Kapitel 46
Aragorn und ich saßen mit ineinander verschränkten Fingern auf seinem mächtigen Thron, auf den auch drei Leute gepasst hätten, und warteten auf den nächsten Gast. Es war der Tag, an dem wir den ganzen Tag Bürger Minas Tiriths empfingen, um uns ihre Nöte und Sorgen anzuhören, und zum Glück beteiligten sich immer ziemlich viele daran. Gerade hatten wir eine einstündige Pause gemacht, um mit unseren Freunden Mittag zu essen, doch nun ging es weiter. Bisher waren es keine Dinge von großem Belang gewesen, Aragorn hatte einen Streit schlichten müssen, in dem es um ein Stück Land ging, einige Bauern hatten sich über die sinkenden Preise für Kuhmilch beschwert, weil immer mehr Menschen Ziegenmilch tranken- einer von ihnen hatte uns vorgeschlagen, ein Gesetz zu verabschieden, das die Bevölkerung Gondors dazu zwang, Kuhmilch zu trinken, also wirklich- und ein Schmied war angeblich hergekommen, weil ihn jemand um einen Sack voll Metall betrogen hatte, hatte uns dann aber sehr schnell seinen ältesten Sohn als Mann für Maethril vorgeschlagen. Sehr witzig.
Tauriel, Legolas, Gimli und Maethril traten geräuschlos durch die Tür und ließen sich auf den Sesseln hinter uns nieder, um ein wenig zuzuhören, dann sah der Wachposten durch die Tür und kündigte uns den nächsten Bürger an. Herein kam ein älterer Mann in einen leuchtend blauen Mantel gehüllt, der von der Machart her dem Mantel Gandalfs glich. Man sah wenig von seinem Gesicht, da es von einer breiten Kapuze verborgen wurde, doch er hatte einen grauen Bart und eine sehr große Nase. Der alte ging auf einen Stock gestützt, doch trotzdem lag in seinem Gang etwas anmutiges und leichtfüßiges, das ich mir nicht erklären konnte. Er durchquerte den Raum und blieb etwa fünf Meter vor uns stehen, um sich zu verbeugen. Huldvoll lächelte ich ihm zu.
"Seid uns gegrüßt, edler Herr", begann Aragorn freundlich und der Fremde nahm seine Kapuze ab. Er hatte ein paar helle, wache Augen, doch er lächelte nicht. "Es freut mich, dass Ihr hier seid. Kommt Ihr aus Minas Tirith?"
"Ich komme von weit her und habe eine lange Reise auf mich genommen, um mit dir zu sprechen, Arwen Undomiel", sagte er und seine Stimme klang nach altem Leder und einer fremdartigen Welt.
Aragorn wirkte verwirrt; kein Bürger Gondors würde es wagen, mich zu duzen oder nicht mit meinem korrekten offiziellen Titel anzusprechen. Nur sehr wenige Menschen wussten, welche Bedeutung das Undomiel hatte. Doch mir war klar, dass dieser Fremde kein Einwohner unseres Landes war, vielleicht nicht einmal ein Mensch. Er hatte eine fremdartige und irgendwie dunkle Ausstrahlung.
Rasch warf ich einen Blick nach hinten zu Tauriel, die mir beruhigend zunickte, und sah, dass Maethril sich furchtsam an Legolas drückte. Hatte sie diese Situation kommen sehen, hatte sie eine Vision gehabt, von der sie mir nichts erzählt hatte? Oder fürchtete sie einfach aus einem Instinkt heraus diesen seltsamen Mann?
"Ich kenne Euch nicht, hir nin, vergebt mir." Da Aragorn nichts sagte, ergriff ich das Wort, die elbische Sprache erschien mir angemessen. "Wart Ihr mit meinem Vater bekannt?"
"Nur allzu flüchtig kannte ich Elrond von Bruchtal", erwiderte er mit einer wegwerfenden Handbewegung. "Und noch weniger kannte er mich. Du, schönes Kind, erkennst mich nicht, denn nie haben deine Augen mich erblickt. In den letzten Jahrhunderten, die für mich vergangen wie Blätter im Wind, habe ich mich nicht an das gehalten, was man mir befohlen hatte, den Befehl der Sternenkönigin habe ich nicht befolgt. Doch heute bin ich hierher gekommen, um eine letzte Anordnung auszuführen, dann endlich kann ich zur Ruhe kommen."
Was meinte er damit, er habe Vardas Befehl nicht befolgt? Er sprach von Jahrhunderten, also war er kein Mensch. Aber ein Elb war er auch nicht, denn seine Gestalt war vom Alter gebeugt und seiner Kraft beraubt. Wer war er dann? Und warum nannte er nicht seinen Namen? Ich suchte Aragorns Blick, er schien ebenso ratlos wie ich.
"Könnt Ihr uns nicht erklären, was Ihr mit Euren Äußerungen meint, edler Herr?", fragte Aragorn behutsam, als er die versteckte Angst in meinen Augen sah. "Wir begreifen nicht, wovon Ihr da sprecht."
"Für diesen Mann an deiner Seite gabst du einst das Geschenk der Valar auf, schönes Kind, du verlorst die Unsterblichkeit und gewannst die Liebe. Viele Tränen wurden geweint über das Schicksal von Arwen Undomiel, und viele in den unsterblichen Landen beklagten den Verlust deiner Familie. Niemand weinte mehr als Celebrian, die über zwei Jahrtausende ausharrte und auf ihre Tochter wartete, denn als das Schiff anlegte, überkam sie nur Kummer und Verzweiflung." Ich schluckte schwer und spürte kaum, dass Aragorn meine Hand drückte. "Schönes Kind, ganz Valinor ist erschüttert ob deiner Entscheidung, und bald wird dein Tod sie alle hart treffen, als wärest du ihr aller Kind. Darum wurde ich geschickt. Nicht hoch in der Gunst stehe ich bei den Valar, doch die Sternenkönigin betraute mich mit dieser Aufgabe, und ich gedenke sie ganz hervorragend auszuführen. Arwen Undomiel, ich biete dir hiermit die Unsterblichkeit an."
Ich hörte, wie Tauriel nach Luft schnappte, und ich hörte auch Maethril leise wimmern. Aragorns Augen waren weit aufgerissen und wanderten zwischen dem Fremden und mir hin und her. Zorn flackerte in ihnen auf.
"Wie könnt Ihr so etwas sagen?", schrie er und sprang auf, "Wie könnt Ihr ihr so etwas antun, ihrer Familie und ihren Freunden? Ihr seid nichts weiter als ein Scharlatan, ein menschlicher Anhänger schwarzer Magie! Wie könnt Ihr uns allen nur solche Hoffnungen machen, obwohl Ihr nur Lügen erzählt und ohnehin nichts ausrichten könnt?"
"Aragorn", meinte ich leise, doch er hörte mich nicht. Ich sah Tränen in seinen Augen. Er wünschte sich so sehr, dass ich wieder unsterblich wurde und er in dem Wissen starb, dass ich für immer weiterleben würde. Aber ich hatte gelernt, dass die Unsterblichkeit nicht alles war.
"Sagt mir Euren Namen, Fremder, ich will endlich erfahren, wer Ihr seid!"
"Du hast ein allzu hitziges Gemüt, Aragorn, Sohn von Arathorn. Deine Vorwürfe treffen mich hart, aber deine Freunde in Valinor hatten mich darauf vorbereitet, dass so etwas passieren könnte. Mein Name ist Pallado, Ithron Luin (blauer Zauberer)." Dieses Mal schnappte ich nach Luft, denn eigentlich waren die blauen Zauberer seit Jahrhunderten verschwunden. "Und um meine Fehltritte in den letzten Zeitaltern wettzumachen, ließ ich mich von den Valar beauftragen, hierher zu kommen und deiner Frau die Unsterblichkeit anzubieten. Sie muss nur ein einziges Wort sagen und wird wieder unsterblich sein."
Aragorn starrte mich an. Alles, was er sich für mich erträumte, lag greifbar direkt vor mir. Nur ein einziges Wort und ich war wieder eine Elbe. Ich könnte nach Aragorns Tod mit Tauriel und allen anderen nach Valinor reisen, ich würde meine Eltern und Großeltern wiedersehen und meinen kleinen Bruder kennenlernen. Fern von Leid und Qual würde ich ein freies, wundervolles Leben führen und das bis in alle Ewigkeit. Jeden Tag würde ich mich an der Schönheit des Westens erfreuen und mit meinen Freunden über die makellosen Wiesen eilen. Meine Gesundheit wäre wieder vollkommen hergestellt, als wäre ich niemals krank und schwach gewesen. Ich würde glücklich sein.
Würde ich das? Denn ich glaubte nicht daran. Wenn Aragorn starb und ich in den Westen segelte, würden die Wunden in meinem Herzen nie ganz verheilen. Ich würde nie darüber hinweg kommen, dass ich nach seinem Tod vor dem Unausweichlichen geflohen war und mich in Valinor vor der Traurigkeit versteckte. Ich würde im Westen leben in dem Wissen, dass ich meine Kinder und Enkel alle überleben würde. Jeden einzelnen von Aragorns und meinen Nachkommen würde ich überleben.
"Arwen", begann er rasch und mit seidenweicher Stimme, "Hör mir zu. Du musst diese Möglichkeit ergreifen, dieses Geschenk annehmen. Bitte, du musst. Dann werde ich sterben und wissen, dass es dir immer gut gehen wird, dass dich nicht das gleiche Schicksal ereilt wie mich. Es wird dir gut gehen in Valinor. Du wirst bei deiner Familie sein, jeden Tag deines Lebens mit ihnen verbringen. Mit deiner Mutter. Du hast sie so lange nicht mehr gesehen, so lange schon verzehrt sie sich nach dir. Deine Narben werden dort heilen, bis du gar nicht mehr weißt, was Traurigkeit ist. Jeder Tag wird hell und glücklich und wunderschön."
Ich wusste, wie ich mich entscheiden sollte.
Tauriel kam von hinten an mich heran und kniete vor mir nieder. "Du weißt doch, dass er recht hat, Arwen. Mit jedem Tag läuft seine Zeit weiter ab. Deine Zeit läuft ab. Galadriel hat gesagt, dass dich das Los der Sterblichkeit hart treffen wird. Du würdest bereuen, sterblich geworden zu sein. Und wenn sie es gesagt hat, stimmt es, das wissen wir doch beide. In Valinor wirst du nicht so unglücklich sein, wie du es jetzt denken magst. Dort sind Galadriel und Celeborn, dort sind Elrond und Celebrian. Wir alle würden das zusammen mit dir durchstehen, dafür sorgen, dass du nicht traurig bist. Du wärst nicht alleine mit deiner Trauer um Aragorn, denn wir alle werden um ihn trauern. Denk doch an mich." Eine Träne rann über ihre Wange. "Wie soll ich leben und weitermachen ohne dich? Niemand kennt mich, so wie du mich kennst. Auch Legolas nicht. Ich weiß einfach nicht, wie ich das schaffen soll, wenn du nicht mehr da bist, darum kann ich nicht zulassen, dass du dieses Angebot ausschlägst. Und deine Mutter, stell dir vor, sie wartet mit Galadriel auf das Schiff, auf dem sie mich erwartet, und dann bist du auch noch da."
Meine Entscheidung war gefallen.
Legolas und Gimli stießen auch noch dazu, Maethril dagegen blieb im Hintergrund.
"Wir alle hier wissen doch, dass du so viele mit einem Ja glücklich machen könntest." Legolas lächelte sein charmantestes Lächeln. "Aragorn und Tauriel und uns beide und deine Familie in Valinor, aber auch noch so viele mehr. Dein Schicksal bewegte selbst die Valar dazu, sich einzumischen. Denke nicht nur an die, die du kennst, wenn du dich entscheidest, denke auch an die, die dir unbekannt sind und trotzdem mit dir fühlen."
"Bitte Arwen, sag Ja", schloss Gimli und da war etwas verzweifeltes in seinen Augen.
"Meine Antwort lautet Nein", flüsterte ich, und Aragorn gab einen Laut von sich, der mir das Herz zerriss. "Ich will die Unsterblichkeit nicht. Nicht mehr, denn ich sehne mich nicht mehr danach. Früher war ich traurig, dass meine Liebe nicht mit der Unsterblichkeit vereinbar war, aber inzwischen habe ich mich mit meinem Schicksal abgefunden und bereue nichts. Ich bin ein Mensch und ich werde sterben, und das ist gut so."
Pallado lächelte zum ersten Mal, seit er hier war. "Deine Großmutter hat mir gesagt, du würdest dich so entscheiden, schönes Kind."
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