Jennie und die Drehtür


Fast geschafft! Nur noch wenige Meter, dann wäre sie endlich draußen! Ihre Augen klebten förmlich an der noch geschlossenen Tür des Fahrstuhls, das Surren der Stahlseile kündigte bereits an, dass er jeden Moment im 63. Stock ankommen würde.

Jennie konnte ihr Glück kaum fassen: Als sie nach neuneinhalb Überstunden, die Zeichnung endlich fertig gestellt hatte, war ihr Boss nicht an seinem Platz gewesen und sie hatte ihm ihr Werk einfach auf den Tisch gelegt. Sein herrisches Gehabe, mit dem er für gewöhnlich solange auf Nachbesserungen bestand, bis sie kurz davor war, vor Wut aus der Haut zu fahren, hätte sie jetzt auch schlichtweg nicht mehr ertragen können.

Sie hatte sich schleunigst ihr Chanel Handtäschchen geschnappt und war auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem zu den Aufzügen geschlichen. Die Fahrstuhltüren öffneten sich soeben direkt vor ihrer Nase und das scheußlich laute Bing hallte überlaut in den Gängen des nun leergefegten Bürokomplexes wieder. Wie ein erschrecktes Reh im Scheinwerferlicht stand sie im Lichtschein des geöffneten Lifts und scannte mit weit aufgerissenen Augen angstvoll die langen menschenleeren Flure ab. Doch sie hatte Glück: Alles blieb still. Schnell schlüpfte sie in die Fahrstuhlkabine und drückte auf den Knopf für das Erdgeschoss.

Erst als der Aufzug seine Türen hinter ihr geschlossen hatte und sich in Bewegung setzte, wagte sie es auszuatmen. Sie lehnte sich gegen die verspiegelte Wand und bekam beim Anblick ihrer dunklen Augenringe erst einen Mordsschreck und dann eine Mordswut. Wegen diesem verkappten Tyrannenprinz sah sie aus wie ein wandelndes Monster! Die achtzehneinhalb Stunden, die sie heute im Büro verbracht hatte, steckten ihr wie Blei in den Knochen und ihre Lider waren schwer wie Zementsäcke.

Dabei war sie es gewohnt viel und hart zu arbeiten und nur wenig Schlaf zu bekommen. Mit Wehmut im Bauch und tränenden Augen (wobei sie nicht hätte sagen können, ob ihre Augen vor Müdigkeit oder vor Traurigkeit wässrig wurden) erinnerte sie sich an die Zeit vor der Invasion: Training, Tourneevorbereitungen, Konzerte, Pressetermine, dass alles kostete ihr damals ebenfalls den Schlaf und dennoch war es vollkommen anders.

Damals wusste sie wofür. Wofür sie alles gab, was sie hatte. Wofür sie sich so verausgabte und immer noch mehr aus sich herausholte: Für ihre Mädels und für die Fans.

Aber nun? Nun war es sinnlos. Sie war mutterseelenalleine und keine Aliensocke interessierte sich dafür, was sie oder irgendwer anders vor der Invasion gemacht hatte. Sie sah in ihr erschöpftes Spiegelbild und zog die Stirn kraus. Hörte ihr Boss überhaupt Musik? Wusste er, was ein Konzert war? Hatte er jemals eines erlebt?

Konnte er singen? Mit seiner tiefen Brummstimme?

Sie versuchte, es sich vorzustellen und bekam prompt eine Gänsehaut. Irritiert besah sie die kleinen Puppeln auf ihren nackten Armen unter dem dünnen Blusenstoff und mit Schreck bemerkte sie, dass nicht Angst die Ursache war: Nein, in ihrem Kopf erklang seine volle, dunkle Stimme. Sie sang eine Melodie in Moll und harmonisierte perfekt ...
Arrgh, sie war wirklich restlos übermüdet. Sie ließ die Stirn gegen den kalten Spiegel fallen und schüttelte den Kopf, um die Stimme zu vertreiben. Ihre Haare rutschten ihr ins Gesicht und sie ließ sie da hängen.

„Bing" die Tür öffnete sich und diesmal machte sie sich keine Gedanken um das verräterische Geräusch, sondern schlüpfte eiligst nach draußen.

Die Empfangshalle lag verlassen vor ihr. Die Lichter waren ausgeschaltet und das Mondlicht strahlte durch die riesige Fensterfront zu ihrer Rechten herein. Es hatte die Halle vollkommen in seinen Besitz genommen und tanzte über den glänzend gebohnerten Boden, wie durch einen Ballsaal.

Ein Seufzen entfuhr Jennie. Trotz der Müdigkeit zuckte es in ihren Beinen. Konnte sie ein Tanz im Mondlicht wagen? Aber es hatte auch etwas Unheimliches. In den Ecken lauerten lange Schatten. Jennie neigte unschlüssig den Kopf. Dann ballte sie die Fäuste.

Diese Energiesparmaßnahmen sind auch alle auf den Alienmist gewachsen. Ihr Boss achtete zum Beispiel peinlichst genau darauf, dass die Heizungen, nicht zu hoch eingestellt waren und das auf keinen Fall, irgendwo gelüftet wurde, während die Heizungen liefen. Er schaltete auch permanent ihre Schreibtischlampe aus, wenn er der Meinung war, das ausreichend Licht von draußen hereinfiel. Aber das war jetzt ihr kleinstes Problem: Die ganze Stadt war nachts stockdunkel. Yippie, was für ein Vergnügen, jetzt nach Hause zu laufen.

Glückwunsch. Jennie. Glückwunsch.

Denn ein Bus fuhr um diese Zeit nicht mehr und die Autos waren von den Aliens alle konfisziert worden. Jennie schüttelte schnell den Kopf, sie wollte nicht an ihren Porsche Taycan denken, der ihr, wie so vieles andere, genommen worden war.

Schnell lief sie durch die Halle. Das Mondlicht umwehte kalt ihre Knöchel.

Erst vor der Tür stoppte sie.

Und nun?

Es war eine vollautomatische Drehtür, doch um diese Zeit war sie außer Betrieb und der Ausgang war verschlossen. Wie zum Teufel sollte sie nun rauskommen?

Sie lugte nach oben. Gab es da nicht so einen Kasten oder Knopf, wo man ...? Ohne es bewusst zu merken, hatte sie sich auf die Zehenspitzen gestellt, um einen besseren Blick zu erhaschen, doch im nächsten Moment ließ eine kalte Berührung an ihrer Schulter sie zusammenzucken und brachte sie ins Straucheln.

Eine Hand griff sofort fest um ihren Oberarm und bewahrte sie damit davor, gegen die Glastür zu fallen.

Im ersten Moment war sie froh um den Halt, doch als ihr Blick auf die edel gearbeiteten dunkelblauen Samtmokkasins fiel, die neben ihren Absatzschuhen wie aus dem Boden gewachsen aufgetaucht waren, wusste sie sofort, wer sie da am Arm hielt. Steif rappelte sie sich hoch.

Sie starrte ihn an. Ihr größte Befürchtung war, dass er sie hoch ins Büro schleifen und sie dazu verdonnern würde, diese Pläne zu zeichnen und zu korrigieren, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrechen würde.

Doch zu ihrem Erstaunen setzte er sich in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung und zog sie mit sich.


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