Kapitel 35
Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, als ich in einer dunklen Winternacht zwei Monate vor dem ausgerechneten Geburtstermin meines Kindes aufwachte und es einfach nur wehtat. Ich kannte diesen Schmerz, ich hatte ihn schon zwei Mal durchgestanden. In Wellen überkamen mich die Wehen. Es war zu früh. Es war zu früh, ich konnte jetzt kein Kind bekommen. Ich hatte noch zwei Monate und auf diese wollte ich nicht verzichten.
Ein Bild schoss mir durch den Kopf, das ich länger verdrängt hatte, um es nicht täglich ertragen zu müssen: Tauriels Fehlgeburt. Das viele Blut. Und die hoffnungslose Verzweiflung in ihren Augen. Das wollte ich nicht erleben. Wir alle hatten bereits genug durchgemacht, wir fünf hatten so vieles ertragen müssen. Keine zweite Fehlgeburt.
Natürlich, bei Tauriel war es viel früher gewesen, die erste Hälfte der Schwangerschaft war gerade erreicht gewesen. Aber dennoch- bei meinem Glück würde mir jetzt das Gleiche passieren. War ein Kind, das zwei Monate zu früh kam, schon lebensfähig? Ich hatte keine Ahnung. Obwohl ich zwei Kinder geboren hatte, wusste ich rein gar nichts über Geburten und die Zeit davor und danach. Ich konnte eine gute Mutter sein, das hatte ich gelernt, aber ich wusste nichts über die Entwicklung von Säuglingen. Dazu hatte ich immer die Heiler gehabt.
"Aragorn?", stöhnte ich und rüttelte an seiner Schulter. "Aragorn. Etwas stimmt nicht." Ich hörte ihn gähnen und tat erleichtert einen tiefen Atemzug.
"Arwen? Was ist denn?"
"Ich habe Wehen." Er setzte sich kerzengerade im Bett auf und starrte mich an. "Ich habe Wehen, Aragorn."
Ich wusste, dass er nun ebenfalls an Tauriels verstorbenen Sohn dachte, den er und ich gemeinsam hinterm Palast neben Königen und Statthaltern aus längst vergangenen Zeiten beerdigt hatten, nachdem Tauriel Minas Tirith verlassen hatte. Ein winziges, blutiges Bündel mit einem Flaum roter Haare, dessen Augen sich noch nicht geöffnet hatten. Eine weitere Woge des Schmerzes überkam mich und ich keuchte auf.
"Du musst etwas tun. Du musst Herion holen oder Tauriel oder irgendjemanden... Sonst gibt es keine Hoffnung mehr." Wie in Trance starrte er mich weiter an, als hätte der Schock ihn benommen gemacht. "Aragorn! Ich holte aus und gab ihm eine Ohrfeige, die andere Hand presste ich auf meinen Bauch. "Wenn du jetzt nicht gehst, weiß ich nicht, ob ich das hier überleben werde."
Er sprang vom Bett auf und stürzte aus dem Raum, erleichtert sank ich zurück in die Kissen. Etwas stimmte in der Tat ganz und gar nicht. Ich hatte schon zwei Kinder geboren und die Schmerzen waren unmenschlich gewesen, doch dieses Mal war es anders. Es schien mich von innen zu zerreißen.
Als ich ungefähr zwanzig Jahre alt gewesen war, immer noch ein halbes Kind, hatte ich mit meiner Mutter im Garten gesessen und sie hatte mir Geschichten erzählt. Ihre Geschichten waren das, was ich von ihr am lebhaftesten in Erinnerung hatte, denn sie war eine großartige Erzählerin gewesen. An diesem Tag hatte sie mir von Gondolins Fall erzählt, sie sprach in verschiedenen Stimmlagen, gestikulierte wie wild und bezog mich auf eine großartige Weise in die Geschichte mit ein. Ich fühlte mich, als sei ich dabei gewesen.
Gerade sprach sie davon, wie Tuor seine Ehefrau Idril aus den Trümmern der Stadt gerettet hatte, da presste sie auf einmal die Hand auf ihren Bauch und krümmte sich.
"Naneth?", fragte ich erschrocken, nur ein kleines, verängstigtes Mädchen.
"Es ist alles gut, mell nin (mein Schatz)", stöhnte sie, doch Blut floss ihre Oberschenkel hinunter und sie war ganz bleich. "Vielleicht holst du Ada her, das wäre sehr lieb."
Ich sprang auf und rannte in die große Bibliothek, in der Ada sich mit seinen Beratern, darunter auch Glorfindel und Erestor, zu seinen täglichen Sitzungen traf.
"Ada! Ada!" Es war mir unangenehm, einfach zu unterbrechen, denn das mochte Ada nicht und seine Freunde sahen mich dann immer so seltsam belustigt an.
"Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht herkommen, Arwen", meinte er streng.
"Naneth hat Aua."
Sofort stand er auf, so heftig, dass sein Stuhl polternd zu Boden fiel, und kniete neben mir nieder. "Wo ist Naneth, Arwen? Du musst mich jetzt ganz schnell zu ihr bringen. Schaffst du das?"
"Schaffe ich." Seine hektische Reaktion machte mir noch mehr Angst. Ich nahm ihn bei der Hand und wir rannten zusammen in den Garten.
Meine Mutter saß nicht mehr auf der Bank, sondern lag regungslos auf dem Boden, weiß wie die Wand in meinem Spielzimmer. Ihr Kleid war nicht mehr weiß, sondern rot, überall rot. Ada legte ihr eine Hand auf den Rücken und auf die Stirn, dann öffnete sie ihre Augen und er half ihr beim Aufstehen. Instinktiv wusste ich, dass ich nicht freudig zu ihr laufen sollte. Sie sprachen schnell und im Flüsterton miteinander und ich verstand nur ein einziges Wort: Fehlgeburt. Ich wusste nicht, was es bedeutete.
Langsam und traurig, obwohl ich wusste, dass es meiner Mutter gut ging, schlich ich in mein Zimmer, legte mich auf mein Bett und dachte darüber nach, was eine Fehlgeburt sein könnte.
"Arwen? Du musst aufwachen. Wach auf, komm schon!" Aragorns Stimme klang verzweifelt.
"Ich kann das nicht nochmal erleben. Das ist zu viel. Ich muss hier raus." Tauriel?
Heftig nach Atem ringend riss ich die Augen auf und fühlte nichts als Schmerz. "Meine Mutter hatte eine Fehlgeburt", stieß ich hervor, und Aragorn griff nach meiner Hand.
"Unser Kind lebt. Hörst du, Arwen, es ist am Leben. Herion sagt, es geht ihm gut. Aber es ist zu schwach, um aus eigener Kraft geboren zu werden. Er muss es herausholen."
Ich starrte ihn an, unfähig zu sprechen. Dann nickte ich, und nur eine Sekunde später flammte knapp oberhalb meiner Hüfte ein solcher Schmerz auf, dass ich Aragorns Hand losließ, um ihm nicht noch einmal etwas zu brechen. Langsam begriff ich; es herauszuholen bedeutete, es aus mir heraus zu schneiden. Mir schauderte.
Ich hörte ein Schreien, viel schwächer als bei Eldarion und bei Galadwen, eher ein Wimmern.
"Es ist ein Mädchen", meinte Aragorn begeistert und wollte meine Hand drücken, doch ich konnte meinen Arm nicht heben. Meine Augenlider flatterten.
"Sie hat viel zu viel Blut verloren", murmelte Herion besorgt. "Es tut mir sehr leid, mein König, aber ich weiß nicht, ob ich sie retten kann. Und wenn ich es kann, wird sie eine weitere Geburt auf keinen Fall überstehen."
Dann umfing mich Dunkelheit.
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