Kapitel 1

Ich hatte in meinem Leben schon vieles erlebt, vieles erdulden müssen. Meine Mutter war fortgezogen, als ich noch sehr jung gewesen war, ich selbst war zwei Mal dem Tod näher gewesen als dem Leben und hatte geglaubt, ich müsse mich von all meinen Lieben verabschieden. Ich hatte mich in einen Sterblichen verliebt, ihn gehen lassen und viele Kämpfe bestehen müssen, bis ich endlich mit ihm vereint wurde. Und nun war ich plötzlich Königin und alles war gut... Nein, nicht alles.
Denn heute war der Tag, an dem mein Vater und meine Großeltern in den Westen segelten. Heute würde ich sie gehen lassen müssen und die härteste Konsequenz meiner Entscheidung, ein sterbliches Leben zu führen, zu spüren bekommen. Mir war mein ganzes Leben lang immer klar gewesen, dass ich in den Westen segeln würde. Beinahe jeder Elb segelte eines Tages in den Westen, man wurde Mittelerde müde und überdrüssig und bestieg einfach ein Schiff, das einen ins Paradies von Valinor bringen würde. Außerdem war in Valinor meine Mutter; natürlich würde ich in den Westen segeln. Doch dann kam Aragorn, die Tatsache, dass er sterblich war- ich wurde vor ihre Wahl gestellt: Liebe oder Pflicht? Aragorn oder meine Familie? Die Entscheidung war getroffen, aber heute, jetzt, wurde mir erst klar, was das wirklich bedeutete.
Gewissermaßen brach meine ganze Welt auseinander.
Neben mir standen Tauriel und Aragorn, und das war gut; ich wusste nicht, ob ich zusammenbrechen würde, wenn das Schiff den Horizont erreichte. Vermutlich würde ich das, denn seit meiner letzten Krankheit war meine Gesundheit allzu zart.
"Arwen." Mein Vater trat auf mich zu und nahm mein Gesicht in beide Hände. "Arwen."
"Es tut mir leid, Ada." Meine Stimme war leise, schwach und rau. Ich wünschte, ich müsste niemals Abschied nehmen. Vater war einst das Zentrum meiner Welt gewesen, alles, was ich hatte und was ich brauchte. Nun hatte es sich vollkommen gewandelt. Er würde gehen und Aragorn und Tauriel würden zurückbleiben, um meine Scherben wieder zusammenzufügen. Dennoch wusste ich, und er wusste es auch, dass ich meine Entschuldigung nicht ernst meinte.
"Es ist, was du wolltest. Vielleicht ist es, was dir von jeher bestimmt worden ist, denn du siehst aus wie Luthien und bist wie sie, nun wird auch ihr Schicksal das deine. Entschuldige dich nicht, versprich nur, dass du glücklich werden wirst."
"Das werde ich, und das weißt du auch. Das ist so ziemlich das einzige, was ich dir versprechen kann. Aragorn wird mich wahnsinnig glücklich machen."
"Bis zu dem Tag seines Todes." Vermutlich erwartete er, dass ich jetzt weinte, oder zu Boden sah. Ich tat es nicht, denn ich wusste, dass er falsch lag. Ich fand es nicht schlimm, dass ich sterben würde. Ich akzeptierte es und ich glaubte nicht, wie alle anderen es taten, dass mich die Bitterkeit der Sterblichkeit eines Tages hart treffen würde. Aragorns Tod würde mich hart treffen, aber die Zeit, die wir bis dahin hatten, würde ich genießen, und dann war es gut so. Dann würde auch ich sterben, und ich würde niemals Valinor sehen. Damit kam ich zurecht. Das war der Preis, den ich zahlen musste.
"Bis zu dem Tag meines Todes werde ich denken, dass meine Zeit hier glücklich war. Und ich werde meine Entscheidung niemals bereuen, Ada."
Stumm zog er mich an sich und küsste mein Haar. Wir beide wussten, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu streiten, außerdem hatten wir dieses Thema schon zu oft besprochen.
"Vergiss mich nicht, meine Tochter."
"Das werde ich niemals. Vergiss auch du mich nicht und bitte sage meiner Mutter, dass ich sie liebe." Das war das Schwerste; ihre letzten Worte an mich waren gewesen: "Eines Tages werden wir uns in Valinor wiedersehen." Mein Vater würde drüben das Schiff verlassen und ihr erklären müssen, dass ich nicht kommen würde. Vielleicht wusste sie es auch, vielleicht gehörte es zu ihrem mütterlichen Instinkt. Ich hoffte es.
Mein Großvater sprach nicht, anders als mein Vater, denn er wusste, dass alles gesagt war. Er hatte immer gewusst, wann man sprechen und wann man schweigen sollte. Seine Umarmung war fest und sollte mir noch ein letztes Mal signalisieren, dass er mich immer beschützt hätte. Das war es, was ihn an meisten störte: Dass er nicht mehr da sein konnte, wenn ich ihn brauchte. Von nun an würden mir weder mein Vater noch meine Großeltern zur Seite stehen können.
"Ich will, dass du glücklich wirst", flüsterte er mir ins Ohr. "Etwas anderes habe ich nie gewollt, seit deiner Geburt. Und ich will es auch jetzt. Wenn es also auf diese Weise sein muss, dann soll es geschehen. Ich liebe dich, Tochter der Abenddämmerung."
"Erkläre es Celebrian", flüsterte ich zurück, "Ada wird es nicht können. Ich hoffe, es wird euch drüben gut gehen, Großvater. Denk manchmal an mich."
"Ich werde immer an dich denken, liebes Kind. Und niemand von uns wird jemals in der Lage sein, deinen Verlust zu verkraften. Du bist wahrhaftig der Abendstern deines Volkes."
Großmutter hatte Tränen in den Augen, denn gerade hatte sie sich von Tauriel verabschiedet. Die Beziehung zwischen den beiden hatte niemand wirklich durchdringen oder verstehen können; Tauriel hatte einmal zu mir gesagt, dass sie jemanden zum Festhalten brauchte und meine Großmutter jemanden, den sie festhalten konnte. Vermutlich beschrieb es das am treffendsten.
"Galadriel." Ich liebte es, diesen Namen auszusprechen. Er war ebenso wie Celebrian, kam über die Lippen wie Musik. Arwen klang dunkel und irgendwie nicht begreifbar, doch die beiden Namen klangen wie das Licht.
"Liebes Mädchen. Mein Herz droht zu zerbrechen, aber ich weiß, dass du hier glücklich sein wirst. Dass du es nur hier sein kannst."
"Und du kannst es nur im Westen, Großmutter. Das habe ich immer gewusst."
"Oh, Kleines..." Sie nahm meine Hand und zog sie an ihre Wange. Sie war nass von Tränen. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, ich müsse mich wirklich rechtfertigen, doch ich fand keine Worte. Stattdessen fing nun auch ich an zu weinen und hilfesuchend blickte ich zu Aragorn, doch er sprach gerade mit Gandalf. Diesen Kampf musste ich allein kämpfen. "Weine nicht, Arwen. Es wird alles gut werden, das ist mein Versprechen an dich. Gib acht auf dich, Kind, gib acht auf dich und überanstrenge dich nicht, denn sonst wirst du in der großen Stadt welken wie eine Blume. Und gib auch acht auf Tauriel; sie hat dein Schicksal nicht so akzeptiert, wie du es getan hast, und wenn das Ende nah ist, wird es sie zerbrechen."
"Ich weiß." Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und versuchte, aufrechter zu stehen. "Ich werde für sie da sein."
"Ich danke dir."
"Lebt wohl, meine tapferen Hobbits", sagte Gandalf in diesem Moment, Großmutter und ich verschränkten ein letztes Mal unsere Finger und wir drehten uns zu ihm um. Alle vier Hobbits weinten. Ich hatte sie nicht näher kennenlernen dürfen, doch Aragorn hatte mir von ihren Heldentaten erzählt und ich war ehrlich beeindruckt. "Mein Werk ist vollbracht. Hier nun, an den Ufern des Meeres, kommt das Ende unserer Gemeinschaft. Ich will nicht sagen: "Weinet nicht", denn nicht alle Tränen sind von Übel." Ich sah zu Großmutter und sie erwiderte meinen Blick; wir beide lächelten unter Tränen. Dann ging Gandalf einige Schritte näher zu dem Schiff, das alles verändern und eine Familie auseinander reißen würde. "Es ist Zeit, Frodo."
Ich biss mir auf die Lippe. Ich hatte gesehen, wie Frodo litt, obwohl nun alles Böse besiegt war. Er fand sich nach seiner großen Reise nicht mehr wieder in dem Reich, das er gerettet hatte. Also hatte ich ihm das einzige angeboten, von dem ich wusste, dass es seinen Schmerz lindern könnte: Meinen Platz auf dem Schiff.
"Wie meint er das?", fragte Sam, von den Hobbits der sensibelste, und er klang gleichzeitig verwirrt und schockiert, als wüsste er, was kommen würde und wollte es nicht wahrhaben.
"Wir sind losgezogen, um das Auenland zu retten, Sam, und es ist gerettet worden." Frodo schenkte seinem Freund ein trauriges, entschuldigendes Lächeln. "Aber nicht für mich."
"Das meinst du doch nicht ernst! Du kannst nicht fortgehen!" Sams Miene brach mir das Herz und ich wusste, wie er sich fühlte. Wir waren die, die zurückblieben. Für uns war es am schwersten.
Frodo holte ein großes, in rotes Leder gebundenes Buch aus seinem Beutel und streckte es Sam entgegen. "Die letzten Seiten sind für dich, Sam."
Langsam ließ Großmutter meine Hand los, warf mir und Tauriel einen letzten Blick zu und stellte sich dann neben Gandalf und Großvater. Nun war es so weit. Ich musste Abschied nehmen. Vater nahm Tauriel kurz beiseite- ich konnte mir lebhaft vorstellen, was er ihr sagte- und Aragorn legte einen Arm um mich. Meine Beine zitterten.
"Ich lasse dich nicht fallen", hauchte er sanft, als ich mich gegen ihn lehnte. "Niemals. Du wirst es wunderschön haben. Wir werden es schön haben."
"Wir werden es schön haben", wiederholte ich beschwörend, als die anderen das Schiff bestiegen.
Vater hob die Hand zum Abschied, Galadriel vergrub ihr Gesicht in Celeborns Mantel. Sie legten ab und segelten langsam der untergehenden Sonne entgegen. Meine Beine gaben nach und konnten mein Gewicht nicht mehr tragen, doch Aragorn hielt mich fest und ließ nicht zu, dass ich fiel. Er würde mich nicht fallen lassen. Wir würden es schön haben. In diesem Moment war es das einzige, das mir Hoffnung gab.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top