Der Rotfußröhrling

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Diese Geschichte ist im Rahmen der  "Halloween'schen Schreibchallenge" von den Kuhlen Kathiisten entstanden. Als Grundlage dient Prompt Nr. 7: "A horror story that doesn't involve one of the big three (paranormal, aliens, or a psychopath) just to show me it can actually be done."

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Edit: Meine Geschichte hat es auf Platz 3 geschafft! Ich bin richtig happy und danke allen, die die Geschichte gelesen haben, die einen Vote und einen lieben Kommentar hier gelassen haben <3

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In der Familie und im Freundeskreis war inzwischen hinlänglich bekannt, dass Sandra eine passionierte Hobbyköchin war. Zu Halloween zauberte sie jahrein, jahraus ihre berühmte Kürbissuppe. Das Geheimnis dabei war aber nicht etwa nur, dass sie dafür immer einen frischen Kürbis vom örtlichen Bauern holte. Gut, das war auch dafür verantwortlich, dass sie so gut schmeckte. Aber nein, das Geheimnis war ein Schuss Orangensaft, der zur geschmacklichen Abrundung beitrug und ihr jedes Jahr bewundernde Kommentare zu ihrer exquisiten Suppe einbrachte. Einen Klacks Crème fraîche obendrauf und voilà - das Geschmackswunder war bereit mit ein paar dekorativen Chiliflocken am Rande der modernen, eckigen Suppenteller serviert zu werden.

Nach fünf Jahren Kürbissuppe in Folge entschied Sandra jedoch, dass an der Zeit für etwas Abwechslung war. Natürlich passte zu Halloween nichts besser, als eine schöne Kürbissuppe, aber Sandra war soweit, sich kulinarisch auf andere Gefilde zu wagen. Erst diesen Frühling war ihr in der niedlichen, kleinen Buchhandlung im Ort ein Buch über Kräuter, die man im heimischen Wald sammeln konnte, in die Hände gefallen. Mit dem Büchlein im Gepäck war sie dann losgelaufen und hatte die Augen nach den darin abgebildeten Gewächsen offen gehalten. Ein paar tolle Funde hatte sie auch schon verzeichnen können: mit frischem Bärlauch hatte sie im Sommer ein sagenhaftes Pesto zubereitet. Und da war noch die gute Brunnenkresse, mit der sie ihrem gemischten Salat den letzten Schliff gegeben hatte.

Motiviert von den Erfolgen dieser Saison hatte sie beschlossen, sich nun auch auf ein anderes Gebiet vorzuwagen und hatte sich im Sommer einen Pilzführer besorgt, mit der Absicht, diese Gaben des Waldes im Herbst zu sammeln. Im Laden waren die guten Steinpilze recht teuer und wer sagte denn, dass es die nicht auch im domestischen Wäldchen gab? Und so stapfte Sandra nun am Vormittag des 31. Oktobers in ihrem hellblauen Regenmantel, mit ihren dunkelblauen Gummistiefeln und einem kleinen Körbchen in der Hand durch den herbstbunten Wald und hielt Ausschau. Es hatte in den letzten Tagen viel geregnet und bekanntermaßen war das ja das perfekte Wetter für Pilze.

Sandra verließ den Hauptweg und stieg vorsichtig über herabgefallene Äste immer tiefer in den Wald hinein. Dünne Nebelschwaden waberten zwischen den endlosen Baumstämmen. Auf den herabgefallenen bunten Blättern rutschte Sandra ein paar Mal beinahe aus. Sie ging immer tiefer in den Wald, aber von den anvisierten Steinpilzen war weit und breit nichts zu sehen. Hier und da wucherten lauter seltsame Pilze, die sie nicht genau zuordnen konnte und aus diesem Grund lieber die Finger von ihnen ließ.

Allmählich wusste Sandra nicht mehr genau, wo sie sich befand. Egal in welche Richtung sie schaute, es bot sich immer derselbe Anblick - himmelhohe Baumstämme, Blätter, Äste. Mit Blick auf den Rückweg legte sie ihr Vertrauen in das handyeigene Navigationssystem, auch wenn sie Zweifel daran hatte, dass sie so tief im Wald noch Internet haben würde. Ihr war ein wenig unwohl dabei, abseits des festen Weges zu laufen. Aber ihr Wagemut schien sich auszuzahlen, als ihr eine kleine Gruppe orange-gelber Pilze ins Auge sprang. Sie ging vor ihnen in die Hocke und betrachtete sie genauer. Pfifferlinge! Sie erkannte sie direkt. Auch das waren gute Pilze. Sie pflückte einen und besah ihn sich genauer. Irgendwas an dem Ding kam ihr komisch vor. Ein Glück hatte sie ihr schlaues Pilzbüchlein bei sich und schnell war die entsprechende Seite aufgeschlagen.

Ihre Intuition lag richtig: ein Falscher Pfifferling. Eine Niete! Sandra warf den Pilz in den Wald zurück und ging weiter. Irgendwann fiel ihr eine Schar Pilze mit grau-braunem Hut und rotem Stiel ins Auge. Was sagte der Pilzführer? Ein Rotfußröhrling. Ein essbarer Pilz! Was für ein Glück. Innerlich frohlockend klaubte Sandra die Pilze zusammen und verstaute sie in ihrem kleinen Korb. Ein Stückchen weiter fand sie eine weitere Gruppe dieser Pilze. Was für ein Glück, dachte sie und sammelte alle ein. Von ihnen ging ein leichter Geruch aus, den Sandra nicht zuordnen konnte. Aber laut ihrem Buch musste das der Rotfußröhrling sein. Der rote Stiel war doch unverwechselbar! Sie überlegte, noch einen Blick in den Pilzführer zu werfen, aber ihre Hände waren voller feuchter Erde und sie würde nur alles schmutzig machen. Außerdem hatte sie ihr Gefühl vorhin bei den Falschen Pfifferlingen auch nicht getäuscht ... es würde schon richtig sein.

Sie lief noch eine ganze Weile durch den Wald, ihr kamen aber keine weiteren Pilze unter. Das machte aber nichts, denn für die leckere Pilzrahmsoße, die sie zu kochen gedachte, reichte das aus. Heute Abend würden, wie jedes Jahr zu Halloween, ihr bester Freund Sven, ihre gute Freundin Luisa und deren Freund Damian kommen. Sandra hatte die drei schon vorgewarnt, dass es anstatt der beliebten Kürbissuppe diesmal etwas anderes geben würde. Sie hatte aber nicht verraten, was es sein würde, denn das sollte bis heute Abend eine Überraschung bleiben.

Sandra suchte den Weg zurück, aus dem Wald hinaus. Sie kam an der Gruppe Falscher Pfifferlinge vorbei und wusste, dass sie zumindest in die richtige Richtung ging. Bald darauf war tatsächlich auch der Hauptweg wieder zu sehen und kurze Zeit später stand Sandra an ihrem Auto und verstaute die Rotfußröhrlinge im Kofferraum. Zuhause angekommen, stellte sie den Korb auf der kleinen Kommode im Flur gleich neben der Wohnungstür ab und zog sich ihren Mantel und die Gummistiefel aus. Mit wachsamem Blick kam ihre Katze aus dem Wohnzimmer in den Flur geschlichen und mauzte fragend.

"Hallo, Wanda!", rief Sandra. Die Reaktion ihrer vierbeinigen Mitbewohnerin fiel weniger herzlich, als vielmehr unterkühlt aus. Die großen grünen Augen tadelten Sandra wegen ihres langen Wegbleibens, dann strich die braun-graue Katze davon. Sandra konnte froh sein, wenn Wanda ihren Frust nicht an der schönen Halloween-Dekoration ausgelassen hatte, mit der sie gestern Abend ihr Wohnzimmer geschmückt hatte. Eine Girlande mit lauter kleinen, knallorangen Kürbissen mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken von lachend bis hämisch, hatte sie entlang der Wand mit Reißzwecken befestigt. Verschieden große Geisterfiguren, die im Dunkeln leuchteten, zierten die Fensterbank. Und das Highlight war eine große Fledermausfigur, die von der Decke hing. Die würde für einen ordentlichen Schocker bei ihren Gästen sorgen. Da würde sich Sven in die Hose machen!

"Sei nicht so beleidigt, Wanda", witzelte Sandra und ging ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Sie hatte sie sich zwar notdürftig am Mantel abgewischt, das Lenkrad ihres Wagens hatte sie aber trotzdem schmutzig gemacht. Während sie ihre Hände einseifte, machte Sandra sich selbst eine gedankliche Notiz, dass sie das nächste Mal eine Packung Feuchttücher einpacken würde. Als sie aus dem Bad kam, sprang Wanda von der Kommode herunter und lief an Sandra vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Die Pfoten klackten auf dem Parkettboden und weg war sie. 

"Was ist denn mit dir los?", fragte Sandra und lachte. Auf dass die Dekoration heil bleibt, dachte sie, nahm sich das Körbchen und brachte es in die Küche. Irgendwo hatte sie gelesen, dass man Pilze nicht in Wasser waschen, sondern sie nur oberflächlich abputzen sollte. Das hatte wohl irgendetwas mit dem Geschmack zu tun. Also kippte Sandra das frische Sammelgut aus dem Wald auf ihre grau-weiß-marmorierte Küchenzeile und riss sich ein Blatt Küchenpapier ab. Das Putzen der Pilze gestaltete sich als müßige Arbeit. Zum einen sollten die Pilze möglichst sauber werden, zum anderen sollten sie dabei nicht auseinander fallen. Als Sandra den größten Teil der Pilze geputzt hatte, meldete die Türglocke, dass jemand Sandras Gegenwart wünschte. Es war Sven. Dabei war es doch erst Nachmittag und Sandra hatte noch keine Gäste erwartet.

"Du bist aber früh dran", begrüßte sie Sven fröhlich, wenngleich etwas irritiert.

"Ja, entschuldige. Ich war gerade in der Gegend und es hat sich nicht mehr gelohnt, dass ich nach hause fahre, wegen den zwei Stunden", sagte er mit schuldbewusstem Lächeln. Sven wohnte von allen erwarteten Gästen am weitesten entfernt. Das verstand Sandra natürlich.

"Ach was, komm rein", sagte sie. Sven trat ein und sah sich im Flur um. Normalerweise kam Wanda immer angelaufen, wenn sie die Türglocke hörte. Sie war Sandras inoffizielle Pförtnerin unter deren strengen Blick jeder Eindringling vor dem Eintreten gemustert wurde. Wenn Wandas Einschätzung zugunsten des Einlass Ersuchenden ausfiel, dann strich sie um dessen Beine herum und erwartete, gekrault zu werden. Aber heute nicht. Sie muss sehr gekränkt sein, dachte Sandra.

"Hat Wanda heute keine Lust?", fragte Sven, der die Begrüßung durch die fellige Mitbewohnerin von Sandra ebenfalls vermisste.

"Sie ist beleidigt", erklärte Sandra und lachte. "Ich war heute im Wald und habe sie alleine gelassen. Das gefällt ihr gar nicht."

"Im Wald?", hakte Sven nach.

"Ja. Jetzt kann ich es dir ja sagen: die Überraschung für heute Abend sind Tagliatelle mit einer Pilzrahmsoße mit selbstgesammelten Pilzen. Was sagst du?" Sandra sah Sven erwartungsfroh an.

"Wow, das klingt richtig lecker! Was für welche hast du gefunden?"

Sandra winkte Sven in die Küche und deutet auf die Arbeitsplatte. Sven nickte anerkennend. Er nahm einen Pilz in die Hand und sah ihn sich genau an. Dann zog er die Augenbrauen zusammen.

"Sag mal, soll der so riechen?", fragte er.

"Ach, der Geruch kommt bestimmt aus dem Wald. Wenn ich sie koche, dann geht das vielleicht wieder weg. Mach mich jetzt nicht verrückt, ich habe sonst keine anderen essbaren Pilze gefunden", sagte Sandra und lachte nervös.

"Wenn du meinst ...", sagte Sven zweifelnd und legte den Pilz wieder zurück. Sandra sah ihm an der Nasenspitze an, dass ihm nicht wohl bei der Sache war. Das war nicht die beste Voraussetzung für das geplante Abendessen.

"Okay, ich sehe schon. Ich werde es dir jetzt demonstrieren! Champignons kann man roh essen, warum dann nicht auch diesen hier? Ich mache jetzt den Selbstversuch und du kannst dich dann überzeugen, dass mit den Pilzen alles in Ordnung ist", sagte Sandra und schob sich ohne zu zögern einen Pilz in den Mund. Er hatte einen angenehmen, milden Geschmack. Der konnte doch gar nicht giftig sein!

"Siehst du?", sagte Sandra zufrieden. Svens angespannter Gesichtsausdruck verflog.

"Na gut, überzeugt. Ich sehe mal nach unserer beleidigten Leberwurst", sagte Sven grinsend und ging ins Wohnzimmer. Sandra wandte sich wieder den Rotfußröhrlingen zu. Einen kleinen naschte sie noch, die schmeckten ja wirklich richtig gut!

"Wanda?", hörte sie Sven kaum eine Minute darauf aus dem Wohnzimmer sagen. Hatte sich die Katze schon wieder unter dem Sofa versteckt? Sandra hatte ihr extra einen Kratzbaum mit einer Höhle gekauft, aber der Lieblingsort des Minitigers war nach wie vor das Sofa. Zum Verstecken wie auch zum Kratzen. In Sandras Magen grummelte es. Sie würde sich noch ein paar Stunden gedulden müssen, bis es Essen gab. Nach und nach breitete sich ein unangenehmes Gefühl in ihrem Inneren aus. Ihr Bauch fing an, zu verkrampfen. 

Plötzlich erschien Sven in der Küchentür und sein Gesicht sah erschrocken aus. Er machte ganz große Augen. Er hatte die Fledermaus gesehen. Das musste es gewesen sein. Aber dafür fiel seine Reaktion nicht so aus, wie Sandra erwartet hatte. Hoffentlich würden sich Luisa und Damian später mehr erschrecken.

"Was ist?", fragte Sandra und bemühte sich, normal zu klingen. Das Bauchweh wurde zusehends stärker. Sie würde sich eine Wärmflasche machen müssen. Und einen Fencheltee. Oder Kamille. Oder was auch immer den Magen beruhigte. Hoffentlich ging das wieder weg, bis die anderen eintreffen würden. Sie wollte das Abendessen ungern absagen.

"Wanda liegt auf der Seite und regt sich nicht ...", sagte Sven mit bebender Stimme.

"WAS?" Sandra drängte sich an Sven vorbei durch den Flur und ins Wohnzimmer. Da lag sie, ihr lieber, kleiner Tiger. Die grünen Augen waren offen und starrten sie voller unverhohlener Anschuldigung an.

"Oh, scheiße ...", jammerte Sandra. Sie kniete sich neben den schlaffen Körper. Der konvex gewölbte Bauch war ganz ruhig. Oh nein. Oh nein, nein, nein.

"Hey, hey, alles klar bei dir?", rief Sven. Sandra brauchte ihn nicht zu fragen, was nicht klar sein sollte. Sie hörte seine Stimme nur noch wie aus weiter Ferne. Sie hallte wie an den Wänden eines tiefen Brunnens. Sie sah den Fußboden immer näher auf sich zu kommen. Ihr Bauch tat so weh. Als würde man ihren Magen in die Hand nehmen und ganz fest zusammendrücken. Das Wohnzimmer verschwamm, dann tanzten kleine weiße Lichter vor ihren Augen. Wo kamen denn jetzt die Lichter her? Viele kleine Sterne, kleine Sterne in ihrem Wohnzimmer. Aber es war doch erst Nachmittag ...

Neben Wanda sank Sandra auf den Fußboden. Die Zimmerdecke war übersäht von den kleinen Sternen, die in ihre Wohnung gekommen waren und um die Fledermaus herum tanzten, die direkt über ihr hing. Zwischen den Sternen schwebte nun auch Sven in Sandras Sichtfeld. Was wollte er? Süßes oder Saures? Dafür war er doch schon viel zu alt!

"Was war das für ein verdammter Pilz, den du da gegessen hast?", fragte Sven. Sein Gesicht hing über ihrem und in dem Moment fiel es ihr ein. Es war wohl die ganze Zeit über in irgendeiner versteckten Hirnwindung gewesen, in der dunkelsten Ecke. Ja, was war das für ein verdammter Pilz? Und warum, verdammt nochmal, fiel es ihr jetzt erst ein? Sie hatte es flüchtig beim Blättern gelesen. Ihre Augen hatten das Bild und die Überschrift dazu gestreift. Der Name blieb einem im Gedächtnis. Nur musste er irgendwie vom aktiven Gedächtnis ins Unterbewusstsein gerutscht sein ... oder sowas in der Art ... Der Rotfußröhrling hatte ja einen giftigen Doppelgänger. Den Satansröhrling. Verdammt.

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