Kapitel 28- Tauriel

Der Wind rauschte leise durch die Blätter der Bäume in Lothlorien. Früher war Tauriel dieses Geräusch vertraut vorgekommen, es hatte sie beruhigt und ihr oftmals beim Nachdenken geholfen, doch nun empfand sie nichts. Sie spürte nichts, keine Trauer und keinen Schmerz, rein gar nichts. Die Stelle, wo sich einst ihr Herz befunden haben musste, war leer und zu keiner Regung mehr fähig.
Sie war nun nah an der Hauptstadt, ihrem geliebten Caras Galadhon. Sie hatte diesen Ort mehr geliebt als jeden anderen Platz in Mittelerde, mit den goldenen Mallorn-Bäumen, den eleganten und reich verzierten Gebäuden und dem Lebensgefühl, das er ausstrahlte. Wer hier hinkam, war auf der Suche nach dem Glück gewesen und hatte es gefunden. Hier konnte man nicht lange traurig sein. Man wurde mitgerissen von dem sprudelnden Leben und dem Wunsch, alles zu genießen. Nun waren die Mallorn-Bäume ungepflegt und die Blätter hatten ihren Glanz verloren, die Gebäude standen leer und kein perlendes Lachen ungestümer und lebenslustiger Elben drang mehr zwischen den Bäumen hervor. Alles war still, denn nicht einmal die Vögel waren geblieben. Hin und wieder hörte man eine heisere Vogelstimme, aber das war ein Einzelgänger, und er konnte das Glück nicht zurückholen.
Sturmfunke schnaubte leise, als sie auf der Lichtung ankamen, auf der sich einst Tauriels ganzes Leben abgespielt hatte. Dort war das Gebäude, in dem ihr Zimmer gewesen war, weiter hinten die Bibliothek mit den vielen Büchern, die ihre erste Möglichkeit dargestellt hatten, etwas zu lernen, und dort, beinahe gänzlich zugewachsen von Birken und Eichen, war der Grüne Pavillon. Ihr Grüner Pavillon, wo sie jeden Tag mit Galadriel, Celeborn und Arwen gesessen, geredet und gelesen hatte.
Sie sprang vom Pferd und kämpfte sich durch die wirren Äste bis zum Pavillon vor, öffnete die Tür und ließ sich auf der Bank nieder, auf der sie immer mit Arwen gesessen hatte. Bedächtig strich sie über das alte, abgegriffene Holz, über das ihre Finger früher so oft geglitten waren, und eine Träne rann über ihre linke Wange.
Sie hatte nicht geweint, seit es passiert war. Kein einziges Mal, und sie hatte nicht einmal das Bedürfnis danach verspürt. Der einzige Ort, an dem sie in ihrem alten Leben- bevor ihr Sohn gestorben war- manchmal geweint hatte, war Lothlorien gewesen. Der Ort, an dem ihre wahren Gefühle an die Oberfläche rückten. Auch dieses Mal war es so. Hier hatte sie gelernt, dass man sich nicht verstellen musste, nein, es noch nicht einmal tun sollte, und dass es am wichtigsten war, dass man sich selbst zu jedem Zeitpunkt akzeptierte und gefiel.
Das Weinen überkam sie wie eine Welle, sie verlor den Halt und merkte, wie sie fiel. Unter sich spürte sie das Holz, über sich waren nur das Dach des Pavillons- sie hatte nie darauf geachtet, dass es nicht grün war, wie die anderen Teile des Pavillons, sondern dunkelrot, wie Blut- und der Himmel. Alles kam ihr vertraut vor, nur sie selbst nicht.
Als Tauriel sich wieder aufsetzte, sah sie plötzlich auf der gegenüberliegenden Bank einen cremefarbenen Umschlag, so wie Galadriel ihn immer für offizielle Briefe an wichtige Verbündete verwendet hatte, und griff neugierig danach. Ihr Herz schlug schneller, als sie sah, dass in Galadriels geschwungener Schrift ihr Name darauf stand.

Meine liebe Tauriel,
Dass du hier bist, bedeutet, dass dir etwas zugestoßen ist. Dass du aus Minas Tirith geflüchtet und hierher gekommen bist, um deine Gedanken zu sammeln und eine Auszeit zu nehmen. Vielleicht hast du dich mit Aragorn gestritten, oder mit Legolas oder Arwen. Oder vielleicht ist dir einfach alles über den Kopf gewachsen, denn Elrond hat in deiner Zukunft nicht nur helle Tage gesehen. Was auch immer es ist, du sollst wissen, dass ich mit dir fühle.
Manchmal hat man das Gefühl, dass es nie wieder besser werden kann, und das die schlimmen Dinge, die jedem passieren, einen nie wieder loslassen, aber das ist nicht die Wahrheit. Ich habe ein langes und erfülltes Leben gehabt, in Valinor und in Mittelerde, und denke darum, dass ich erfahren genug bin, um das zu beurteilen. Es gibt Zeiten, in denen man die Hoffnung verliert, aber es gibt immer Hoffnung. Das weißt du selbst am besten, liebes Kind. Oft hast du es erfahren müssen. Aber du darfst nicht verzweifeln, wie schlimm es auch sein mag, sondern bewahre das Licht in deinem Herzen, das aus dir selbst scheint und immer scheinen wird.
Befindest du dich derzeit in einer wirklich furchtbaren Situation, die du alleine nicht durchstehen kannst und wirst, so gehe zu meinem Spiegel. Es ist noch ausreichend Wasser für eine Vision darin, und ich habe sie nur für dich vorbereitet.
Ich denke jeden Tag an dich, Tauriel, das habe ich immer getan.
In Liebe
Deine Galadriel

Tauriel sprang ohne zu zögern auf und eilte zu Galadriels Spiegel, dem geweihten Boden Caras Galadhons. Galadriel hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ihr so etwas zustoßen würde, dass sie ihr Kind verlieren würde, bevor Legolas überhaupt von seiner Existenz gewusst hatte, sprach sie doch von Streits. Sie hatte mit Aragorn, Legolas und Arwen gestritten, und jedes Mal hatte es sie zerrissen, doch nun erschienen solche Dinge ihr harmlos im Vergleich zu dem, das sie erlebt hatte. Nachdem sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt und fast verloren hatte, um Mittelerde zu retten, hatte man ihr ihren Sohn genommen.
Respektvoll schöpfte sie Wasser aus dem steinernen Becken und goss es langsam zurück. Sie wusste nicht ganz, was sie erwarten sollte, was konnte man ihr schon zeigen, das sie aufmuntern würde? Ein Wirbel ergriff sie und ihr wurde furchtbar schwindelig, dann war es, als würde sie durch die Luft schweben.
"Ich wusste nicht, dass du schon so bald von meinem Angebot Gebrauch machen würdest", hörte sie eine vertraute Stimme, sie riss die Augen auf und erkannte Galadriel. Sie sah jung aus, als hätte sie niemals irgendwelche Sorgen gekannt, ihr Gesicht strahlte und ihre Augen hatten ihren Ausdruck nicht verändert. Normalerweise hätte Tauriel sich in ihre Arme geworfen, das Gesicht in ihrem goldenen Haar vergraben und vor Freude geweint. Doch sie war schwach von den körperlichen Strapazen der Fehlgeburt, sie hatte in den letzten Wochen zu wenig gegessen und geschlafen und ihr Herz fühlte sich an, als wäre es in Milliarden kleine Splitter zersprungen. Man hatte ihr genommen, wonach sie sich so sehr gesehnt hatte.
"Galadriel", stieß sie einfach nur hervor, ihre Stimme klang brüchig und erschöpft. "Wie ist das möglich?"
"Diese Begegnung ist ein Geschenk der Valar", erwiderte diese und zog sie an sich. "Wir können sehr glücklich sein, dass es uns zuteil wurde. Erzähl mir alles; wie geht es dir? Wie geht es Arwen?"
Und sie erzählte, von Eldarion, von Arwens anfänglichen Schwierigkeiten und wie sie es geschafft hatte, eine gute und vom Volk geliebte Königin zu werden, sie erzählte von Legolas' und ihrer Hochzeit im Grünwald. Es verging bestimmt eine Stunde, in der sie nur erzählte, von allem, nur von einem Ereignis nicht. Galadriel hatte Tränen in den Augen vor Glück- sie konnte Celebrian erzählen, dass sie Großmutter geworden war- und schien sehr berührt.
"Es freut mich, dass es euch so gut geht", meinte Galadriel nach einem kurzen Moment des. Schweigens, "Das ist alles, das ich mir jemals erwünscht habe."
"Und was hast du so erlebt?", fragte Tauriel schnell, damit die Sprache nicht auf das Thema Kinder käme.
"Ach, hier drüben vergeht ein Jahr wie ein Wimpernschlag. Wir alle haben schöne große Häuser bezogen und sind den ganzen Tag zusammen. Eine Sache ist allerdings zu berichten-" Plötzlich strahlten ihre Augen- "Elrond und Celebrian haben noch ein Kind bekommen!" Die gerade halbwegs geschlossene Wunde in Tauriels Herzen riss innerhalb von einer Sekunde wieder auf und sie keuchte auf vor Schmerz, als tatsächlich ein Reißen durch ihren ganzen Körper fuhr. Galadriel schien es falsch zu deuten und wertete es als Begeisterung. "Ich weiß, es ist so wundervoll! Es ist ein Sohn, sein Name ist Eriven und wir alle fühlen uns durch ihn wieder jünger und lebenslustiger."
Galadriel sprach weiter, sprach von großen Augen und lockigem Haar und vom großen Glück.
Tauriel stellte sich vor, wie Legolas sie angesehen hätte, hätte er bemerkt, dass sie schwanger war. Sie sah den Ausdruck in seinen Augen vor sich, das Lächeln, das seine Lippen umspielt hätte, wie er seine Hand auf ihren Bauch und ihre Hand auf sein Herz gelegt hätte.
"Galadriel", flüsterte sie, "Ich habe mein Kind verloren."
Galadriel senkte für einen Moment den Kopf, als sie wieder aufsah, waren ihre Augen schmerzerfüllt. "Ich weiß. Mein armes, liebes Kind, ich weiß. Und es tut mir so wahnsinnig und ausgesprochen leid, dass ich es nicht in Worte fassen kann. Es tut mir so leid."
Sie zog sie an sich und strich über ihren Kopf. "Du hast es gewusst?", stieß Tauriel hervor.
"Natürlich. Elrond und ich haben weit in euer aller Zukunft geblickt, und wir sind immer bei euch gewesen."
"Warum hast du mir das nicht gesagt? Mich nicht vorgewarnt?"
"Hätte ich das tun sollen? Damit du und Legolas niemals beieinander gelegen hättet, aus Angst, dass du schwanger wirst? Du hättest den Rest deines Lebens in Traurigkeit verbracht, weil du dich jeden Tag fragen würdest, was gewesen wäre, wenn, doch so kannst du in einigen Monaten oder in einigen Jahren damit abschließen. Ich habe nur das Beste im Sinn gehabt."
"Jeder Tag ist eine Bürde."
"So ist es, anfangs. Aber mit jedem Tag wird es besser, du wirst weniger leiden, weniger daran denken. Das kann ich dir versprechen." Mit einem Mal legte Galadriel sich die Hand auf den Bauch. "Unsere Zeit geht zu Ende. Das nächste Mal werden wir uns in Valinor sehen. Erzähle Arwen, was ich dir erzählt habe, und verzweifle nicht an dem, das geschehen ist. Verliere niemals die Hoffnung, denn sie ist deine größte Stärke."
Noch einmal zog Galadriel sie an sich und küsste sie sacht auf die Stirn, dann ergriff Tauriel der gleiche Wirbel wie vorhin und sie wurde zurück nach Lothlorien gezogen.
"Tauriel!" Jemand fing sie auf und presste sie an sich, so fest, dass sie kaum atmen konnte.
Legolas.

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