Kapitel 42

"Ihr seid schrecklich! Ich versucht nicht einmal, mich zu verstehen!" Meine jüngste Tochter stürzte aus dem Raum und hinterließ einen wütenden und fassungslosen Aragorn und mich. Ich musste gestehen, ich war den Tränen nahe. Solche Situationen kannte ich nicht; Eldarion, Galadwen und Luthien hatten sich niemals so verhalten und niemand, den ich aus meiner Kindheit und Jugend kannte, hätte ein solches Benehmen toleriert. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
"Es wird alles wieder gut", sagte ich schnell, bevor Aragorn anfangen konnte zu brüllen. Das tat er häufig in letzter Zeit; es war nicht das erste Mal, dass Maethril türenknallend einen Raum verließ. "Es wird ganz sicher alles wieder gut. Galadwen war auch nicht immer einfach." Das war eine glatte Lüge; Galadwen war nichts im Vergleich zu Maethril.
"Manchmal frage ich mich, wie es wieder besser werden soll. Sie vergisst sich, Arwen. Sie vergisst ihre Herkunft und ihre Erziehung und ich weiß nicht, was wir noch tun könnten." Er war ganz ruhig, aber das war kein gutes Zeichen, im Gegenteil. Tauriel nannte es die Ruhe vor dem Sturm, und sie hatte recht damit. Ich senkte den Kopf. "Sie ist meine Tochter! Sie ist mein Kind und damit mein ganzer Lebensinhalt, ich würde alles für sie tun und ihr die Welt zu Füßen legen. Aber was soll sie tun, wenn wir nicht mehr da sind und sie sich nicht zu benehmen weiß? Warum ist sie nur so schwierig? Ich bin ihr Vater! Du bist ihre Mutter! Was haben wir falsch gemacht, was wir bei unseren anderen Kindern richtig gemacht haben?" Aragorn schrie und schrie und schrie und ich meinte, eine Träne auf seiner Wange zu sehen. Dann sah er zu mir, bemerkte, dass ich mit gesenktem Kopf den Sturm aussaß, den er verursacht hatte. "Arwen... Es tut mir leid. Hörst du, es tut mir leid. Ich sollte meinen Ärger nicht an dir auslassen. Diese Worte sollte Maethril hören und nicht du. Verzeih mir. Ich habe mich nie hilfloser gefühlt- und das, obwohl ich nun schon so lange König bin."
"Ist schon gut", wehrte ich ab und vergrub das Gesicht an seiner Brust. "Ich bin nur so traurig, weil es mir genauso geht. Ich habe das Gefühl, sie wächst uns über den Kopf. Und die Kinder sind doch alles für mich... Was soll ich also tun, wenn sie mich nicht will? Wenn sie nichts von dem, mit dem ich ihr helfen will, annehmen möchte? Was ist das, das uns immer weiter von ihr entfernt?"
"Ich kann es dir nicht sagen. Ich wünschte, ich könnte es." Plötzlich hielt nicht mehr ich mich an ihm fest, sondern er sich an mir. "Was soll ich tun, galwen nin? Sie ist doch mein kleines Mädchen. Die Kleinste. Eldarion und Theodwyn sind in ihre eigenen Räume gezogen und Galadwen ist fort in Rohan- wir haben doch nur noch Luthien und Maethril, bald nur noch Maethril, wenn Luthien zu ihrem Artamir zieht. Und ich will nicht, dass unsere gemeinsame Zeit von schweigsamem Zorn vergiftet wird."
"Ich auch nicht." Seufzend richtete ich mich wieder auf. "Aragorn, ich bin ratlos. An einigen Tagen bin ich völlig verzweifelt. Ich will sie nicht endgültig verlieren."
Legolas kam herein, der Ausdruck in seinen Augen war mitfühlend. "Habt ihr wieder gestritten?"
"Haben wir", erwiderte ich, und Aragorn ergänzte: "Das war ja nicht zu überhören."
"Aragorn nicht", tadelte ich ihn sanft. "Lasse deinen Ärger nicht an ihm aus. Du musst ihm vergeben, Legolas."
"Alles gut", lächelte er und sah zu mir, während Aragorn den Raum verließ. "Tauriel ist ihr hinterher gegangen. Sie wollte, dass du das weißt."
"Gut." Ich atmete erleichtert aus. Tauriel war die einzige, der Maethril es von Zeit zu Zeit gestattete, mit ihr zu reden, und auch die einzige, der sie manchmal erzählte, wie sie sich fühlte. Selten genug, aber es kam vor. Vielleicht konnte Tauriel auch heute zu ihr vordringen.
"Das wird schon wieder, glaub mir. Maethril ist ein tolles Mädchen, aber es fällt ihr schwer, sich in dieser Welt zurecht zu finden. Sie hat ihren Platz noch nicht gefunden."
"Das weiß ich." Es tat gut, dass Legolas das sagte. Er hatte so eine beruhigende Art, die mich wieder auf den Boden brachte, wenn es nötig war. "Aber es macht mich verrückt, weißt du? Ich würde ihr so gerne helfen, aber alles was ich tun kann, ist daneben stehen und zusehen. Sie ist noch so klein. Sie ist 13 Jahre alt. Ich sollte in der Lage sein, ihr zu helfen, denn bis meine Mutter Mittelerde den Rücken kehrte, konnte sie mir immer helfen. Aber was Maethril gerade scheinbar durchmacht- wenn es nicht nur purer Ungehorsam ist, wie Aragorn es denkt- habe ich selbst nie erlebt. Ich weiß nicht, was sie fühlt, und ich kann mir nicht erklären, warum ich es nicht weiß. Das ist das Schlimmste."
"Manche Dinge muss man alleine schaffen, Arwen. Denke daran, wie du dich während deinen ersten Monaten als Königin gefühlt hast, und jetzt geht es dir so leicht von der Hand, als hättest du nie etwas anderes getan. Die Leute sprechen von dir als die geborene Königin und die beste Herrscherin in der Geschichte Gondors. Manchmal müssen Dinge einem schwerfallen. Manchmal steht man vor einer Aufgabe oder einer Situation und weiß noch nicht einmal, wie man anfangen soll. Und dann begreift man plötzlich, dass es nicht hoffnungslos ist und dass es einen Weg gibt. Maethril wird das auch schaffen."
Ich nickte und versuchte, dankbar auszusehen, doch in Wahrheit war ich einfach nur unglücklich. Seine freundlichen Worte trösteten mich nicht.

Kurze Zeit später stand ich vor dem Zimmer meiner jüngsten Tochter und traute mich wirklich nicht herein. Ich traute mich nicht herein. Sie war 13 und ich fast 3000 Jahre alt- wie hatte es soweit kommen können? Wie hatte ich das zulassen können, dass sie mich bestimmte wie der Mond das Meer?
Ich erinnerte mich daran, dass ich als Kind vor jedem, sogar vor meinen eigenen Eltern, einen solchen Respekt gehabt hatte, dass man es fast Angst nennen könnte. Ich war voller Panik gewesen, wenn mich jemand auch nur etwas länger als nötig angesehen hatte, weil ich dachte, ich würde etwas falsch machen. Und Maethril... Warum war sie so anders? Lag es daran, dass ich als Elbe aufgewachsen war und sie als Mensch? Oder hatten meine Eltern von Anfang an größeren Gehorsam von mir erwartet, war ich zu locker und verständnisvoll? War der Grund, dass meine Mutter sich ausschließlich mit mir beschäftigt hatte und mein Vater Bruchtal allein regiert hatte, während Maethril wie ihre Geschwister Kindermädchen gehabt hatte und nicht den ganzen Tag mit mir verbracht hatte? Musste ich mich schuldig fühlen, hatte ich das hier verursacht?
Schließlich, als wusste, dass ich es nicht länger aufschieben konnte, klopfte ich sehr zurückhaltend an der Tür.
"Kannst 'reinkommen, Mama." War meine Art zu klopfen etwa so bezeichnend?
Sie lag auf dem Bauch auf ihrem Bett und hatte ein Buch vor sich, sah jedoch nicht so aus, als würde sie darin lesen. Eher, als würde sie es als eine Ausrede benutzen, falls jemand hereinkam.
"Was liest du da?", fragte ich mit eher geheucheltem Interesse- ich musste einfach nur das Gespräch beginnen.
"Äh-" Blitzschnell, in der Hoffnung, ich würde es nicht bemerken, drehte sie das Buch um und warf einen Blick auf den Einband. Ich hatte mit meiner Vermutung also richtig gelegen. "Die Schlacht der fünf Heere aus Sicht eines Mädchens aus der Seestadt. Echt spannend."
"Schön." Ich setzte mich ungefragt auf einen Sessel neben dem Bett und sie verzog das Gesicht, als wolle sie mich nicht bei sich haben. "Maethril, was meinst du damit, wir würden nicht versuchen, dich zu verstehen? Warum glaubst du das?"
Unwillig klappte sie das Buch zu und setzte sich, abwehrend zog sie die Knie an den Oberkörper und stützte die Arme auf ihnen ab. "So empfinde ich das nun mal. Weiß nicht, warum. Es fühlt sich nun mal so an. Aber dieses Gespräch hat Tante Tauriel doch schon mit mir geführt."
"Aber mich interessiert es genauso wie sie. Ich bin deine Mutter, es ist mir wichtig, zu wissen, warum du mich so schrecklich findest."
"Das habe ich doch nur so gesagt."
"Trotzdem hast du doch etwas gemeint. Ich nehme es dir nicht übel, weil ich weiß, dass du wütend gewesen bist, aber es beschäftigt mich, dass du dich nicht nur unverstanden fühlst, sondern wir in deinen Augen noch nicht einmal versuchen, dich zu verstehen."
"Wir essen drei Mal am Tag zusammen, nach meinem Unterricht und eurer Arbeit verbringen wir die ganze Zeit miteinander. Und worüber reden wir? Über die wirtschaftliche Lage Rohans, über die Blumen, die in eurem großartigen Lothlorien wachsen. Über Verwandte, die ich niemals kennenlernen werde, weil sie abgehauen sind in eine bessere Welt, und über die Farbe, die Luthien am Besten steht. Warum reden wir nicht über die wichtigen Dinge? Über Dinge, die uns alle direkt betreffen? Luthien ist wunderschön und ihr stehen alle Farben, warum reden wir nich darüber, dass sie mich wie Luft behandelt, weil ich ein bisschen anders bin als sie? Warum reden wir nicht über eure Streits meinetwegen oder über die Nächte, die Tauriel weinend in Legolas' Armen verbringt, weil sie so gerne Kinder hätte und sich nach ihrer Fehlgeburt doch nicht dazu überwinden kann? Ihr sagt, wir sind Freunde und eine Familie und können uns alles erzählen- warum tun wir es nicht? Es macht mich verrückt, dieses Schweigen. Es ist überall, bei uns, bei den Dienern und in der Stadt. Möglicherweise im ganzen Land und in ganz Mittelerde. Diese Oberflächlichkeit. Natürlich ist es schöner und angenehmer, nicht über die Fehlgeburt zu reden, aber es muss doch getan werden! Wie sonst soll sie es verarbeiten können?"
Mit glühenden Wangen starrte sie mich wütend an. "Ich möchte, dass du gehst", ergänzte sie dann sehr viel leiser und gefasster. "Esst heute Abend ohne mich."
Mit zitternden Knien verließ ich ihr Zimmer und sank neben ihrer Tür schwer atmend zu Boden.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top