kollegen zu verstehen, dass sie den Griff um die Arme des Jungen lösen sollten. Ich reichte ihr meinen Ausweis. Mein Puls beschleunigte sich.
"Und Sie sollen also die Schwester sein ... von einem anderen Vater oder sind Sie verheiratet? Sie haben nicht denselben Familiennamen", sagte die Frau und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
"Verheiratet", log ich schnell. Dass das ein Fehler war, hatte ich gewusst, noch bevor ich es ausgesprochen hatte. Aus der Brusttasche holte sie ein kleines Gerät hervor, man hätte es für einen USB-Stick halten können, wenn man nicht wüsste, dass die Dinger seit über hundert Jahren antiquiert waren. Es war ein Lesegerät, mit dem man einen Ausweis scannen konnte um noch mehr Informationen über dessen Besitzer zu bekommen. All die Dinge, die nicht Platz auf dem Plastikkärtchen hatten.
Ich schluckte, als sie das Gerät über meinen Ausweis hielt. Es leuchtete grün und aus seiner Oberfläche erwuchs eine dreidimensionale Darstellung meiner selbst. Eine unpersönliche Stimme leierte alle Informationen über mich, meinen Beruf und Familienstand herunter. Natürlich wurde die Tatsache, dass ich ledig und kinderlos war, nicht verhehlt.
Die Beamtin schaltete das Gerät aus und sah mich wortlos an. Sie erwartete eine Stellungnahme meinerseits. Die würde sie nicht bekommen. Jetzt oder nie. Ich warf mich mit meinem ganzen Gewicht auf sie. Wir beide fielen zu Boden. Ich sah, wie der Junge über uns sprang und in Richtung des Parks verschwand. Was töricht war. Und das hätte er selbst auch wissen müssen. Dafür hatte ich meine körperliche Unversehrtheit riskiert? Ich wusste nicht, wie weit er kommen würde, wohin er schlussendlich laufen würde, wann sie ihn doch in die Fänge bekommen würden. Doch ich hatte etwas Gutes getan. Der Gedanke blieb in meinem Kopf und zeichnete sich in goldenem Schriftzug ab. Ich hörte ein Knistern. Dann wurde es schwarz.
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War er jemals in seinem Leben so schnell gerannt? Justus mobilisierte alle Kräfte und sprintete, was seine Beine hergaben. Ohne sich einmal umzusehen, steuerte er auf den Park zu. Er rannte jedoch zielstrebig direkt am Eingangstor vorbei und in Richtung einer dicht bebauten Wohnsiedlung. Ein Einfamilienhaus klebte hier am nächsten und die Gärten zeigten auch nicht viel Individualität. Aber hier würde man ihm schwer finden können, denn seit heute Morgen um sechs Uhr in der Früh waren sämtliche Energiebetriebenen Fahrzeuge ausgefallen. Zu Land und in der Luft. Kein Bus, kein Helikopter hatte eine Chance.
Justus sprang in den erstbesten Garten. Vorsichtig lugte er durch die Terrassentür ins Innere des Hauses. Keiner da. Glück für ihn. Er lief über den Rasen zur Rückseite des Hauses und suchte die Hintertür. Aus seiner Hosentasche zog er einen kleinen metallenen Gegenstand, der aussah wie ein Stift.
"Der Generalschlüssel zu so ziemlich jedem Gebäude in dieser Stadt", hatte der Dandy, dessen Name Justus nicht erfahren hatte, ihm zugeraunt, nachdem er ihm das Ding in die Hand gedrückt hatte. Es hatte geglänzt und in Justus Hand hatte es sich kühl angefühlt. Edelstahl.
"Was kann man damit machen?", hatte Justus gefragt.
"Das kommt drauf an, was du dich traust", hatte der junge Mann mit einem verschwörerischen Zwinkern gesagt.
"Ich habe nicht viel zu verlieren", hatte Justus ihm entgegnet.
Und jetzt stand er hier in einem fremden Haus und hielt das Ding aus Edelstahl an die runde Öffnung direkt unter dem Türgriff. Ein kurzes weißes Leuchten, dann klickte es und die Tür öffnete sich. Leise schlich Justus hinein und sah sich um. Vor allem aber hielt er die Ohren offen. Keiner da. Normalerweise konnte man sich ziemlich sicher sein, dass Vormittags an einem Werktag niemand zuhause war. Aber nicht heute. Heute war alles anders. Und gerade deshalb war es der perfekte Tag, das zu tun, was er gleich tun würde.
Es war auch der Grund, weshalb Justus keine besondere Vorsicht beim Greifen in den Mülleimer hatte walten lassen. Doch da schien die Technik noch zu funktionieren. Na klar, das Unwichtigste funktionierte immer noch bis zuletzt. Aber in diesem Haus schien wirklich niemand zu sein. Justus lief in den Keller, wie der junge Mann es ihm gesagt hatte.
"Es ist egal, welches Haus, egal, welcher Keller. Geh zur zentralen Stromversorgung und steck das Ding in das Schloss", hatte er gesagt und als er Justus' Gesichtsausdruck gesehen hatte, hatte er noch schnell hinzugefügt: "Du wirst es erkennen, wenn du es siehst."
Und tatsächlich. Am Stromverteiler war ein ebenso rundes Loch wie an der Haustür. Justus tat, wie ihm geheißen.
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Als ich wieder aufwachte, sah ich als erstes Gitter. Aber nicht vertikal, sondern horizontal. Kein Wunder, denn ich lag auf der Seite, mein Kopf war auf ein unförmiges Schaumstoffkissen gebettet. Natürlich befand ich mich in einer Zelle. Draußen war das eilige Klacken von Absätzen verschiedenster Schuhe zu hören. Geschäftiges Treiben. Stimmengewirr. Langsam setzte ich mich auf.
"Hier geht alles drunter und drüber", fauchte eine Männerstimme von irgendwoher.
Dann fingen die Neonröhren an der Decke an, verrückt zu spielen. Aus, an, aus, an, aus. Bevor ich fassen konnte, was passierte, startete die Sprinkleranlage. Aber hier brannte es doch nirgends? Feiner Regen durchnässte meine Kleidung. Allgemeines Getrampel, alle rannten nach draußen. In der Zelle mir gegenüber saß ein junger Mann in meinem Alter und schaute mich ebenso verdattert an wie ich ihn.
"Was ist hier ...?"
Bevor er den Satz beenden konnte, klickte es und sämtliche Zellentüren sprangen auf. Wir sahen uns an und lachten. Es platzte einfach aus uns heraus. Wir lachten einfach, so spontan, wie es nur der Moment zulassen konnte.
"Wir sind frei!", rief er, trat aus der Zelle heraus und nahm mich in den Arm. Ich drückte ihn fest an mich. Ich kannte ihn nicht, aber ich ließ mich zu dieser spontanen Freudensgeste hinreißen. Wir rannten nach draußen. Wir waren frei.
(3416 Wörter)
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