Kapitel 41
"Mama? Hast du gerade Zeit für mich?" Luthien streckte den Kopf zur Tür herein und lächelte zaghaft. Wenn Maethril etwas von mir wollte, riss sie einfach die Tür auf und stürmte herein, es war ihr gleich, ob sie mich bei etwas störte oder ob noch weitere Leute im Raum waren. Sie kam einfach. Luthien war da eine nette Abwechslung.
"Ich habe immer Zeit für dich, Schätzchen. Für euch alle." Eigentlich war Luthien zu alt, um Schätzchen genannt zu werden, aber ich tat es noch immer, und sie beschwerte sich nicht darüber. Leichtfüßig trat sie ein und schloss die Tür hinter sich. Wie erwachsen sie aussah, sie ähnelte bis auf die Haarfarbe immer mehr Galadwen. Sie war groß und schlank, ihre Augen waren voller Leben und Liebe und sie hatte so eine elegante Art, sich zu bewegen, die mich an meine Mutter erinnerte.
Unsicher setzte sie sich auf das Sofa und kurz entschlossen stand ich von meinem Stuhl hinter dem ausladenden Schreibtisch auf und ließ mich neben ihr nieder. Wenn sie ein Mutter-Tochter-Gespräch wollte, dann sollte sie auch ein vernünftiges bekommen.
"Was ist los, Süße. Wo drückt der Schuh?" Sie begann, an ihrem Fingernagel zu kauen und schnell zog ich ihr die Finger aus dem Mund. "Es gibt absolut keinen Grund, nervös zu sein. Und das mit dem Kauen gewöhnst du dir besser gar nicht erst an, das ist keine schöne Angewohnheit. Du und deine Geschwister könnt und konntet immer zu mir kommen, und so wird es auch immer bleiben. Ich werde dich nicht verurteilen, es sei denn, du hast einen Laden ausgeraubt."
Bei letzterem musste Luthien lächeln, ich hatte also erreicht, was ich wollte.
"Kennst du Artamir?", fragte sie leise und sah auf ihre Hände.
"Ich glaube nicht, dass ich diesen Namen schon mal gehört habe", entgegnete ich und hoffte, dass ich sie nicht unglücklich gemacht hatte. Leider schien genau das der Fall zu sein, sie schniefte leise.
"Er arbeitet in den Ställen. Er hat vor etwa einem Jahr angefangen. Ich habe ihn kennengelernt, als ich ihm nach einem Ausritt meine Stute übergab." Es war, als wollte sie noch mehr sagen, doch sie schwieg.
"Was ist mit diesem Artamir, Luthien?" Mir schwante da etwas. Und noch wusste ich nicht genau, was ich davon halten sollte.
"Ich liebe ihn, Mama. Ich liebe ihn wirklich. Er hat nur wenig Geld, aber immer wenn wir uns treffen, bringt er mir Blumen mit und wir sind einige Male zusammen ausgeritten, heimlich natürlich. Er kennt die schönsten Orte nahe der Stadt, Orte, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existieren! Seine Stimme klingt nach elbischer Musik, wie die, die wir in Bruchtal gehört haben, und er ist wunderschön. Aber Papa wird es sicherlich verbieten, Artamir kommt aus keiner guten Familie, seine Eltern sind tot und er ist ganz auf sich gestellt. Er hat eine sehr kleine Hütte, aber das Geld ist immer knapp und er wird mir nicht mehr bieten können. Ich liebe ihn, Mama. Er ist meine ganze Welt, aber ich habe mich nie gewagt, es zu offenbaren."
Sie hatte hastig gesprochen und wirkte auch jetzt noch gehetzt, ihre Wangen glühten. Meine Tochter liebte also einen Stallburschen. Prinzessin Luthien liebte Artamir, den Stallburschen. Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte mir gewünscht, dass sie einmal einen reichen und gut aussehenden Mann heiraten würde, aus einer alten und anerkannten Familie, am Besten noch mit Blut aus dem alten Numenor. Einen Kaufmann, oder einen niederen Adligen, oder vielleicht den Sohn eines Ministers. Ein Teil von mir hatte sogar gehofft, dass sie sich Theodwyns jüngeren Bruder aussuchen würde, den Erben von Ithilien, aber das war Wunschdenken gewesen. Stattdessen präsentierte sie mir einen Stallburschen. Artamir, den Stallburschen.
Ich atmete einmal tief durch. Luthien musste nicht reich heiraten. Sie konnte mit ihrem Mann für immer bei Eldarion und seiner im Familie im Palast leben, Platz gab es genug. Aber ein Stallbursche, der Aufgaben der Krone erfüllte? Ein Stallbursche bei der Öffentlichkeitsarbeit, als Mitglied im Rat, als Repräsentant in Rohan oder dem Grünwald? Das war schwer vorstellbar.
"Du sagst gar nichts, Mama", stellte Luthien ängstlich fest.
Ich hatte jetzt zwei Möglichkeiten. Ich konnte ihr all diese Dinge sagen, die ich gedacht hatte, dass er ungeeignet war, dass sie etwas Besseres verdient hatte, dass sie jemanden heiraten sollte, den man auch vorzeigen konnte, wie ihre älteren Geschwister es getan hatten. Dass ich ihre Wahl nicht billigte und sie ihn nicht mehr sehen dürfte. Oder ich erzählte ihr eine alte Geschichte.
"Ich habe dir nie erzählt, nachdem du benannt wurdest, meine Tochter. Immer bat ich deinen Hauslehrer, diese Geschichte wegzulassen, denn ich wollte sie dir selbst erzählen. Ich wusste nie, welcher Zeitpunkt geeignet sein würde, aber ich denke, dieser hier ist es. Jetzt bist du bereit. Und darum werde ich dir jetzt die Geschichte von Beren und Luthien erzählen. Sie beginnt mit Melian, einer Maia, die Valinor verließ und in Mittelerde Thingol heiratete, der König von Doriath. Die beiden hatten nur ein Kind, eine Tochter namens Luthien. Sie war die schönste Elbe, die es je gab, und hatte eine wunderbare Stimme. Alle liebten es, sie anzusehen, doch keinem ihrer zahlreichen Freier gab sie nach. Beren dagegen war ein Mensch, der Sohn des berühmten Helden Barahir, dessen Ring ich hier am Finger trage. Er kam nach Doriath und traf dort auf Luthien, die auf einer Lichtung im Wald sang und tanzte. Er war überwältigt von ihrer Gestalt und rief sie an mit Tinuviel, das bedeutet Nachtigall. Von ihrer ersten Begegnung an liebten sie sich und die Zeit, die sie zu zweit verbrachten, war sehr glücklich. Doch sie wurden an Thingol verraten, der seine Tochter niemals hergeben wollte, und er verlangte von Beren einen schier unbezahlbaren Brautpreis: Beren sollte einen der Silmaril, die Steine geschaffen von Feanor, aus Morgoths Krone schneiden und zu ihm nach Doriath bringen. Dieser stimmte zu, nannte diese Forderung sogar gering, obwohl ihm bewusst war, dass Thingol nur seinen Tod wollte. Er machte sich auf den Weg und verließ Thingols Königreich, und von diesem Tag an sang Luthien nicht mehr in Doriath. Beren kam weit, sogar bis zum Hof des Königs Felagund, doch dann wurde er von Sauron gefangen genommen und in ein Verlies geworfen. Luthien spürte die Gefahr, in der ihr Liebster schwebte, und beschloss, aus Doriath zu fliehen, und obwohl ihr Vater sie aufzuhalten versuchte, schaffte sie es letztendlich. Gemeinsam mit Huan, dem Jagdhund aus Valinor, gelang es ihr, Beren aus seinem Gefängnis zu befreien, und er schnitt einen Silmaril aus der Krone des Morgoth, wie es ihm befohlen worden war. Luthien und Beren kehrten zurück nach Doriath und Thingol wurde milde gestimmt; die beiden Liebenden durften heiraten. Kurz darauf starb Beren im Kampf, doch Mandos, der Wächter der Toten, stellte Luthien vor die Wahl, nach Valinor zu kommen oder mit Beren nach Mittelerde zurückzukehren. Sie kehrten zurück und von diesem Moment an war Luthien Tinuviel sterblich. Später bekamen die beiden einen Sohn, Dior Aranel, und als die Zeit gekommen war, schieden sie in Frieden. Wenn also du, meine Tochter, eine ähnliche Wahl triffst wie Luthien sie getroffen hat und wie ich sie getroffen habe, wenn du dich für einen Geringeren entscheidest als du es bist, dann werden dein Vater und ich hinter dir stehen und dich- euch beide- auf eurem Weg unterstützen. Denn wir wissen, worum es geht."
*Das ist natürlich nur eine ziemlich verkürzte Version der Geschichte von Beren und Luthien, aber ich wollte nicht alle Details erwähnen, sondern es sollte vor allem um den Kern gehen :)
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top