Kapitel 2

Aragorn war verständnisvoll. Er war es wirklich, und ich vermutete, dass es ihn viel kostete. Er war jetzt König, sein Leben hatte sich von Grund auf geändert- der Waldläufer ihn im hatte weder Platz noch Verwendungszweck mehr- und an diesem Abend musste er sich noch mit einer verzweifelten Ehefrau herumschlagen.
Als Königin erwartete man so einiges von mir- repräsentative Auftritte, eigene Projekte, um Schwächere zu unterstützen, ein schönes Lächeln und einen Thronerben. Das war mir bewusst gewesen, doch ich hatte nicht erwartet, dass mein Volk keinerlei Rücksicht auf private Verluste zu nehmen gedachte. Und ich hatte einen Verlust erlitten, den schlimmsten meines Lebens- ich war nicht bereit, sogleich wieder in den Alltag zurückzukehren. Und so hatte Aragorn heute den ganzen Tag mit ehemaligen Beratern des Statthalters diskutiert, um eine neue Regierung zu begründen. Stolz hatte er mir seine Pläne gezeigt; einen Rat alteingesessener, weiser Männer, der ihm in politischen Fragen zur Seite stehen würde, und eine Zusammenkunft aus Ministern, die für verschiedene Bereiche des Staatshaushaltes zuständig sein würden. Ich wusste, dass Tauriel, Legolas und Gimli ihm dabei geholfen hatten, denn Tauriel war heute kurz vorbeigekommen, um zu fragen, ob ich etwas brauchte. Sie kannte mich, vielleicht sogar besser, als Aragorn es tat, und wusste, dass ich einfach allein sein musste. Reden und Gesellschaft würden meine Familie auch nicht zurückbringen.
Was mich betraf, ich hatte den ganzen Tag auf einem königlich großen Bett gesessen und entweder geweint oder vor mich hingestarrt. Ich hatte nichts gegessen, meine wirklich entzückenden Dienerinnen fortgeschickt, sobald sie das Zimmer betreten wollten, und einfach nur geschwiegen. Als Tauriel gekommen war, hatte sie wissend genickt, sich neben mich gelegt und meine Hand gehalten. Ich weinte und sie weinte auch, gemeinsam gedachten wir Galadriel, Celeborn und Elrond, die Mittelerde für eine bessere Zukunft verlassen hatten. Doch dann musste sie wieder gehen, ich war erneut allein mit meinem Schmerz, meinen traurigen Gedanken und meiner Sehnsucht, für die ich mich selbst hasste.
"Du musst essen", sagte Aragorn sanft. "Bitte, du musst. Tu mir diesen Gefallen, Arwen. Ich mache mir Sorgen um dich."
Gedankenverloren wies ich die Schüssel mit dem seltsamen Essen ab, das mir fremd erschien, Kartoffeln und ein viel zu großes Stück Fleisch ohne Gemüse und auf einem zweiten Teller kein Obst, sondern eine mir unbekannte, intensiv duftende Masse, die meine Dienerinnen mir als Karamellcreme präsentiert hatten. Diese Menschen verhielten sich in einigen Dingen durchaus komisch.
"Ich habe mich nicht falsch entschieden", überlegte ich fest, "Auf keinen Fall. Ich werde immer an deiner Seite sein, zusammen werden wir ein wundervolles, erfülltes Leben führen. Ich habe mich nicht falsch entschieden, das kann mir niemand einreden."
"Erstens redet niemand dir das ein, all unsere Freunde stehen vollkommen hinter dir, und zweitens bist du bei mir. Du bist bei mir, wir sind allein, das Bett ist riesengroß- und das kann niemals falsch sein."
Seine Augen funkelten und ich betrachtete ihn zugleich vorwurfsvoll und amüsiert. Er wollte mich ablenken und das war sehr lieb von ihm- aber dieses offene Gerede über bestimmte Dinge war mir als Elbe völlig fremd.
"Wir können mit einem Kuss anfangen", erwiderte ich, bemüht, in sein Spiel mit einzusteigen. Ich war dazu erzogen worden, vorzugeben, alles wäre gut, also konnte ich das auch jetzt schaffen.
"Einen besseren Anfang kann ich mir nicht vorstellen." Er lachte, als er mich in den Arm nahm und mit unter die seidenweiche Decke zog, und ich lachte auch, doch die Tränen, die ich nicht zurückhalten konnte, bemerkte er nicht.

Am nächsten Morgen frühstückten wir alle gemeinsam in dem geräumigen Esszimmer, das sich neben dem Thronsaal befand und in dem bestimmt an die 50 Leute Platz finden würden. Dennoch war das nicht der Raum, in dem Feste gefeiert wurden- der lag ein Stockwerk tiefer und bot angeblich Raum für die ganze Stadt. Auch in Bruchtal und Lothlorien waren Feste gefeiert worden, doch niemals Feste dieser Dimension. Noch etwas, das neu für mich war.
Es war das erste Mal, dass ich etwas trug, das für eine Königin angemessen war- während unserer Reise zu den Grauen Anfuhrten hatten alle Näherinnen der Stadt insgesamt 100 Kleider und Roben für mich angefertigt und arbeiteten beständig an neuen. Eine meiner sieben Dienerinnen, zu denen Aragorn mich gezwungen hatte, denn ich hielt schon zwei für mehr als genug und war außerdem ganz hervorragend in der Lage, mich selbst anzuziehen, hatte sie mir heute Morgen präsentiert; ihr Name war Urwen und sie hatte mir zu einem wallenden Kleid aus schimmernder Seide geraten, dessen hellblaue Farbe angeblich ganz wunderbar zu meinen Augen passte. Ich hoffte, sie würde nicht jeden Morgen so übertreiben. Ein anderes Mädchen hatte meine Haare zu einem wahrlich kunstvollen Zopf geflochten und mit einer zwar kleinen, aber sehr eleganten Krone geschmückt. Ich hatte immer auf meine Kleidung geachtet, aber so viel Aufwand nicht einmal am größten Festtag betrieben. Und heute war ein ganz normaler Tag.
Ich setzte mich neben Tauriel, die mitfühlend meine Hand drückte. Ich hatte keine Gelegenheit gehabt, wirklich mit ihr zu reden, sie war die ganze Zeit beschäftigt gewesen. Mir wurde klar, dass ich mir diese Zeit würde nehmen müssen, denn ab morgen, sobald wir Eomer, Faramir und Eowyn verabschiedet hatten, war mein Tag genauso durchgeplant wie Aragorns. Vielleicht sollte ich eine Sprechstunde für meine Freunde einrichten.
Heute würden uns die Hobbits verlassen. Keiner der drei hatte sich von Frodos plötzlichem und für sie vollkommen unerwartetem Entschluss, Mittelerde zu verlassen, erholen können- wenigstens ihnen ging es genauso wie mir- und darum war es gut für sie, nach Hause zu kommen. Dort würden ihre Seelen heilen können, wenn man ihnen Zeit und Ruhe erlaubte. Dieses Privileg hatte ich nicht.
Während des Frühstücks sprachen wir alle nur wenig; die Hobbits saßen stumm mit traurigen Gesichtern da und stocherten in ihrem Essen herum- Ei. Ei zum Frühstück?! Ich vermisste Lembas-Brot- und von dieser Stimmung wurden alle angesteckt. Normalerweise war es meine Aufgabe, die Situation aufzulockern und Konversation zu betreiben, aber heute verzichtete ich darauf. Das würde ich noch oft genug tun müssen, wenn Aragorn mit Leuten speiste, die er eigentlich gar nicht sehen wollte. Wenigstens damit hatte ich Erfahrung.
Nach dem Frühstück begleiteten wir Sam, Merry und Pippin zu den Ponys, die Aragorn ihnen geschenkt hatte, und sahen ihnen zu, wie sie sie bestiegen. Sam bemühte sich zu lächeln und ich lächelte sanft zurück. Es war das erste Mal, dass ich mich nicht dazu zwingen musste; er war mir mehr als die anderen ans Herz gewachsen und ich hoffte, dass er im Auenland glücklich werden würde. Dass er vergessen könnte. Merry und Pippin lächelten nun auch, und um sie machte ich mir weniger Sorgen. Sie schienen die Gabe zu haben, aus jeder Situation etwas Positives zu ziehen und sich trotz allem nicht unterkriegen zu lassen.
"Auf Wiedersehen, meine kleinen und lieben Freunde", meinte Aragorn, und ich wusste, dass ihm das Herz schwer war. Die drei und natürlich auch Frodo waren ihm sehr wichtig und er hatte mit dem Gedanken gespielt, sie ins Auenland zu begleiten, um eine sichere Reise zu garantieren, doch seine Pflichten hatten es unmöglich gemacht. "Möget ihr im Auenland auch ohne Frodo glücklich werden- und ich hoffe, dass sich unsere Wege bald wieder kreuzen."
"Wir werden euch und eure Fröhlichkeit sehr vermissen", sprach ich weiter, obwohl diese Worte zu dieser Zeit alles andere als wahr waren. Doch Aragorn hatte mir erklärt, was ich sagen sollte und etwas anderes war uns beiden nicht eingefallen. "Und niemals wird Gondor vergessen, welch wichtige Rolle die Hobbits im Ringkrieg gespielt haben."
Ich hatte mich mit Gondor zu personifizieren. Aragorn und ich waren Gondor, wir waren jeder einzelne Bewohner vom kleinsten Kind bis zum ältesten Greis. Es war schwer. Sie dachten anders als ich, verhielten sich anders, sie aßen ja sogar anders. Aragorn schien zu merken, was ich dachte, denn er ergriff meine Hand und hielt sie fest. Ich wusste, was er ausdrücken wollte, und er hatte recht: Solange er hier war, war alles andere unwichtig. Ich würde mich an Gondor gewöhnen und ich würde es lieben, sobald die Trauer um Vater, Großmutter und Großvater nicht mehr so frisch war. Ich würde es schaffen. Wir würden es schaffen. Mein Volk liebte, achtete und bewunderte mich, meine Schönheit, mein Lachen und meine Abstammung, niemand wollte mir etwas böses. Wir würden es schaffen.

Am Nachmittag, nach einem schönen Spaziergang im Garten des Palastes mit Tauriel, rief Aragorn  das ganze Volk, das sich noch in Minas Tirith befand, zusammen. Er hatte mir beim Mittagessen, das ausnahmsweise nur wir beide zusammen gegessen hatten, verraten, worum es ging, und ich war wirklich gerührt. Aragorn hatte gemerkt, dass Tauriel und ich nur wenig Zeit miteinander verbracht hatten und ihm war klar geworden, dass sich das nicht ändern würde, also hatte er ein Amt geschaffen, das nicht besser zu ihr hätte passen können. Sie würde meine Leibwächterin werden und noch hatte ihr niemand ein Wort verraten.
"Volk von Gondor, Einwohner von Minas Tirith!", rief er, ich stand neben ihm und alle jubelten uns zu. "Ich habe euch alle rufen lassen, um ein wichtiges Amt zu ernennen, das für mein Königreich notwendig sein wird." Er und ich wussten, dass das nicht unbedingt so war. Ich hatte nicht vor, in irgendwelchen Schlachten zu kämpfen, falls es solche geben würde- ich hoffte es nicht- und zumindest derzeit war es nicht zu erwarten, dass jemand unseren Palast stürmen würde. Ich sah zu Tauriel, sie wirkte völlig verwirrt und sogar besorgt, um welches Amt es sich handeln könnte. Mein Lächeln vertiefte sich. "Ich bin der erste König von Gondor seit langer Zeit und nicht jeder wird mir so zujubeln, wie ihr es dankenswerterweise tut, und ich bin mir bewusst, dass ich Feinde haben werde. Diesen Umstand akzeptiere ich, denn auch ihr werdet nicht alle meine Entscheidungen gutheißen und möglicherweise über mich schimpfen, doch niemals, niemals soll meine Frau davon bedroht sein." Er atmete einmal tief durch, um seine Fassung wiederzugewinnen, und ich hielt seine Hand noch fester. Ich spürte, wie eine Träne über meine Wange rollte, so sehr hatte er mich gerührt. Er schien sich wirklich große Sorgen zu machen, größer, als ich es vermutet hatte, und es schien ihn sehr zu beschäftigen. "Darum ernenne ich nun eine Leibwächterin für Arwen Undomiel, Tochter von Elrond und Celebrian aus Bruchtal, Wiedergeburt Luthiens und Abendstern ihres Volkes. Tauriel, tritt vor." Tauriel errötete und sah kurz zu mir, ich nickte aufmunternd. Es war das Richtige. Ich wusste es. Sie trat vor und mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich hatte immer gewusst, dass sie meine Freundin war, meine beste und eigentlich auch meine einzige. Aragorn vereinte uns nun auf eine Weise, die absolut einzigartig war. "Du bist im Düsterwald geboren und von König Thranduil in allen Arten des Kampfes ausgebildet worden, ist das richtig?"
"Ja... Mein König." Es war wirklich lustig anzusehen, wie sie von seiner Erscheinung beeindruckt wurde, wie ihr klar wurde, dass er in diesem Moment ihr König war und nicht ihr Freund.
"Du hast vierhundert Jahre lang als Anführerin seiner Wache gedient und darum jahrelange Kampferfahrung, ist das auch richtig?"
"Ja, mein König."
"Du hast in der Schlacht der fünf Heere gekämpft und warst außerdem Mitglied der Gemeinschaft des Ringes, ist das richtig?"
"Ja, mein König."
"Dann ernenne ich dich hiermit zur offiziellen Leibwächterin meiner Frau, Königin Arwen. Du wirst für ihr Wohlergehen und ihren Schutz verantwortlich sein bis zu deinem Tode oder bis ich dich von deinem Amt erlöse. Willst du das tun?"
"Ja, mein König."
Kurz sah er mich an, ob ich zufrieden war, und ich nickte leicht. Es machte mich glücklich, wie sehr er meine Bestätigung und Unterstützung brauchte. Dadurch half er mir, mich in meine neue Rolle einzufinden, ich wusste, dass, ob ich es auch gut machte oder nicht, immer jemand da war, der mich brauchte.
"Dann überreiche ich dir an diesem Tage, dem zweiten Tage des Vierten Zeitalters von Mittelerde, den Bogen von Finduilas, Frau von Denethor dem Zweiten, Truchsess von Gondor, und Mutter von Boromir und Faramir." In der Menge konnte ich Faramir neben den Geschwistern Eomer und Eowyn erkennen, der zufrieden lächelte. Aragorn hatte ihn selbstverständlich um Erlaubnis gefragt und er war sehr glücklich gewesen, den Bogen seiner Mutter in Tauriels Händen zu wissen, denn dann hätte er endlich wieder einen Verwendungszweck. Finduilas war schon einige Jahre tot.
Aragorn holte den Bogen aus einer ledernen Hülle, die ein Diener ihm gereicht hatte. Es war ein hervorragender Bogen, angefertigt an dem Beispiel der Bogen aus Lothlorien, wie unschwer zu erkennen war, denn nirgendwo gab es bessere Schusswaffen. Tauriels Gesicht strahlte. "Tauriel von Lothlorien, Leibwächterin von Königin Arwen, erhebe dich."

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