Kapitel 51
Ich sah mit versteinertem Gesicht zu, wie der Grabstein, in dem mein Mann lag, langsam in die Erde eingelassen wurde. Es war ein schlichter, dunkler Sarg ohne jegliche Verzierungen, doch als Grabplatte hatte der fähigste Bildhauer der Stadt eine Statue von Aragorn im Liegen mit der Krone auf seinem Haupt und einem Schwert in der Hand gefertigt. Ein würdiges Denkmal für Gondors ersten König nach der langen Herrscherperiode der Statthalter.
Neben mir stand Eldarion, der am heutigen Morgen zum König von Gondor gekrönt worden war. Sein Gesicht war von der Trauer eingefallen, dennoch stand er aufrecht und etwas in seinen Zügen hatte sich verändert. Er wirkte beinahe königlich und erinnerte mich schmerzlich an seinen Vater. An das, das ich verloren hatte.
Es war immer noch nicht real. Ich hatte es immer noch nicht verarbeitet; mein Mann war jetzt fünf Tage tot und in diesen fünf Tagen hatte ich weder gegessen noch geschlafen oder gesprochen. Sie alle waren bei mir gewesen und hatten versucht, mich zu trösten oder dazu zu bewegen, wieder ins Leben zurückzukehren, doch alle waren sie gescheitert.
Aragorn war tot. Aragorn war tot und alles andere war bedeutungslos. Ich hatte beschlossen, in Lothlorien zu sterben, doch ich fragte mich, wie ich es in meiner Trauer bis dahin schaffen sollte. Innerlich war ich bereits tot. Es gab nichts mehr, das mich in diesem Leben hielt, nicht einmal meine Kinder. Ich wollte nur noch sterben.
Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter und drehte mich um, es war Tauriel. Natürlich war es Tauriel und natürlich wusste sie, dass ich es nicht länger aushalten würde.
"Komm", flüsterte sie sanft und führte mich von der trauernden Menge weg. Jeder Einwohner Minas Tiriths, von kleinstem Kind bis zum ältesten Greis, war gekommen, um dem König die letzte Ehre zu erweisen, weitere Menschen aus ganz Gondor, eine Delegation der Rohirrim und aus Ithilien und sogar einige Elben waren hier. Auch die Männer weinten.
Jeder hatte Aragorn geliebt, wenn er auch Fehler gemacht hatte. Jeder einzelne Bürger dieses Landes hatte ihn geliebt, aber nicht so, wie ich ihn geliebt hatte. Er war alles für mich gewesen, meine ganze Familie. Ich habe ihn so geliebt. So sehr.
"Was willst du tun?", fragte Tauriel mich vorsichtig und setzte mich auf unsere Bank im Garten. "Was brauchst du?"
"Ich möchte sterben, Tauriel", flüsterte ich mit erstickter Stimme, obwohl ich wusste, dass diese Antwort ihr nicht gefallen würde. Darauf konnte ich nun keine Rücksicht mehr nehmen. "In Lothlorien."
"Wann willst du aufbrechen? Wer soll dich begleiten?" Ihre Hand fand die meine und obwohl sie erschüttert klang, wusste ich, dass sie mich verstand. Sie konnte sich vorstellen, was ich erdulden musste, und einst hatte sie dieses Leid selbst erlebt.
"Am besten noch heute. Ich nehme von allen hier Abschied und dann können wir reiten. Nur du und ich. Wenn du mich begraben hast, kannst du zurück nach Minas Tirith reiten und mit den anderen in den Westen aufbrechen."
Tauriel neigte den Kopf vor mir, das hatte sie noch nie getan. "Ich hole alle, von denen du dich verabschieden willst. Der Leichenschmaus ist sowieso nichts, das man erleben muss, finde ich. Warte hier auf mich."
Ich nickte abwesend und ließ zum hundertsten Mal seinen letzten Moment Revue passieren. All die tröstenden Worte, die mir gesagt worden waren, waren nichts im Vergleich zu dem, was er mir gesagt hatte.
"Du bist wunderschön", hatte er gesagt, "Das bist du immer gewesen. Aber noch wichtiger als das ist, du hast ein wunderschönes Herz. In deinem Herzen ist so viel Liebe und so viel Güte, dass es für mich kaum fassbar ist. Und zu wissen, dass dein Herz mir gehört, ist das beste Gefühl auf der Welt. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich dich haben durfte."
Er hat mich geliebt. Und ich habe ihn geliebt, mit jeder Faser meines Körpers. Ich hatte nur für ihn geatmet, mein Herz hatte nur für ihn geschlagen. Und in Mandos' Hallen würde er auf mich warten, er würde am Tor stehen und die Hand nach mir ausstrecken, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht. Mein Tod würde eine Erlösung für mich sein.
Als ich mich von den Meinen verabschiedete, hatte ich keine schönen Worte für sie, wie Aragorn sie vorbereitet hatte. Dazu war ich zu sehr zerfressen von meiner Trauer.
"Es tut mir leid, dass nun auch ich euch verlassen muss", flüsterte ich und konnte keinem von ihnen in die Augen sehen. Ich wusste, dass sie zum Teil enttäuscht von mir waren, schließlich ließ auch ich sie im Stich, konnte nicht den Überlebenswillen aufbringen, um mein Leben weiterzuführen. Normale Menschenfrauen waren dazu doch auch in der Lage, warum also nicht ich? Ich könnte es ihnen nicht erklären. In meinem Herzen war ich immer noch eine Elbe, und ich hatte mit solcher Liebe an meinem Mann gehangen, dass ich nun gebrochen war, aber das konnte außer Legolas, Tauriel und vielleicht noch Gimli keiner von ihnen verstehen. Sie waren alle noch so jung und kindlich in meinen Augen, selbst Eldarion, und sie hatten in ihren behüteten Leben noch nicht viele Erfahrungen gemacht. Zwar liebten sie ihre Ehepartner, aber sie hatten nie wirklich um sie kämpfen müssen. Aragorn und ich hatten gekämpft. So sehr.
"Ich liebe jeden einzelnen von euch von ganzem Herzen. Ihr seid meine Familie, und daher wünsche ich euch, jedem von euch, dass euer Leben genauso verlaufen wird, wie ihr es euch erträumt. Lasst euch eines gesagt sein: Ihr schafft das auch ohne mich. Eldarion, du siehst schon heute wahnsinnig königlich aus. Bei deinem Anblick musste ich sofort an deinen Vater denken. Theodwyn, du machst als Königin eine ganz hervorragende Figur und bist meine würdige Nachfolgerin. Ich bin stolz auf dich. Galadwen, ich kann dem, was dein Vater gesagt hat, nichts hinzufügen. Du hast dich sehr gemacht, bist eine großartige Mutter und wahrlich Galadriels Erbin. Ich weiß, dass sie immer über dich wachen wird. Luthien, ich weiß, dass du in Bruchtal glücklich sein wirst und ich bin froh, dass die Linie unseres Hauses dort durch dich weitergeführt wird. Artamir, es war mir eine Ehre, dir meine Tochter zur Frau zu geben. Denn du bist es wert. Maethril, meine Kleinste, du wirst das tun, was ich nicht konnte, und meinen Platz einnehmen. Du wirst meine Familie kennenlernen- und ich weiß, dass sie dich lieben werden. Gimli, lieber Freund, du hast mir immer sehr viel bedeutet, auch wenn du am Anfang Furcht vor mir hattest. In Zukunft sollen sie dich Gimli Elbenfreund nennen, denn du hast unserem Volk so viel Liebe erwiesen. Legolas- wenn ich an dich denke, denke ich immer daran, wie du mir eine Schulter zum Weinen angeboten hast, als ich mit Eldarion schwanger war. Du hast mich schon so oft gerettet, aber dieses Mal kannst du es nicht." Ich sah jedem von ihnen fest in die Augen. "Lebet wohl, meine geliebte Familie. Verzweifelt nicht, sondern blickt in die Zukunft. Werdet glücklich."
Ich umarmte jeden von ihnen, dann wurde mir bewusst, dass das das Ende war und an Tauriels Hand schritt ich zu den Pferdeställen. Zwei Diener hatten alles für unsere Abreise vorbereitet; die letzte Reise meines Lebens begann.
Lothlorien wirkte durch meine von Trauer verschleierten Augen trostlos und grau. Die Bäume hatten ihre Schönheit und der ganze Wald seine Lebendigkeit verloren. Es wirkte wie ein trauriger Schrein für meine Großeltern, der mit den Jahren vergessen und darum nicht mehr gepflegt worden war. Doch mein erkaltetes Herz konnte sich zu keiner Träne erweichen lassen.
"Hier ist es gut", gebot ich, als wir fast in Caras Galadhon angekommen waren. Eine kleine Stelle, wo die Bäume nicht so dicht wuchsen und der Boden mit weichem Gras bedeckt war. Hier würde ich sterben. Hier würde meine letzte Ruhestätte sein.
Wir aßen schweigend eine letzte Mahlzeit, dann wusste ich, dass es so weit war. Ich würde erlöst werden von meinem Leid. Furchtsam sah Tauriel mich an.
"Bitte, lass mich in Frieden gehen, mellon nin. Bitte lass mich einfach sterben, denn es ist mein größter Wunsch. Sein Tod hat mich zerstört, Tauriel. Er hat mir alles genommen, ich bin nicht mehr die, die ich war. Ich muss sterben, um glücklich sein zu können. Ich kann nicht mehr."
"Du hast mein Leben auf so viele Arten bereichert, Arwen Undomiel", sagte sie sanft. "Du warst immer da. Du warst immer mein Hoffnungsschimmer, mein Licht. Und jetzt soll ich ohne dich sein. Ich weiß nicht, wie ich das überstehen soll."
"Das wirst du. Galadriel wird für dich da sein."
"Aber Galadriel ist nicht wie du."
"Sie ist weiser als ich, mellon. Sie wird dir immer Hoffnung schenken. Du wirst ohne mich weiterleben können." Ich dachte an die drei Kinder, die ich in meiner Vision gesehen hatte, beschloss aber, ihr nichts davon zu erzählen. Das würde die Zukunft nur verändern. "Ich bin nie alles gewesen, das dich glücklich gemacht hat. Du schaffst das ohne mich. Du bist so stark, so mutig- du schaffst das ohne mich. Ich verspreche es." Sanft wischte ich eine Träne, die über ihre Wange rollte, mit der Fingerspitze weg. Dann griff ich in meine Tasche und zog mehrere in Leder gebundene Bücher hervor. "Die habe ich im letzten halben Jahr gemacht. Sie sind für meine Kinder, meine Familie in Valinor und für dich. Lies es manchmal, wenn du mich vermisst. Auf dem Einband steht immer der Name, für den es ist. Sie sollen meine letzten Andenken sein."
Tauriel nahm das in ihre Hände, auf dem ihr Name stand, und strich bedächtig über den Einband. "Ich habe mit so etwas gerechnet", presste sie hervor. "Es ist wunderschön. Hannon le."
Ich schloss sie fest in die Arme und legte mich dann auf das dichte Gras. "Begrabe mich genau hier", bat ich. "Und vergiss mich nicht. Du warst immer meine liebste, beste Freundin. Dass du mit mir gekommen bist, bedeutet mir sehr viel."
Sie schien sprachlos zu sein, griff aber nach meiner Hand. "Niemals könnte ich dich vergessen. Du hast mich gerettet, Arwen. Das war nicht Galadriel- das warst du."
Ich schloss meine Augen und vor meinem inneren Auge sah ich nur Aragorn. "In Mandos' Hallen wartet er auf mich, er steht am Tor und streckt die Hand nach mir aus, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht", hauchte ich. "Aragorn..."
Dann fühlte ich nichts mehr.
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