Rosé und die Einkellerungskartoffeln

1 Jahr später

„Scheiße!" Rosé umfasste das Lenkrad fester und versuchte gar nicht erst, das Fluchen zu unterdrücken. Sie lehnte sich nach vorn und spähte nach draußen in die nachtschwarze Dunkelheit.

Die Scheinwerfer waren aus, viel zu leicht hätten sie sie verraten können. Und nein, wegen so ein paar dämlicher Kisten Einkellerungskartoffeln würde sie nicht ihr Leben riskieren. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie sie heute Nacht auch nicht mehr ausgeliefert, aber Namjoon hatte darauf bestanden.

Er hatte es für heute so geplant und da musste es unbedingt sein. Schöne Scheiße. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, als sie angestrengt nach draußen starrte. Ihr Atem ließ die Scheibe beschlagen und sie wischte hektisch mit dem Ärmel über die angelaufene Stelle.

Aber auch das änderte nichts an dem, was sie sah: Sie stand vor einer Abzweigung, die keine mehr war. Die Straße nach links, nach Ochang war gesperrt. Nein, nicht einfach nur gesperrt, denn hinter dem rot-weiß gestreiften Bauzaun lag eine Mondlandschaft. Die weißen Streifen des Bauzauns leuchteten in der Dunkelheit wie die unnatürlich weißen Zähne in Zahnpastawerbungen; sie lachten sie aus. Die Straße, die sie nehmen wollte, war ausradiert, von der Bildfläche verschwunden, als hätte sie nie existiert. Dort wo bis vor kurzem noch glatter Asphalt gewesen war, klafften traktorreifentiefe Furchen im Matsch.

Rosé biss sich auf die Unterlippe. Da käme sie mit ihrem kleinen Kia ohne Allradantrieb niemals durch und im Matsch stecken zu bleiben, war keine gute Idee, denn dann würden sie sie finden. Ihre nächste Base war schließlich ganz in der Nähe.

„Verdammte Scheiße!", fluchte sie erneut und griff nach dem Knüppel der Gangschaltung. Sie würde wenden müssen. Hätte sie mal nicht auf Namjoon gehört und wäre stattdessen über Masan-ri gefahren. Aber sie hörte den Nachklang seines Zischens noch förmlich in den Ohren; wie er sie gefragt hatte, ob sie denn auch Mal an den Sprit denken würde.

Tja, Joon, jetzt werde ich noch mehr Sprit verbrauchen, für die paar Kartoffeln, denn jetzt muss ich einen riesen Umweg fahren.'  Verärgert rüttelte sie an dem Knüppel, der sich wie immer beharrlich weigerte, in die Position des Rückwärtsganges zu rutschen.

Ein Aufblitzen im Seitenspiegel ließ Rosé in ihrer Position erstarren, wie den Knüppel der Gangschaltung im Sechsganggetriebe. Ihre angstgeweiteten Augen suchten den Rückspiegel.

Hinter ihr näherte sich ein Licht.

Sie sah sofort, dass es keine Auto- oder Motorradscheinwerfer waren. Es gab auch nicht viele, die so tollkühn waren im Schutz der Dunkelheit mit Licht zu fahren. Das machten nur die, die dachten, dass sie vor ihnen nichts zu befürchten hätten, da sie sich in deren Dienst gestellt hatten.

Rosé wusste es besser. Sie hatte sich vorgenommen, niemals für sie zu arbeiten. Sie hatte keine Lust auf Sklavendienst. Sie und ihre Freunde lebten stattdessen im Untergrund, versteckt im hinterletzten Dorf. Sie betrieben Landwirtschaft, um zu überleben und kümmerten sich um die Waisenkinder in der Region. Die großen Städte hatten die Aliens längst erobert, dort waren schon alle versklavt. Aber wenn sie jetzt hier einen Stützpunkt errichteten, würde es hier wohl auch bald soweit sein.

Der Lichtkegel des gewaltigen Flugobjektes leuchtete jeden Meter der Landstraße ab, auf der sie gekommen war und kam dabei unaufhaltsam auf sie zu.

Ein Schweißperlchen rann ihr von der Stirn ins linke Auge. Es brannte. Sie konnte nicht wenden, dann würde der Lichtkegel sie erfassen. Ja, sie konnte noch nicht mal hier stehen bleiben.

Sie musste weg und zwar schnell. Doch die einzige Abzweigung war die nach rechts und die führte nach drei Kilometern direkt in ihre Basis.
Rosé legte den ersten Gang ein und bog ab, dann trat sie aufs Gas. Ihr Herz raste in ihrer Brust und ihr rechter Fuß wollte dem Beispiel folgen und das Gaspedal bis zum Anschlag durchtreten, um dem Flugobjekt zu entkommen. Aber Rosé war schlauer. Sie wusste, dass sie an der Basis verloren wäre und hoffte, dass sie davor eine Ausbuchtung entdecken könnte, eine Abzweigung, um mit dem Auto von der Straße zu fahren und sich irgendwo zu verstecken.

Ihr Kia war dunkelblau und finster genug war es ja, vielleicht hatte sie Glück.

Rosé fuhr gern Auto. Es bescherte ihr einen freien Kopf und noch nie zuvor, war ihr dabei übel geworden, doch jetzt hatte sie das Gefühl sich bei der nächsten Unebenheit direkt aufs Lenkrad übergeben zu müssen.

Ihre Augen scannten hektisch den Straßenrand zu beiden Seiten der schmalen Straße ab, in der Hoffnung einen Ausweg zu finden, eine Möglichkeit von dieser finsteren Route, die direkt in ihr Verderben führte runterzukommen. Doch vergebens: Rechts und links verliefen tiefe Gräben. Während ihr Fuß weiter auf das Gaspedal trat, kam der Lichtkegel immer näher heran.

Sie wusste, dass ihre Raumschiffe mit Waffen ausgestattet waren. Farbige Laserstrahlen, die alles auf was sie trafen verbrannten bis nur noch Asche übrigblieb. In ihrem Fall wären das wohl die qualmenden, rußgeschwärzten Überreste der Karosserie ihres Kias.

Sie konnte den beißenden Qualm, den Geruch des Todes, förmlich riechen, denn nach der Invasion hatte ganz Seoul wochenlang danach gestunken. Die Erinnerung daran ließ sie würgen und ihr Fuß trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb und ihr Puls klopfte in ihren Pulsadern ganz nah am Lenkrad, sodass es schien, als wolle er ihr raten, das Lenkrad zu verreißen und in den Graben zu fahren.

Denn es würde ohnehin nur der Tod auf sie warten.

Oder?

Gab es einen Ausweg?

Gab es die Möglichkeit, dass die Aliens sie noch gar nicht entdeckt hatten? Vielleicht flogen sie einfach nur zurück in ihren Stützpunkt. Blöd nur, dass sie dabei jeden Zentimeter der Landstraße ableuchteten.

Die Übelkeit steckte in ihrem Hals wie eine große Kartoffel. Sie versuchte sie hinunterzuwürgen und schwor sich nie wieder Kartoffeln zu essen. Auch wenn Jin der Meinung war, dass sie das Grundnahrungsmittel schlechthin seien und Namjoon ihm da Recht zu geben schien.

'Namjoon.

Ohne dich wäre ich jetzt nicht hier.'

Mit diesem bitterem Gedanken erreichte sie die Base.

Irgendwie hatte sie gehofft, das Tor wäre verschlossen, aber es öffnete sich in diesem Moment, als hätten die abartigen Wesen dort drin schon auf sie gewartet.

Sie trat hart auf Bremse und Kupplung. Das ruckartige Abbremsen riss sie so stark nach vorne, dass der Gurt in ihre Brust einschnitt, doch schon im nächsten Moment prallte sie zurück in den Sitz. Ihr Hinterkopf schmerzte nach diesen Aufprall, doch sie ignorierte es und sah zum Pförtnerhäuschen neben dem Tor.

Zwei Exemplare der unteren Aliengattung sahen ihr hämisch grinsend entgegen. Ihre Zähne sahen aus wie dürre, eitrige Dornen. Ihre spitzschaufelförmigen Nasen, um die sich ihre Gesichtshaut regelrecht spannte, stießen an die Glasscheibe des kleinen Häuschens. Ihre graue Haut erinnerte Rosé an weiße Schleimpilze, die man im Wald manchmal an Baumrinden oder im Moos finden kann. Sie trugen eine Art Uniform, doch ihre aufgeblähten Bäuche konnte auch diese nicht verbergen. Ihre Augen hatten schwarze riesige Pupillen mit einer roten Iris, die das ganze Auge ausfüllte. Sie sahen aus wie Koboldhaie. Rosé erinnerte sich als Kind im Meereskundemuseum von Busan Fotos dieser Unterwasserkreaturen gesehen zu haben. Danach hatte sie wochenlang Albträume gehabt. Aber diese Wesen hier kamen nicht aus dem Meer sondern aus dem All. Und sie waren nicht alleine gekommen. Sie kamen mit den Engeln.

Auch wenn Rosé bisher keines dieser höheren Wesen zu Gesicht bekommen hatte.

Die Aliens hatten vor Kurzem den Flughafen von Cheongju besetzt und zu ihrem Stützpunkt gemacht. Dort hausten sie in den flachen Baracken und Rosé vermutete, dass sie dort auch Menschen hielten, die sie für sich arbeiten ließen. Das Gelände war riesig, bot genügend Platz für ihre Flugmaschienen und war mit sämtlicher Sicherheitstechnik ausgestattet.

Nun ja mit den beiden Milchgesichtern hier würde sie vielleicht noch fertig werden.

Doch die Hoffnung, das letzte kleine Fitzelchen, das sie noch gehabt hatte, dass das riesige Flugobjekt sie nicht verfolgt hatte, ja am besten noch nicht mal bemerkt hatte, sondern einfach über sie hinwegfliegen würde, verschwand.

Denn der Lichtstrahl war jetzt genau über ihr. Ihr kleiner Kia stand mitten im Spotlight. Yeah.

Sie stand am Kraterrand eines Nervenzusammenbruchs mit gewaltigen Ausmaßen. Verzweifelt sah sie nach rechts zu den beiden buckligen grauen Aliens im Pförtnerhäuschen, die nun die Köpfe zusammensteckten und miteinander tuschelten.

Ob die Aliens Einkellerungskartoffeln brauchten?

Das war ihre einziger Ausweg, die einzige Karte, die sie jetzt noch ziehen konnte.

Rein fahren, Kartoffeln abladen und wegfahren.

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und startete den Motor wieder.

Sie fuhr in die Base.


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