Kapitel 9
"Ich habe einen Brief von Sam", begann Aragorn, als wir zu dritt im Esszimmer saßen und das Mittagessen einnahmen.
"Wirklich?", rief Tauriel aufgeregt aus. "Das ist ja großartig." Ich wusste, dass sie Sam sehr lieb gewonnen hatte, besonders, als sie mit ihm und Frodo durch Mordor gezogen war.
"Was schreibt er?", erkundigte ich mich lächelnd.
"Kurz nach seiner Ankunft im Auenland hat er Rosie zur Frau genommen und ist mit ihr nach Beutelsend, das Haus der Beutlins, gezogen. Dort scheint es ihm sehr gut zu gehen, auch Merry und Pippin wohnen in der Nähe und sie verbringen viel Zeit zusammen. Er schreibt allerdings auch, dass in den letzten Wochen viele Menschen im Auenland waren..." Tauriel runzelte die Stirn und auch ich war verwirrt. Menschen im Auenland? "Es hat sich wohl verbreitet, dass unter den Rettern Mittelerdes auch vier Hobbits waren und die Menschen wollen sich das Auenland ansehen. Einige haben nicht einmal gewusst, dass es Hobbits gibt und angenommen, dass dort Elben leben. Es sind wirklich viele und sie stören die Hobbits bei ihrer Arbeit und in ihrer Ruhe."
"Bittet er dich, etwas dagegen zu unternehmen? Und wenn ja, was wirst du tun?"
"Ich weiß nicht, was ich tun soll, Tauriel." Er seufzte tief und ich befürchtete, dass sich das nicht nur auf diese Angelegenheit bezog. Ich wusste nicht, wie ich ihm helfen konnte. Ich war einfach vollkommen ratlos. "Sam hat mich nicht darum gebeten, das würde er nicht tun. Aber ich bin es ihnen schuldig. Ich finde, dass ich das für sie tun sollte, es ist meine Pflicht. Wir haben so vieles zusammen durchgestanden. Was kann ich tun?"
Mir kam eine Idee, aber ich zögerte, weil ich nicht wusste, wie er reagieren würde. Es war schon viele Jahre her, doch ich erinnerte mich daran, als wäre es erst gestern gewesen: Ein altes Buch aus Lothloriens Bibliothek, in dem es um die Bewertung des damaligen Königs von Gondor durch einen sehr gelehrten Elb, dessen Name nicht überliefert worden war. Er hatte vorgeschlagen, das Reich der Korsaren von Umbar zu einem freien Land zu machen und ihnen bestimmte Rechte zu gewähren, anstatt zu viele kräftezehrende Schlachten gegen sie auszufechten. Ein freies Land... Seitdem war dieser Begriff nicht mehr verwendet worden, aber vielleicht war es an der Zeit.
"Ich habe eine Idee", sagte ich leise. "Aber ich weiß nicht, ob du sie gut finden wirst. Wenn nicht, dann schrei mich bitte nicht an, denn das ertrage ich nicht und das musst du auch nicht. Leider kann ich mir bei dir in der letzten Zeit nie sicher sein, ob du meine Vorschläge gut findest oder nicht, geschweige denn, wie du reagieren wirst. Aber vielleicht findest du es ja gut. Dann hätten wir eine Lösung."
Zwei Stunden später standen Aragorn und ich vor unserem versammelten Volk. Ioreth und Rian hatten ganze Arbeit geleistet, mein Kleid schimmerte in der Farbe von Amethysten und kaschierte sehr gut, dass ich viel zu dünn war. Meine Augenringe hatten sie bedeckt und meine Hautfarbe war nicht mehr bleich und zeugte von meiner Erschöpfung, sondern strahlte wie nach einem Aufenthalt in Bruchtal. Dazu hatte ich eine hübsche, komplizierte Flechtfrisur, die mit Schmucksteinen von der Farbe meines Kleides verziert war. Ich sah gut aus, ich konnte es an ihren Augen sehen. Sie wirkten beinahe überrascht und das verletzte mich. Nicht, weil die beiden überrascht von meiner Schönheit und meinem guten Aussehen waren, sondern weil noch vor fünf Monaten niemand überrascht gewesen wäre. Es war immer eine Tatsache gewesen, dass ich wunderschön war, und nach fünf Monaten voller schlafloser Nächte, erdrückender Diskussionen und zu harter Tage, hatte sich das grundlegend geändert.
Aragorn neben mir sah so jung, ausgeruht und attraktiv aus wie lange nicht mehr- ich durfte das sagen, ich war seine Frau- und er hielt meine Hand. Die Gerüchte unserer erkalteten Ehe mussten ein für alle Mal aus der Welt geschafft werden. Er hatte seine Rede so lange auswendig gelernt, bis auch Tauriel und ich sie konnten- sie stand hinter mir im Schatten, bereit, bei der kleinsten Gefahr sofort einzugreifen- und ich wusste genau, dass er ihn trotzdem gerade im Kopf noch einmal durchging. Und ich wusste, dass er Angst hatte. Seit Tauriels Ernennung zu meiner Leibwächterin hatte er nicht mehr vor dem Volk gesprochen und keiner wusste, wie die Menschen reagieren würden. Er fürchtete, sich das erste Mal bei seinem Volk unbeliebt zu machen. Die Räte waren jedenfalls alles andere als begeistert gewesen, sie nannten es eine "übereilte und völlig unsinnige Handlung, die Gondors Einwohnern missfallen wird", aber Aragorn hatte ihnen gesagt, er sei nicht hier, um mit ihnen darüber zu beraten, sondern um sie darüber zu informieren. Diese Formulierung hatte Tauriel ihm empfohlen und ich wusste nicht, wer ihr dankbarer war; er oder ich. Aragorn verabscheute die Ratssitzungen und er verabscheute auch die Räte. Ich musste ihm immer einreden, dass das nicht so war, damit er sich besser fühlte, obwohl es mir nicht anders ging. Die Königin hatte schon eine schwierige Stellung.
Ich sah über die Schulter und sah Tauriel lächeln, Finduilas' Bogen in der Hand. Sie wollte mich beruhigen. Sie wollte mir signalisieren, dass alles in Ordnung und die Entscheidung die richtige war. Ich wollte nicht, dass die Menschen mich hassten. Sie mussten mich nicht lieben- obwohl ich irgendwie hoffte, dass einige das taten- aber ich wollte nicht gehasst werden. Im Wissen, dass Gondor mich hasste, würde meine Arbeit mir sehr viel schwerer fallen, dabei war sie schon jetzt das Belastendste, das ich in meinem Leben geleistet hatte. Früher war ich aufgestanden, wann ich wollte, hatte in aller Ruhe gefrühstückt und dann entweder gelesen, gesungen oder einen Spaziergang gemacht. Anschließend Mittagessen und wieder das Gleiche. Abendessen, schlafen und es ging wieder von vorne los. Mein Tagesablauf war einfach und jeden Tag gleich, und alle waren darauf bedacht, mich nicht zu überanstrengen. Ich wollte diesen Alltag nicht zurück, denn Aragorn hatte keinen Platz darin gehabt. Aber ich wollte auch nicht das Leben, was ich derzeit führte, weiterführen, wenn mein Volk mich hasste. Dazu war ich nicht stark genug.
Aragorn sah mich an und ich erwiderte seinen Blick, er drückte meine Hand und wir traten gemeinsam nach vorne. Ich bemühte mich, zu lächeln, sodass meine Wangen schmerzten, und winkte den Leuten strahlend zu. Sie sollten wissen, dass ich glücklich war. Ich war glücklich, an der Seite des Mannes, den ich über alles liebte. Natürlich war ich glücklich.
"Volk von Gondor, Einwohner von Minas Tirith!", hallte seine Stimme über den riesigen Platz. "Ich danke euch allen, dass ihr euch so zahlreich hier versammelt habt. Zunächst möchte ich mich für die letzten fünf Monate an eurer Seite bedanken. Euer König zu sein ist mir eine Freude und ich möchte es gegen nichts eintauschen." Vereinzelte Menschen in der Menge lachten höhnisch oder schüttelten augenrollend den Kopf. Meine Augen weiteten sich und ich atmete tief durch, um ruhig zu bleiben. Die Feindseligkeiten fingen schon an, bevor er das eigentliche Thema angesprochen hatte. "Heute stehe ich hier vor euch, um eine wichtige Ankündigung zu machen. Sie betrifft das Auenland, wo die Hobbits leben." Ein Raunen ging durch die Menge und ich konnte nicht deuten, was sie damit meinten. "Hiermit erkläre ich das Auenland mit sofortiger Wirkung als ein freies Land, vollkommen unabhängig von Gondor oder Rohan. In dieser Hinsicht kooperiere ich mit König Eomer." Er hatte vor, mit Eomer zu kooperieren. Ein Bote, der Eomers Meinung zu dieser Angelegenheit erfragen würde, war vor etwa einer Stunde aufgebrochen. Allerdings waren Tauriel, Aragorn und ich uns sehr sicher, dass er mit uns übereinstimmen würde. "Von nun an ist es allen Menschen untersagt, dieses Land zu betreten, es sei denn, sie wurden von einem Hobbit eingeladen und können eine Einladung an der Grenze in schriftlicher Form vorzeigen." Einige schrien empört auf, weniger aufgrund der Tatsache, dass sie nicht mehr ins Auenland konnten, als vielmehr aus dem Grund, dass sie sich in ihrer kostbaren Freiheit eingeschränkt fühlten. "Diese Regelung dient dem Schutz der Hobbits vor Behelligung vonseiten der Außenwelt. Ich bitte euch alle, dies zu akzeptieren. Vielen Dank." Er bedeutete mir, noch einen Augenblick stehen zu bleiben.
"Er bevorzugt nur seine Freunde!"
"Wenn er uns verbieten will, wo wir hingehen dürfen, warum sperrt er uns nicht gleich ein!"
"Denethor hätte das niemals getan!"
"Er will doch gar nicht unser König sein!"
"Arwen." Aragorn rüttelte an meiner Schulter. "Arwen, komm mit, ich bringe dich hier weg!"
Wie in Trance ließ ich mich von ihm wegziehen. An meinem Arm klebte etwas feuchtes- Reste einer Tomate. Sie hatten mit Tomaten geworfen. Mein Volk hatte mich mit Tomaten beworfen.
"Geht es dir gut?", fragte Tauriel beinahe panisch, "Bist du in Ordnung?"
"Ich glaube, sie steht unter Schock." Aragorn versuchte, beruhigend zu klingen, doch ich hörte die Angst in seiner Stimme. Und die Schuldgefühle. Er bereute es, mich mit vor unser Volk genommen zu haben.
Wir erreichten die Tür zum Palast. Eine letzte Tomate traf Tauriel an der Schulter, mit blitzenden Augen wischte sie sie weg. Ich hörte, wie die Tür ins Schloss fiel- dann gaben meine Beine nach und ich verlor das Bewusstsein.
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