Kapitel 36

Mein Brustkorb hob und senkte sich langsam und nur sehr flach. Ich konnte mich nicht mehr genau daran erinnern, was geschehen war, nur noch an den Schmerz. Er war auch jetzt noch da, dumpf und allgegenwärtig, und mein geschundener Körper schrie nach Erlösung. Es tat weh. Es tat so weh. Was war nur geschehen? Herion hatte mein Kind aus mir herausschneiden müssen, meine Tochter. Eine zweite kleine Tochter.
"Aragorn?", flüsterte ich mit schwacher Stimme und öffnete unter Aufwendung all meiner verbliebenen Kraft meine Augen. Wo war Aragorn? Und wo waren meine Kinder? Wo war das kleine, noch namenlose Mädchen, das mich beinahe umgebracht hatte? Ich wollte sie sehen. Ich wollte meine Familie und meine Freunde um mich haben.
Als ich sah, dass der Raum leer war, bekam ich Panik, obwohl ich wusste, dass sie alle im Palast waren. Aber was war mit meiner Tochter? Sie war zwei Monate zu früh aus meinem sicheren Leib gerissen worden; was, wenn es ihr schlecht ging? Oder was, wenn sie gestorben war? Dann hätte sie mich, ihre Mutter, in ihrem kurzem Leben gar nicht kennengelernt.
"Aragorn", wiederholte ich fordernd, wissend, dass er mich ja doch nicht hören konnte. Würden meine Beine mich wohl tragen können? Langsam und unsicher setzte ich mich auf, es kostete enorm viel Kraft. Dann hob ich beide Beine nacheinander aus dem Bett und als ich stand, drehte sich der ganze Raum vor meinen Augen.
Nach Atem ringend tat ich einige kleine Schritte, dann gab ich auf und überließ meinen Körper der Bewusstlosigkeit.

"Mama? Mama! Mama, wach doch auf!" Benommen blickte ich in Galadwens furchtsames Gesicht.
"Hallo, meine Süße", krächzte ich kaum hörbar und war überrascht, dass Tränen über ihre Wangen liefen. "Alles ist gut. Ich bin wach."
"Wieso liegst du nicht im Bett?" Offensichtlich war sie mit der Situation völlig überfordert. "Ich weiß nicht, was ich tun soll- Mama..."
"Aragorn", stieß ich hervor, sie schien zu begreifen und eilte wieder davon. Sie tat mir leid.
"Mama." Das war Eldarion. Galadwen war also tatsächlich so vernünftig gewesen, ihren Bruder zu mir zu schicken. "Was machst du denn für Sachen. Papa ist mit den Nerven völlig am Ende, Tauriel auch." Er half mir beim Aufstehen und legte mich rasch wieder ins Bett. "Wie fühlst du dich? Galadwen ist komplett verwandelt. Sie saß in den letzten Tagen entweder an deinem Bett oder hat sich um die Kleine gekümmert, ist ein vollkommen neuer Mensch geworden."
"Wie geht es der Kleinen?", fragte ich atemlos und er drückte sanft meine Hand.
"Sehr gut. Sie ist natürlich sehr klein und zart und musste in den letzten Tagen von einer Amme gestillt werden- Arataniels älteste Tochter hat sich bereit erklärt- aber Herion sagt, unter den gegebenen Umständen hat sie sich hervorragend entwickelt."
In diesem Moment öffnete sich die Tür und ein Wirbel aus roten Haaren hing um meinen Hals, mein Gesicht wurde nass von Tränen, die nicht meine waren.
"Nie wieder", schluchzte Tauriel, "Nie wieder tust du mir das an, hast du verstanden? Andauernd muss ich mir Sorgen um dich machen. Bei den Valar, du kannst dir nicht vorstellen, wie ich gelitten habe, jeden Tag dachte ich, ich hätte dich verloren..."
"Jetzt ist ja alles gut", beruhigte ich sie gerührt. "Ich verspreche, ich werde es nicht wieder tun."
Tauriel nickte schniefend und trat zur Seite, sie gab den Blick auf Aragorn frei, der mit leuchtenden Augen in der Tür stand und eine Decke in der Hand hielt.
"Ich schließe mich Tauriel in allem an, was sie gesagt hat, werte Gemahlin. Noch einmal machst du das nicht. Und jetzt zeige ich dir deine Tochter." Mir wurde klar, dass die Decke nicht nur eine Decke war, sondern dass sich auch noch ein Säugling darin befand. So klein war sie?
Meine Vorstellung wurden der Realität nicht im Mindesten gerecht. Sie war nicht klein, sie war kleiner. Sie war winzig. Ihre Ärmchen und Beinchen waren kurz und dünn und sie wirkte, als könne ich sie jederzeit zerbrechen, wenn ich nicht vorsichtig genug war. Mein Herz begann zu rasen, es erinnerte mich an meine Gefühle kurz nach Eldarions Geburt. Eine falsche Bewegung und ich tat ihr weh, was würde geschehen, wenn ich einen Fehler machte?
"Es geht ihr gut", beruhigte Aragorn mich. "Glaub mir. Sie wird von uns allen gut versorgt, und ihr fehlt nichts. Sie ist sehr klein und sehr schwach, aber sie ist auch tapfer. Herion sieht jeden Tag nach ihr und versorgt sie mit Medizin, Galadwen verbringt jede freie Minute mit ihr und ich habe die letzten Nächte nicht geschlafen, um sie zu überwachen."
"Ich habe Angst."
"Das musst du nicht." Tauriel legte sich neben mich und legte einen Arm um mich. Sie sah blass und übernächtigt aus, ihre Augen waren gerötet, als hätte sie in den letzten Tagen oft geweint. Es musste die Hölle für sie sein; einst hatte sie selbst ihr Kind verloren, weil es zu früh geboren worden war, und jetzt, als sie gerade dachte, sie hätte es vollständig überwunden, flammte alles wieder auf und ein weiteres Kind wurde zu früh geboren. Als sie meinen Blick erwiderte, lächelte sie erkennend, als wisse sie, welche Gedanken mich gerade beschäftigten. "Mach dir keine Sorgen um mich, Legolas ist für mich da. Ganz ehrlich. Du solltest gerade nicht an mich denken, sondern an dich und dein kleines Mädchen." Ich nickte langsam, doch das schien sie nicht zu überzeugen. "Weißt du noch, wie du damals in Lothlorien immer zu mir gesagt hast, dass ich mich ständig für alles Übel in der Welt verantwortlich mache? Diesen Charakterzug solltest du nicht von mir übernehmen. Gerade geht es überhaupt nicht um mich. Nur du bist wichtig."
"Hat sie schon einen Namen?", fragte ich als Ablenkung in die Runde und Galadwens Augen begannen zu strahlen.
"Noch nicht", antwortete sie an Aragorns Stelle, "Wir alle haben über Namen nachgedacht, aber wir wollten auf dich warten, Mama."
"Was gab es denn für Vorschläge?" Dieses Mal richtete ich das Wort direkt an sie, denn ich merkte, dass sie glücklich war. Dass es ihr gut tat, gebraucht zu werden, bei einer wichtigen Sache zu helfen. Vielleicht hatte ich meine Tochter all diese Jahre verkannt, ihr unrecht getan. Vielleicht sorgte diese Situation dafür, dass eine ganz andere, bisher verborgene Seite zum Vorschein kam.
"Na ja, es gäbe natürlich die Möglichkeit, sie nach jemandem zu benennen, der in eurem Leben früher eine wichtige Rolle gespielt hat, so wie ich ich nach Galadriel benannt worden bin. Tauriel dachte an Celebrian, Papa an Gilraen. Eldarion hat Eowyn vorgeschlagen, aber mit ihr hast du ja nicht allzu viel zu tun. Andere Vorschläge waren Anaria nach Anarion, Beruthiel, Earwen und Elwing."
"Welchen Namen findest du am schönsten?, erkundigte ich mich und das Leuchten in Galadwens Augen vertiefte sich. Kurz sah sie unsicher zu ihrem Vater, der ihr liebevoll zunickte.
"Ich finde keinen der Namen wirklich passend. Celebrians Schicksal ist zu schrecklich gewesen, als dass man ein Kind nach ihr benennen sollte, außerdem würde dieser Name dich tagtäglich an sie erinnern. Ich heiße wenigstens Galadwen, das ist nicht ganz wie Galadriel. Gilraen ist früh gestorben und du kanntest sie kaum, und ich finde, dass beide eine Verbindung zu dem Namen spüren müssen. Anarion und Beruthiel hatten beide etwas mit der Geschichte Gondors zu tun, aber ich finde ihren Klang nicht besonders schön. Earwen ist deine Urgroßmutter, aber keiner von uns hat sie jemals kennengelernt, weil sie Mittelerde nie betreten hat. Und Elwing... Soweit ich weiß, war sie zeit ihres Lebens unglücklich, weil ihr Mann so selten bei ihr war. Nein, ich hatte an einen ganz anderen Namen gedacht, aber den fanden die anderen nicht so toll..."
"Ich würde ihn sehr gerne hören."
Sie sah mich an und ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. "Luthien", flüsterte sie. "Ich fände Luthien wirklich sehr schön."
Ich spürte, wie mir ganz warm wurde. Erneut warf ich einen Blick auf das kleine Bündel in Aragorns Armen und es fühlte sich richtig an. Luthien. Ich war das Ebenbild Luthiens, die Wiedergeburt dieser berühmtesten aller Elben, und Aragorns und mein Schicksal glich dem von Luthien und Beren. Was gab es passenderes, als unser Kind nach ihr zu benennen?
Ich sah zu Aragorn und er erkannte schnell, dass ich begeistert war. Ergeben tauschte er einen belustigten Blick mit Tauriel, die den Namen ebenfalls etwas zu theatralisch zu finden schien, und nickte.
"Wenn es das ist, was du wünschst, dann soll unsere Tochter Luthien heißen."
Ich schlang meine Arme um Galadwen, mein Mädchen, zu dem ich so lange keinen Zugang gehabt und die ich nun endlich erreicht hatte, und sah, dass Tränen über ihre Wangen strömten.

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