Adventskalender 2024 - Türchen 2


"Nicht die Geschenke zählen, sondern die Zeit, die wir schenken
und die Erinnerungen, die wir schaffen."

Die Zeit, die wir schenken

Der Weihnachtsmarkt auf dem kleinen Platz vor der Kirche war überfüllt. Kinder lachten, Glühwein dampfte in den Händen der Menschen, und über allem lag der Duft von gebrannten Mandeln und Tannenzweigen. Clara stand an einem der Stände, wühlte in einer Kiste mit handgemachten Wollschals und versuchte, den Gedanken zu verdrängen, dass sie eigentlich gar nicht hier sein wollte.

„Kann ich Ihnen helfen?" fragte die Verkäuferin freundlich.

„Nein, danke", murmelte Clara und schob den Stapel Schals zurück.

Eigentlich sollte sie sich auf Weihnachten freuen. Ihre beste Freundin Julia hatte sie überredet, mitzukommen, aber während Julia irgendwo in der Menge verschwunden war, stand Clara nun alleine hier und fühlte sich unwohl. Seit der Trennung von Paul vor einem Monat schien, jede Erinnerung an Weihnachten nur noch schwerer zu wiegen.

Sie wollte gerade gehen, als jemand neben ihr sagte: „Schöner Stand, oder?"

Clara blickte auf. Ein junger Mann mit zerzausten Haaren und einer Wollmütze sah sie an, ein freundliches, aber leicht unsicheres Lächeln auf den Lippen.

„Ja, sehr schön", antwortete sie höflich, aber ohne viel Interesse.

„Suchst du ein Geschenk?" fragte er weiter.

Clara zuckte die Schultern. „Nicht wirklich. Vielleicht eher nach einer Idee."

Er nickte, griff in die Kiste und zog einen Schal heraus. „Wie wäre es damit? Handgemacht, warm, und –" Er hielt ihn sich an den Hals. „Ich würde behaupten, er steht jedem."

Clara konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Ich glaube, dein Modegeschmack ist nicht ganz meiner."

Er grinste. „Ich heiße Leo. Und du?"

„Clara", sagte sie, zögernd, aber sein offenes Wesen hatte etwas Beruhigendes.

„Schön, dich kennenzulernen, Clara." Er schaute sie an, als wolle er sie einschätzen. „Weißt du, ich habe eine Theorie. Menschen, die auf Weihnachtsmärkten allein unterwegs sind, haben entweder etwas verloren oder suchen etwas."

„Was, wenn beides stimmt?" entgegnete sie, halb im Scherz, halb ernst.

Leo nickte nachdenklich. „Dann würde ich sagen, es wird Zeit, etwas zu finden."

„Und was schlägst du vor?"

„Ein Experiment", sagte er mit einem Augenzwinkern. „Ich lade dich auf einen Glühwein ein, und wir tun für den Rest des Abends so, als wären wir keine Fremden, sondern alte Freunde."

Clara zögerte. Aber dann dachte sie: Warum nicht? Es war nicht so, dass sie etwas Besseres vorhatte.

Sie gingen von Stand zu Stand, tranken Glühwein, teilten sich einen Teller Reibekuchen, und langsam spürte Clara, wie die Schwere in ihr nachließ. Leo war lustig, aber nicht aufdringlich, erzählte von seinem chaotischen Job als Fotograf und von seinen Reisen. Clara, die sich anfangs noch zurückgehalten hatte, fand sich bald dabei, Geschichten aus ihrer Kindheit zu erzählen, von verregneten Ferien und ihren ersten, misslungenen Versuchen, Plätzchen zu backen.

„Weißt du", sagte Leo irgendwann, „das Beste an Weihnachten sind doch die kleinen Momente. Die, die man nicht plant."

Clara schaute ihn an. „Vielleicht. Aber es fühlt sich trotzdem manchmal leer an."

Er nickte. „Das verstehe ich. Aber manchmal hilft es, die Leere mit etwas Sinnvollem zu füllen. Nicht mit Dingen, sondern mit Menschen. Mit Zeit."

Clara lächelte schwach. „Das klingt fast wie ein Spruch aus einem Kalender."

Leo lachte. „Vielleicht. Aber ich meine es ernst."

Am Ende des Abends standen sie an der Bushaltestelle. Clara hatte das Gefühl, als hätte sie eine Pause vom Rest der Welt bekommen.

„Danke", sagte sie, während sie sich die Hände in die Manteltaschen steckte. „Für den Abend. Ich glaube, das war genau das, was ich gebraucht habe."

„Das freut mich." Leo lächelte, dann zog er ein kleines Notizbuch aus seiner Jackentasche. „Falls du mal wieder jemanden suchst, der Weihnachtsmärkte unsicher macht."

Clara nahm das Notizbuch, blätterte es durch und sah, dass er seine Nummer hineingeschrieben hatte.

„Vielleicht", sagte sie, ein leichtes Lächeln auf den Lippen.

Der Bus kam, und sie stieg ein, während Leo ihr noch einmal zuwinkte.

Die folgenden Tage fühlten sich anders an. Leichter. Inspiriert von Leos Worten beschloss Clara, sich selbst etwas Zeit zu schenken – und anderen. Sie besuchte das Seniorenheim in der Nähe und meldete sich freiwillig, um mit den Bewohnern Plätzchen zu backen. Sie schrieb alte Freunde an, mit denen sie den Kontakt verloren hatte, und verabredete sich mit Julia zu einem Abendessen, statt nur oberflächliche Nachrichten auszutauschen.

Am Heiligen Abend stand sie am Fenster, sah den Schnee fallen und fühlte eine Wärme, die sie schon lange nicht mehr gespürt hatte.

In der Stille vibrierte plötzlich ihr Handy. Eine Nachricht von Leo: „Frohe Weihnachten, Clara. Zeit ist das schönste Geschenk. Ich hoffe, du hast sie heute an jemanden verschenkt, der sie verdient hat."

Clara lächelte. Sie antwortete: „Ja, habe ich. Danke, dass du mich daran erinnert hast."

Und in diesem Moment wusste sie, dass das Wichtigste, was sie in diesem Jahr gewonnen hatte, kein Geschenk war, sondern eine einfache Wahrheit: Es sind die Momente und die Zeit, die wir miteinander teilen, die wirklich zählen.

[773 Wörter]
@Music_Dream24

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