Kapitel 48

Tauriel konnte mir nicht verzeihen. Auch nach einem knappen Jahr konnte sie nicht vergeben, dass ich die Unsterblichkeit abgelehnt hatte. Man merkte es daran, wie sie den ganzen Tag um mich herumstrich, wie sie mich ansah, wenn sie glaubte, dass ich sie nicht bemerkte. Sie konnte mir nicht verzeihen und bemühte sich gleichzeitig, mir meine Zeit so schön und lebendig zu gestalten.
Ich hatte eine Vision gehabt. Ich hatte Aragorns Tod gesehen, gesehen, wie er starb. Ich konnte spüren, dass es bald sein würde. Meine Tage waren gezählt, vielleicht zwei Jahre noch. Eher weniger.
Ich liebte das Leben. Manchmal war es hart gewesen, zahlreiche Anstrengungen hatten es mir nicht gerade leicht gemacht, aber nichtsdestotrotz liebte ich es. Ich liebte es, aufzuwachen und zu wissen, wie schön der Tag werden würde. Ich liebte es, meine Zeit mit denen zu verbringen, die ich liebte. Ich liebte die leuchtenden Farben, die prachtvollen Düfte und die zarten Klänge des Lebens, ich liebte alles daran. Und ich wollte nicht, dass das alles vorbei war, dass ich die Erde verlassen würde. Nicht einmal den Gedanken daran konnte ich ertragen. Es kam mir vor, als gäbe es so viele  Dinge, die ich verpassen würde. Ich hatte erst ein Enkelkind... Aber Aragorn war mein Schicksal, und dem würde ich mich fügen. Die Unsterblichkeit hätte mich nicht glücklich gemacht. Valinor hätte mich nicht glücklich gemacht.
Ich holte in der Küche die Hälfte eines Zitronenkuchens ab und machte mich auf den Weg in den Garten. Luthien und Artamir waren gerade eingetroffen und gesellten sich zu Eldarion und Theodwyn, Legolas und Maethril standen an einer aufgebauten Zielscheibe und hielten beide einen Bogen in der Hand, er gestikulierte wild. Daneben lagen Aragorn und Gimli unter einem Baum.
Tauriel wartete an der üblichen Stelle neben dem Rosengarten auf mich und nahm den Kuchen grinsend in Empfang. "Du bist die Beste", stellte sie fest.
"Auf der ganzen Welt", ergänzte ich mit einem Lächeln und schob ihr ein Stück in den Mund.
"Das würde ich so unterschreiben." Wir wurden beide wieder ernst und das gefiel mir nicht. Es war, als gäbe es überhaupt keine Freude mehr, nur weil Aragorn und ich bald sterben würden. Bei den Menschen war es doch auch so, sie lebten in dem Wissen, dass sie eines Tages sterben würden, und genoßen trotzdem jede einzelne Sekunde. Wenn man die ganze Zeit, die man hatte, damit verbrachte, sich vor dem Tod zu fürchten, dann hatte man gar nicht richtig gelebt. Sie musste damit aufhören und sich mit dem abfinden, dass uns bevorstand.
"Sag mir, was dich beschäftigt, mellon nin." Ich suchte ihren Blick, doch sie wich mir aus.
"Was soll ich tun, wenn du tot bist?"
"Tauriel." Sie weinte, und ich wollte eine Hand auf ihren Arm legen, doch etwas hielt mich davon ab. Stattdessen lehnte ich meinen Kopf an ihre Schulter. "Bitte. Nicht. Wenn ich tot bin, wirst du mich beerdigen, dann segelst du mit Legolas in den Westen. Du wirst Vater, Großmutter und Großvater wiedersehen und meine Mutter kennenlernen. Und du wirst dort nicht alleine sein. Jeden Tag wirst du genießen und mit vielen Freunden verbringen. Es geht nicht immer nur um mich. Natürlich, du wirst trauern und das darfst du auch. Aber danach ist es vorbei. Danach sollst du mich vergessen. Du liebst Galadriel so sehr, Tauriel- sie wird dann deine beste Freundin sein."
"Niemand anderes wird jemals meine beste Freundin sein. Auch Galadriel nicht, denn sie hat nicht für jedes Problem eine Lösung. Es heißt, dass Valinor alle Wunden heilen kann- aber wie soll es mich den größten Verlust meines Lebens vergessen lassen?"
"Es muss nicht der größte Verlust deines Lebens sein." Gedankenverloren sah ich zu Aragorn, dem die Sonne goldene Kringel ins Haar malte. Der größte Verlust meines Lebens... "Denn du musst aufhören, meinen Tod so negativ zu betrachten. Ich werde glücklich sterben, Tauriel, trotz allem so glücklich. Aragorn ist mein ganzes Leben. Er ist alles für mich und ich bin verrückt nach ihm. Wenn er stirbt, gibt es auf dieser Welt nichts Lebenswertes mehr, also werde ich ihm nachfolgen. Weißt du noch, als ich in Lothlorien die Vision von ihm hatte und du mir sagtest, dass ich seinen Tod nicht überstehen würde? Ich wusste schon zu diesem Zeitpunkt, dass ich an gebrochenem Herzen sterben würde, sobald er tot ist. Aber er würde es mir wert sein, das wusste ich damals schon. Damals, als ich ihn nicht einmal kannte, nur seine Gestalt gesehen hatte. Und jetzt kenne ich ihn und er kennt mich und ich kann nicht ohne ihn sein. Ich kann es nicht. Auch wenn ich dann in Kauf nehmen muss, dass ich dich verliere und meine Familie nie mehr wieder sehe. Das akzeptiere ich. Und du solltest das auch endlich tun. Denn ich habe vor einigen Tagen eine Vision von Aragorns Tod gehabt. Es wird bald sein, Tauriel."
Bei den letzten Worten schluchzte ich und jetzt war sie es, die mich tröstete. Mit beiden Händen hielt sie mich fest und ich umklammerte ihre Hände. Ich liebte das Leben so sehr. Ich liebte Aragorn und meine Kinder und ich liebte Tauriel. Wenn ich mich auch damit abgefunden hatte, es sollte nicht passieren. Aragorn sollte leben.
"Sei nicht böse auf mich", weinte ich, "Das macht es mir doch nur noch schwerer. Ich hätte das Angebot angenommen, wenn es nicht bedeutet hätte, dass ich ohne Aragorn weiterleben muss. Dabei ging es mir doch nicht um dich, ich habe mich nicht gegen dich entschieden. Es tut mir so leid, Tauriel."
"Sag das nicht, Arwen. Mir tut es leid, denn ich war sehr ungerecht. Und egoistisch. Ich verspreche dir, dass die letzten Jahre deines Lebens wunderschön werden. Ich werde alles dafür tun. Ich werde Galadwen wieder nach Minas Tirith holen, und du musst keinen Finger mehr rühren. Wir werden es dir schön machen."

Etwas später an diesem Tag schrieb ich in meinem Arbeitszimmer einen Brief an Galadwen und Elfwine, denn uns hatte Nachricht aus Rohan erreicht: Vor einigen Tagen hatte Galadwen Zwillinge zur Welt gebracht, zwei Jungen. Außerdem hatten Theodwyn und Luthien uns verkündet, dass sie schwanger waren. Ich hätte glücklicher nicht sein können, denn vielleicht bekam Eldarion einen Erben und die Linie war gesichert und weiterhin würde ich Galadwen in diesem Brief bitten, bald einige Monate in ihrer alten Heimat zu verbringen, da niemand wissen konnte, wie lange ihr Vater noch leben würde.
Es kam ganz plötzlich; das Glas in meiner Hand fiel zu Boden und zersplitterte in hunderte kleine Scherben. Ich sah einen großen Garten, wo zwei Kinder mit rötlichen Haaren zusammen spielten, ein Junge und ein Mädchen. Der Junge hielt ein Holzschwert in der Hand und zog dem Mädchen- seiner Schwester?- damit eins über.
"Mama, Mama!", weinte die Kleine und rannte zu einem hübschen Holzhaus herüber. Die Frau, in deren Arme sie sich warf, war Tauriel. "Aragorn hat mich gehauen!"
"Aber das hat er doch bestimmt nicht mit Absicht getan", beruhigte Tauriel sie und warf Legolas neben ihr ein verstohlenes Grinsen zu.
"Ich wollte ihr doch nicht wehtun!" Der Junge floh zu Legolas. "Arwen muss doch auch kämpfen lernen."
"Kein Verständnis für einen angehenden Schwertkämpfer", warf Legolas ihr mit einem Kopfschütteln vor und konnte das Lachen kaum zurückhalten. "Sei nicht traurig, Aragorn."
Da kam ein etwas älterer Junge gemeinsam mit Gimli aus einer hinteren Ecke des Gartens angelaufen. Er war das Ebenbild von Legolas, hatte aber Tauriels Augen.
"Mama! Papa! Ich habe vier Mal hintereinander ins Schwarze der Zielscheibe getroffen! Onkel Gimli hat er nur drei Mal geschafft!" Hinter dem Rücken des Jungen zwinkerte Gimli den beiden bedeutsam zu.
"Haldir, das ist ja großartig", gratulierte Tauriel ihm. "Gimli ist aber auch ein sehr guter Lehrer."
Die beiden Jungen stürmten mit leuchtenden Augen davon, das Mädchen zog Legolas an der Hand mit sich fort zu einer Sandfläche.
Galadriel trat aus dem Schatten hervor und legte Tauriel eine Hand auf die Schulter. "Ich bin stolz auf dich, Tauriel", sagte sie sanft, "Und Arwen wäre es auch."

Mein Herz raste, als ich die Scherben auf dem Boden betrachtete. Tauriel und Legolas würden Kinder haben. Tauriel würde Kinder haben. Dann war alles gut.

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