Teil 2 / 2
Stickige Luft schnürte Josie die Kehle zu, als sie sich Hals über Kopf in der Enge des Wagens wiederfand. Clyve hatte ihr den Sack um den Hals zugeschnürt und ihre Hufe gefesselt, sodass sie ihn nicht einfach wieder abstreifen konnte.
Der kalte Metallboden unter ihr entzog ihr jegliche Körperwärme und mit ihr auch die Hoffnung auf eine Flucht aus diesem Albtraum. Ihre Mutter hatte ihr immer gesagt, dass sie niemals mit fremden Hengsten reden oder sich ihren Autos nähern sollte. Sie hatte sich immer daran gehalten und dennoch war sie jetzt hier.
Langsam und ganz vorsichtig streckte sie ihre Hufe aus, um zu überprüfen, wie viel Platz ihr noch blieb. Nach wenigen Bewegungen bereits, stießen ihre Beine an einen Gegenstand, der erschöpft ächzte, als sie erschreckt ihren Huf zurück zog. Sie kannte diese Stimme!
"Papa!", wieherte sie schrill. "Papa, bist du das?"
"Ja", antwortete Alex mit gequälter Stimme. "Hat er dir etwas angetan?"
"Nein, mir geht es gut", schnaufte Josie. Und dir?
"Weiß nicht. Mein Herz klopft sehr schnell. Ich glaube, ich habe Angst", antwortete ihr Vater. "Ich frage mich, wie er es geschafft hat, aus dem Gefängnis auszubrechen. Und wie er C73 wiederbelebt hat. Ich habe sie erschossen. Einmal durch den Kopf. Es ist unmöglich, dass sie das überlebt haben kann."
"Papa, wo ist Mama?", schniefte Josie ängstlich. Sie war zwar froh, ihren Vater zu hören, doch sie machte sich noch immer Sorgen um ihre Mutter. Sie schien nicht hier zu sein und wenn sie hier war, war sie ungewöhnlich still.
"Ich weiß es nicht", antwortete Alex mit trockener Kehle. "Ich habe versucht, sie zu beschützen, doch C73 hielt mich auf. Vielleicht hat er ihr etwas angetan. Er murmelte etwas von 'wenn ein neues Männchen in den Clan kommt, tötet es die Jungen seines Vorgängers, um neu zu beginnen'."
Josie schluckte hart. Das konnte nur bedeuten, dass dieser Hengst ihrer Familie nichts Gutes wollte. "Papa, Simon ist noch da draußen!"
"Was?", Alex Tonfall klang ungewöhnlich besorgt, selbst für ihn. "Warum seid ihr nicht in eurem Zimmer geblieben?"
"Wir haben Schreie gehört!", verteidigte sich Josie prompt. "Wir wollten die Polizei rufen. Was hat er nur vor?"
"Keine Ahnung, es ist Higgins. Seine Pläne sind undurchschaubar, aber sie haben allgemein immer etwas mit der Zerstörung meines Lebens und derer Pferde zu tun, die mir wichtig sind. Wahrscheinlich wird e uns mit dem Auto in die Luft sprengen und mit Jess fliehen", murmelte Alex. Er kniff unter fürchterlichen Kopfschmerzen die Augen zusammen. Seine Systeme hatten einmal mehr versagt. Immer, wenn dieser Hengst auftauchte, hatte er eine neue Methode entwickelt, um ihn außer Gefecht zu setzen. Ein Elektroschock gegen die Stirn war mehr, als unfair, aber dennoch sehr effektiv gewesen. Und nun war Jess in Gefahr und seine Kinder ebenfalls. Er musste etwas unternehmen, aber wie?
Alex konnte nicht verstehen, was Rache bedeutete, doch er sehnte sich tief im Inneren danach, diesem Hengst mit allen Mitteln der Kunst für immer und ewig das Handwerk zu legen. Ihm hatte man keinen Sack über den Kopf gezogen, weshalb er seine Tochter erst einmal von dem fürchterlichen Ding auf ihrem Hals befreite.
Josie atmete erleichtert auf, als sie endlich wieder Luft um die Nüstern spürte. Dann begann sie an ihren Fesseln zu nagen, um auch diese noch loszuwerden.
"Wenn er Simon ebenfalls töten will, wird er ihn sicherlich zu uns bringen, um ihn mit uns zusammen zu beseitigen", brummte Alex dann. "Wenn wir den Moment abpassen, in dem er die Tür aufmacht, können wir ihn gemeinsam überwältigen und deine Mutter retten."
"Ohhh wie aufregend!", japste Josie. Ein paar Fäden des festen Seiles um ihre Hufe hingen noch zwischen ihren Zähnen, als sie endlich die Fesseln von ihren Hufen streifen konnte. "Wenn ich nicht solch eine fürchterliche Angst hätte, wäre das das coolste Abenteuer überhaupt!"
"Abenteuer sind nie cool, wenn man sie erlebt", knurrte Alex trocken. "Es ist immer nur das Nachhinein, wenn alles glimpflich verlaufen ist und die Verdrängung der schlimmen Ereignisse einsetzt. Man erinnert sich lieber an ein Ende mit Schrecken, als an einen Schrecken ohne Ende. Verliere jetzt also bloß nicht die Ernsthaftigkeit, junge Dame. Du schwebst in großer Gefahr. Sei dir dessen bewusst!"
Josie nickte stumm und lauschte ins Dunkel. Sie würden warten müssen. Und ob sie darauf warteten, dass das Auto in die Luft ging oder dass dieser Clyve Simon mit zu ihnen in den Wagen zu stecken versuchte, konnte keiner von ihnen so recht voraus sagen. Sie konnten einfach nur hier liegen und darauf hoffen, dass die Tür dieses Wagens sich überhaupt jemals wieder für sie öffnen würde.
Plötzlich war draußen ein Poltern zu hören. Mülltonnen schepperten und Clyves lauter Schrei hallte durch die kühle Nachtluft.
"Na warte, du kleines Balg!!"
Josies Herz verkrampfte sich, als sie das schmerzverzerrte Wiehern ihres Bruders und die darauf folgenden, fürchterlich knackenden Schläge hörte. Clyve keuchte laut auf und mit einem Mal knallte etwas gegen die Seitenwand des Wagens, in dem sie sich befanden.
Alex und Josie sprangen alarmiert auf die Hufe, als die Tür des Wagens aufgeschoben wurde und machten sich zum Angriff bereit....
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Der Hengst packte Simon grob an der Mähne, riss ihn auf die Hufe und schleifte ihn, all die Wehrversuche ignorierend, hinter sich über den Rasen. Simon wand sich und wollte schreien, dann fand er für einen Moment Halt unter den Hufen, stemmte seine Beine gegen seinen Entführer in den Boden und riss sich blitzschnell von dem hässlichen Tier los, das seine Familie gepferdnapped hatte.
"Du bist ziemlich hartnäckig, kleiner!"
Der goldene Hengst spuckte ein paar lockige, schwarze Strähnen vor sich auf den Boden, die er Simon ausgerissen hatte. "Beinahe wie dein Vater! Einfach nicht tot zu kriegen. Aber das Problem wird sich gleich erledigen."
Der Hengst zog ein kleines Gerät aus einer Halterung an seinem Vorderbein. Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, dass Simon nicht wusste, was das war. Doch Simon war sich sehr wohl bewusst, dass es sich hierbei um einen Elektroschocker handelte. Wahrscheinlich hatte er damit auch seinen Vater außer Gefecht gesetzt. Anders hätte er niemals das klügste Pferd der Welt besiegen können. Simon war sich ganz sicher. Und wenn sein Vater es schaffte, dieses Pferd zu überlisten, dann musste er es auch schaffen.
Doch er hatte solch fürchterliche Angst. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und raubte ihm die Fähigkeit, klar zu denken. Wie in Zeitlupe beobachtete Simon, wie Clyve das Gerät zu seiner Brust führte. Das rasselnde Geräusch der elektrischen Stöße hallte in seinen Ohren. Dann erhellte ein weiterer Blitz die Nacht und mit der plötzlichen Helligkeit wurde Simon aus seinen Gedanken gerissen.
"Angelica!", schrie er aus voller Kehle. Clyves Augen weiteten sich und er riss den Kopf in der Erwartung herum, seine Komplizin zu erblicken. Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass Simon ihm just in diesem Moment einen heftigen Kinnhaken verpassen und ihm das Gerät aus dem Maul schlagen würde.
Er hatte ihn ausgetrickst. Mit klopfendem Herzen hob Simon das Gerät auf und galoppierte auf den dunklen Van zu, der in ihrer Einfahrt stand. Er wurde jedoch auf halbem Wege von Clyve eingeholt. Simon wandte sich um und drohte dem Hengst mit dem Schocker im Maul, doch jener blieb unbeeindruckt, machte einen Satz auf Simon zu und landete, schmerzhaft aufjaulend, inmitten der Mülltonnen, die ebenfalls in der Einfahrt standen, als Simon flink einen Sprung zur Seite machte.
"Na warte, du kleines Balg!", brüllte der Hengst, schnappte sich einen Mülltonnendeckel und schleuderte ihn in Simons Richtung, der von dem Geschoss hart an seinem Kopf getroffen wurde. Simon stürzte zu Boden. Er schrie vor Schreck, als Clyve plötzlich über ihm stand und ihm seinen Huf auf die Wunde presste, die Angelica ihm zugefügt hatte.
"Und? Wie finden wir das, kleiner? Du wolltest doch spielen, oder?"
Simon schüttelte röchelnd den Kopf, als Clyve ihn mit seinen kalten, blauen Augen fixierte. Er hatte den Schocker fallen lassen, der jedoch noch immer in Griffweite seiner Schnauze lag.
"Aber ich finde gerade tatsächlich etwas Spaß daran. Man sagt zwar, man sollte aufhören, wenn es am Schönsten ist, aber weißt du was?", der Hengst beugte sich tief zu Simon herunter, grinste ihn an und flüsterte: "Ich will gar nicht aufhören. Du siehst so niedlich aus, wenn du leidest."
"Ich...bin nicht niedlich", keuchte Simon in dem Moment, in dem sein Huf sich wieder fester in seine Wunde zu bohren drohte. Er reckte den Hals, griff sich das Gerät vom Boden riss den Hals nach oben, biss die Zähne zusammen und presste es Clyve mit voller Wucht vor die Brust. Mit einem lauten Schrei strauchelte der Hengst rückwärts und knallte mit voller Wucht gegen den Van, bevor er ächzend in sich zusammen sank.
Simon atmete zweimal tief durch, bevor er sich auf seine wackeligen Beine erhob. Clyve schien ausgeschalten zu sein, doch seine Familie musste noch immer in dem Van sein. Rasender Herzschlag war sein Begleiter, als er zitternd die Tür des Vans auf schob. Mit einem gewaltigen Hechtsrung wurde er sabei sogleich von seiner Schwester von den Beinen gerissen, die überglücklich war, ihn zu sehen. Ihm rann zwar Blut aus einer frischen Wunde an seinem Hinterbein herab und aus seinen Nüstern tropfte ein rotes Rinnsal, aber ansonsten ging es ihm gut. Sehr gut. Simon war noch nie in seinem Leben so stolz auf sich gewesen.
"Simon, du lebst!", jubelte Josie überglücklich. Sie drückte sich ihrem Bruder mit tränenfeuchten Augen an die Brust, bevor sie sich eng aneinander schmiegten. Alex reckte den Kopf aus dem Wagen, doch als er Clyve erblickte, drängte er die Fohlen dazu, zurück ins Haus zu gehen. Der Palomino hinter ihnen war nicht ohnmächtig, sondern richtete sich bereits wieder auf, vorbereitet auf seinen nächsten Angriff.
"Es - Es ist noch nicht vorbei, Alex!", keuchte er grinsend. "Du wirst sie verlieren, deine wertvolle Jess."
Als Alex aus dem Wagen sprang, drohend die Ohren anlegte und mit dem Schweif schlug, hob Clyve ihm mit einer ganz lockeren Geste den Elektroschocker vor die Nase.
"Na, na! Wir wissen beide, welche Auswirkungen dieses Ding auf deine Systeme hat, nicht wahr? Und wenn meine Rechnungen richtig sind, befindest du dich gerade noch im Prozess der Datenwiederherstellung. Wäre doch schade, wenn diese Daten für immer verloren wären, weil ich den Prozess wieder und wieder und wieder unterbreche und neu einleite."
Alex presste die Ohren nun so weit nach hinten, dass sie ganz flach an seinem Hals anlagen.
"Also jetzt, wo ich es laut ausspreche, klingt die Idee gar nicht mal so schlecht", merkte Clyve an. "Vielleicht sollte ich es einfach ausprobieren, um zu sehen, was passiert?"
"Wo ist unsere Mama?!", wieherte Simon schrill. Seine Schwester hatte sich drohend neben ihm aufgebaut und gemeinsam stellten sie sich dem furchtbar unheimlichen Pferd. Sie waren zu dritt und ihr Vater war bei ihnen. Ihnen konnte nichts passieren.
"Simon, wir dürfen nicht übermütig werden. Papa sagt, dass wir in großer Gefahr sind."
Josie hatte tierische Angst und das konnte Simon verstehen. Er zitterte schließlich auch ganz fürchterlich. Doch Simon konnte sich nicht vorstellen, was gefährlicher sein konnte, als ein stahlgepanzertes Roboterpferd, das einem seine dolchartigen Zähne in die Hinterhand schlagen und ohne Fragen zu stellen in Stücke reißen konnte. Dieses Pferd vor ihnen, auch, wenn es nicht so aussehen mochte, war ein gewöhnliches Pferd, wie Josie und er. Irgendetwas musste ihn zu diesen Taten gebracht haben. Und wenn er sich die Situation recht auslegte, musste es wohl damit zu tun haben, dass Clyve einmal unsterblich in seine Mutter verliebt gewesen war. Warum hasste er sie jetzt so sehr?
"Sie ist in Sicherheit. An einem Ort, an dem ich mit ihr neu beginnen werde! Ein Ort, von dem sie nicht fliehen kann."
Neu beginnen im Sinne von zusammen leben? Eine Familie gründen? Simon konnte das nicht verstehen. Einerseits hasste dieser Hengst seine Familie und wollte sie alle töten, andererseits entführte er seine Mutter und wollte mit ihr eine neue Familie gründen? Das klang absurd und nicht nachvollziehbar für das kleine Fohlen. Aber er ahnte, dass das etwas war, was er vielleicht einmal verstehen würde, wenn er älter war.
Alex spitzte die Ohren mit verengten Augen. Er hatte eine etwaige Vorstellung, wie ein solcher Ort aussehen konnte. Und diese Vorstellung war keine, die sich für ihn richtig anfühlte. Jess war kein Pferd, das man gefangen halten sollte. Sie lebte von ihrer Freiheit. Nur dann konnte sie lächeln. Auch, wenn sie schon lange nicht mehr so gelächelt hatte, wie zu dem Tag, an dem sie das erste Mal zusammen auf ihrem Lieblingshügel gestanden hatten.
Noch während Alex nachdachte, ertönte das erleichternde 'Datenwiederherstellung erfolgreich, Systemneustart eingeleitet', in seinem Kopf. In diesem Moment ratterten in der Ferne schon die Rotorbläter von Hubschraubern immer näher.
Clyves Gesicht versteinerte sich, als er zum Himmel empor blickte. Er hatte schon viel zu lange gebraucht. Eine hasserfüllte Grimasse erschien auf seinem Gesicht , als dann auch noch Sirenen aufjaulten. Mit einem Ruck schleuderte er den Schocker von sich, rannte um den Wagen herum und brauste in einem Höllentempo davon. Josie und Simon galoppierten dem Wagen noch ein ganzes Stück, die Straße hinunter hinterher, bis Alex sie einholte und ausbremste.
"Wartet! Alles ist gut!", schnaubte der weiße Hengst. "Er flieht."
"Aber er hat Mama!", wieherte Josie verzweifelt. "Irgendetwas müssen wir doch tun können!"
"Abwarten", brummte Alex. "Clyve ist nicht dumm, aber er wird uns dennoch irgendwann direkt zu ihr führen. Ob er will oder nicht."
Die beiden Fohlen sahen für ihn nicht so aus, als glaubten sie ihm. Alex jedoch, hatte herausgefunden, dass Clyves Van über ein GPS-System verfügte, mit dem sein Navigationssystem betrieben wurde. Solange also Clyve den Wagen nicht ausschaltete, konnten ihn Alex Systeme so über den GPSS-Satelliten orten. Und das war der Punkt, an dem er weitermachen würde.
"Mr. O'Neill!"
Mrs. Sanders, ihre Nachbarin kam mit erschrockenem Gesichtsausdruck zu ihnen über die Straße galoppiert.
"Mr. O'Neill! Ist alles in Ordnung bei ihnen?"
"Ich lebe noch, also - ja", antwortete Alex, deutlich überfordert mit der Fragestellung. "Haben Sie die Polizei gerufen?"
Mrs. Sanders, eine ältere Lichtfuchsstute nickte. Mit ihren beiden Fohlen, Dean und Abigail spielten Simon und Josie oft Hufball, aber jetzt war daran natürlich nicht zu denken. "Ich habe Schreie gehört und ahnte, dass etwas passiert sein musste. Ach herrje, die armen Kinder. Wo ist denn eure Mama?"
"Er hat sie!", weinte Josie bitterlich. "Er hat sie mitgenommen!"
"Wer hat sie mitgenommen?"
"Er kann sie nicht weit weg gebracht haben" unterbrach Alex das Gespräch, in Gedanken versunken. "Jess verschwand, nur kurz bevor Angelica mich überwältigte. Dann kam Clyve dazu und setzte mich außer Gefecht."
"Clyve? Angelica? W...Wer?"
Mrs. Sanders war sichtlich überfragt. Alex drehte plötzlich seinen Kopf westwärts und blickte die Straße hinunter. Das Leuchten eines Leuchtturms an der Küste flimmerte über die tief hängende Wolkendecke, als der weiße Hengst interessiert das entfernte Ende der Küstenstraße fixierte.
"Mrs. Sanders. Wenn die Polizei kommt, erzählen sie ihnen, dass einer ihrer Inhaftierten Sträflinge aus dem Hochsicherheitstrakt entkommen ist. Die Leiche seiner Komplizin können sie während meiner Abwesenheit aus unserem Pool bergen. Ich bin bald wieder zurück."
Alex wandte sich zum Gehen, bevor er sich noch einmal zu der lieben Stute umdrehte, die vollkommen verstört von der Situation war.
"Sagen Sie dem Einsatzleiter, dass sich wohl ein korrupter Polizist in seinen Reihen befindet. Clyve kann sie unmöglich in der kurzen Zeit den Berg hinunter an die Küste und in den Leuchtturm geschleppt haben. Ich vermute, dass er den Streifenwagen eines Polizisten als Tarnung nutzte. Dieser Polizist war es wahrscheinlich auch, der ihn bei seinem Ausbruch unterstützt hat."
Ohne ein weiteres Wort, wandte sich der Hengst herum, beschleunigte und galoppierte, so schnell er konnte, die Küstenstraße entlang. Dass ihm seine Kinder folgten, bemerkte er kaum, zu beschäftigt war er damit, die Umgebung zu scannen und weiter auf das Signal zuzustürmen, das ihm Clyves Van vorgegeben hatte. Doch mit einem Mal erlosch dieses Signal.
Alex folgte dem letzten Punkt, den das GPS auf seiner Kopfkarte hinterlassen hatte, bevor der Van offensichtlich ausgeschaltet oder das GPS-System deaktiviert worden war. Als er jedoch sein Ziel erreichte, war klar, dass Alex mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte.
Ein riesiger Leuchtturm erstreckte sich vor ihm in den gewittrigen Nachthimmel. Es hatte inzwischen aufgehört zu blitzen, doch die drückende, schwüle Wärme lastete auf seinen Schultern, wie ein großes Bleigewicht.
Ein Ort, von dem Jess nicht fliehen konnte, in der Tat, dachte sich Alex kopfschüttelnd. Ein Ort, der nur aus Treppen bestand. Alex wusste, welch furchtbare Angst Jess seit jener Nacht vor endlosen Treppenhäusern hatte. Sie hatte seither nicht einen Huf auf eine Treppenstufe gesetzt. Clyve musste das gewusst haben. Wahrscheinlich hatte er sie deshalb hergebracht.
Aber warum so nahe an ihrem Zuhause. Warum so nahe bei ihm? Wollte Clyve ihn verspotten? Oder war er einfach nur zu faul gewesen, die wehrsame Stute über den halben Kontinent zu karren, um sie aus seiner Reichweite zu bringen?
Nein. Er hatte damit gerechnet, dass er sein Auto mit Alex und den Kindern in die Luft sprengen würde. Wäre er dann zu Huf zu dem Leuchtturm galoppiert?
Gewiss nicht.
Er hätte sich von dem korrupten Polizisten im Blaulichtgewimmel unauffällig davon kutschieren lassen. Das musste bedeuten, dass dieser Komplize noch ganz in der Nähe sein musste. Alex musste also vorsichtig sein.
Gerade wollte er durch die Tür des Leuchtturms springen, da bemerkte er das erschöpfte Schnauben seiner Kinder, hinter sich.
"Papa! Warte, das ist gefährlich!", wieherte Simon, völlig erschöpft und besorgt. Josie nickte aufgeregt neben ihm.
"Du hast selbst gesagt, dass wir jetzt nicht übermütig werden sollen!", schnaubte sie vorsichtig. "Hast du denn einen Plan?"
"Sieben zurzeit", murmelte Alex. "Mit eurem Erscheinen hat sich die Zahl jedoch auf zwölf erhöht. Aber du hast recht, Josie. Ich muss vorsichtiger sein."
"Zwölf Pläne?", keuchte Simon, angestrengt nach Luft ringend. "Und wie sehen die aus, Papa?"
"Um euch nach Hause zu bringen, ist es jetzt zu spät. Er wird eure Mutter mit Sicherheit so schnell wie möglich von hier fortbringen wollen. Wir müssen aber auch einberechnen, dass es sich hier um eine Falle handeln kann. Eine Möglichkeit ist, dass ich alleine in den Turm gehe. Wenn mich Clyve dabei aber überwältigt, dann wird euch draußen höchstwahrscheinlich sein Kollege schnappen und töten. Dann sind wir alle verloren. Deshalb werdet ihr mit mir gehen. Wenn wir zusammen bleiben, stehen unsere Chancen höher. Dann kann ich euch im Notfall beschützen."
"Wir sollen da rein gehen? Da ist es aber dunkel! Wir könnten die Treppenstufen herunterfallen und uns das Genick brechen"
"Simon, du hast einen ausgewachsenen Hengst und sein Horrorexperiment überwältigt. Wie kannst du da Angst vor einer dunklen Treppe haben?", maulte Josie ihren Bruder an. "Du bist doch viel tapferer, als du denkst!"
"Sicher... aber es ist trotzdem dunkel da drin."
Alex entschloss sich dazu, den Klagen seiner Kinder nicht länger Beachtung zu schenken. Es stand etwas auf dem Spiel, das es nicht duldete, wertvolle Zeit zu vergeuden. Darum wies er sie nur mit einem strengen Schnauben zurecht, bevor er so leise wie möglich die schwere Stahltür zum Leuchtturm aufschob. Sie war nicht verschlossen.
Mit einem mulmigen Gefühl schlichen die beiden Fohlen ihrem Vater hinterher, hinein ins Dunkel. An der Wand entdeckte Josie einen kleinen Lichtschalter, den sie umlegte und damit den Turm mit hellem Licht flutete. Das Brausen des Generators war aus den obersten Etagen zu vernehmen. Die Kuppel drehte sich, aber kein Lichtkegel schoss aus dem riesigen Scheinwerfer des Turms. Diesen konnte man höchstwahrscheinlich nur von oben einschalten.
Aber das war gar nicht das Besondere an diesem Turm. Unter ihren Hufen befand sich ein starkes Drahtgitter, das den Blick auf eine Röhre freigab, die endlose Meter unter ihren Hufen in die Tiefe hinab verlief. Eine Wendeltreppe führte an ihrem Rand entlang, stetig nach unten. Am Rand der Treppe war eine Schiene angebracht, die aussah, als würde eine Art Ladefläche darauf hinauf und hinunter fahren, auf der man schwere Gegenstände transportieren konnte. Vielleicht sogar ein ganzes Pferd, das keine Stufen mehr laufen konnte.
Alex und Simon wechselten verschwörerische Blicke, während Josie sich in dem Turm genauer umsah. Es gab hier keine Nischen, in denen sich ein Pferd verstecken konnte. Nein, nicht einmal ein abgegrenzter Bereich oder seitliche Räume führten weg vom runden Schaft des Turms. Hier waren sie allein.
Plötzlich ein Knall. Mit einem Ruck fuhren die drei Pferde herum, nur um zu sehen, dass jemand die Tür hinter ihnen verriegelt hatte. Sie saßen in der Falle! Alex hatte es geahnt. Aber solange niemand ihnen zu nahe kam, waren sie trotzdem in Sicherheit. Seine Systeme alarmierten bereits den Geheimdienst - nur zur Sicherheit - falls Higgins hier unten einmal mehr ein Geschäft aufzubauen versucht hatte.
"Paps, jemand hat uns eingesperrt!", röchelte Simon voller Angst. "Wir kommen hier nicht mehr raus!"
"Natürlich kommen wir raus, Dummi!", schnaubte Josie. "Wir müssen nur den Notausgang finden."
"Es gibt keinen", schnaubte Alex ruhig. "Uns bleibt nur die Möglichkeit, vom Turmbalkon zu springen, wenn es dort unten keinen anderen Ausweg gibt."
"Wir sollen was?!", kreischte Josie, völlig perplex. "Papa, das ist total verrückt."
"Noch gibt man uns keinen Grund dazu!", knurrte Alex mit deutlicher Strenge. "Kommt jetzt! Wir müssen da hinunter!"
Die Stufen, auf denen sie wandelten, kamen den Fohlen endlos vor. Immer dunkler wurde es, je weiter sie vordrangen. Es schien, als hätten sie nach einer Ewigkeit erst einmal die Hälfte der Strecke zurückgelegt.
"17....18...19..." murmelte Simon leise vor sich hin, als er die Stockwerke zählte, die an die Wand aufgesprüht waren. Es war merkwürdig. Fast alles sah genau so aus, wie seine Mutter es in ihrer Geschichte beschrieben hatte. Er hatte es sich ganz genau so vorgestellt. Aber Jess Erzählungen zufolge durfte dieses Treppenhaus gar nicht existieren. Es hätte unter dem Labor in Hancester liegen müssen. Und das war mit der Explosion vernichtet worden. Wie konnte das sein? Erst die verrückte Stute, die offenbar on den Toten auferstanden war, dann dieses Treppenhaus - was würde sie als nächstes erwarten? Eine plötzliche Explosion?
Ein starkes Beben unter ihnen erschütterte die Treppe, sodass die Pferde stürzten und mehrere Stufen weit die Treppe hinunter kullerten. Mit Überraschung stellten sie dann jedoch fest, dass sie bereits am unteren Ende der Treppe angelangt waren. Jedenfalls hatten sie auf einmal festen Boden unter ihren Hufen. Das wunderte Simon sehr, denn gerade eben noch hatte unter ihnen gähnende Leere geherrscht. So schien es ihm zumindest.
"Wo sind wir?", schnaubte Josie ganz vorsichtig. Ihr Vater legte die Ohren zurück, als sein Blick auf die mit roten Lettern an die Wand gesprühte 'U26' erblickte.
"Das soll wohl ein schlechter Scherz sein", knurrte er trocken. "Ich finde das nicht lustig!"
"Papa, du findest doch nie etwas lustig", murmelte Simon, der sich ängstlich an die Hinterhand seines Vaters geklammert hatte und von dort um dessen Körper herum blickte. Hier fühlte er sich sicherer.
"Stimmt", merkte Alex an. "Aber ich glaube, er versucht, mich zu verspotten. Und Pferde hassen es, verspottet zu werden. Außerdem hat sich mein Blutdruck gerade stark erhöht, meine Hufe kribbeln und meine Muskeln haben sich stark angespannt. Das ist kein gutes Zeichen - für ihn."
"Ich wäre an deiner Stelle auch stinksauer", schnaubte Simon leise. Zu oft hatte er die Geschichten aus dem berüchtigten Stockwerk U26 gehört. Was dort mit seinem Vater geschehen war, musste unbeschreiblich grausam gewesen sein. Dass Clyve ihn nun auf diese Art auf die Schippe nahm, zeigte den drei Pferden, dass er die Situation nicht ernst nahm und vor allem - dass er sie erwartet hatte.
"Da ist eine Tür!"
Simon und Alex wandten ihre Köpfe Josie zu, die aufgeregt zu einem dunklen Loch in der Wand zeigte. Der einzigen Tür hier unten in diesem riesigen, kreisrunden, fast arenaartigen Raum, in dem sie sich gerade befanden. Doch dahinter schien sich nur gähnende Leere zu befinden. Wie ein schwarzes Loch, mitten im riesigen Weltall.
"Und jetzt?", schnaubte Josie leise.
"Jetzt gehen wir da rein."
Alex trat mit energischen Schritten voran, dann sah er sich nach seinen Kindern um.
"Ihr müsst mitkommen!", sagte er mit leiser Stimme. "Wir müssen zusammen bleiben, dann kann uns keiner etwas tun."
Josie und Simon wechselten verunsicherte Seitenblicke, bevor sie schließlich nickten und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ihrem Vater ins Dunkel hinein folgten.
Hinter der Tür schien es jedoch auf einmal gar nicht mehr so dunkel zu sein. Ein kaltes, blaues Licht, das aus einem Scheinwerfer am Ende eines Ganges zu ihrer rechten flutete, schimmerte an den Wänden. Sein Schein tauchte die unterirdische Welt in ein Licht, das dem in einer Eishöhle glich und den Pferden, trotz der unerträglichen Hitze unter der Erde, einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
"Papa, woher weißt du eigentlich, wohin wir gehen müssen?", wimmerte Simon leise. Seine Augen und Ohren huschten verunsichert von Seite zu Seite, als er vorsichtig einen Huf vor den andern setzte. Mittlerweile waren sie in etliche Gänge abgebogen. Nach rechts, nach links, bis die Fohlen vollkommen vergessen hatten, wo sie sich überhaupt befanden.
Dennoch wirkte Alex, als ob er ein Ziel hatte, auf das er zuging.
"Keine Ahnung", gestand der weiße Hengst jedoch nur trocken. "Es fühlt sich einfach richtig an."
"Toll", maunzte Josie unbeeindruckt. "Wir verlassen uns also auf unser Bauchgefühl. Wir sind verloren. Wir kommen hier nie wieder raus."
"Er hat doch ein Navigationssystem", blaffte Simon seine Schwester unwirsch an. "Er hat unsere Route schon genau abgespeichert. Wir verirren uns nicht mit ihm!"
"Hey! Schau mal, da!"
Josie schien bereits ausgeblendet zu haben, dass ihr Bruder noch immer mit ihr sprach. Stattdessen hatte sie eine Tür entdeckt, die offen stand und einen hell erleuchteten Raum freigab. Bei genauerer Betrachtung sah der Raum wie ein Behandlungszimmer aus. Vorsichtig streckten die drei Pferde ihre Köpfe hinein und blickten sich um. Ein Behandlungstisch, ein Regal, eine Arbeitsfläche - alles nagelneu. Und in der Ecke ein Feldbett, auf dem ein Pferd lag.
"Mama!", entfuhr es Josie auf einmal. Nun hielt sie nichts mehr. Sie nahm Anlauf und galoppierte auf das Bett ihrer schlafenden Mutter zu. Jess schlug die Augen auf. Sie blickte in drei verwunderte Gesichter, die über ihr standen und ihr fordernd gegenüber waren.
"Was ist passiert?", fragte sie verwirrt. "Wo- wo sind wir hier."
"Clyve, das Narbengesicht hat uns eingesperrt und dich entführt", antwortete Josie mit hibbeliger Stimme. "Aber wir sind ihm entkommen und retten dich jetzt!"
"Los, komm, Mama!", drängte Simon seine Mutter. Er stupste sie energisch mit den Nüstern an, bis sie sich endlich auf ihre wackeligen Beine erhob.
"Ich kann aber nicht schnell", schnaubte sie angestrengt, bereits am Kämpfen, jetzt überhaupt noch auf ihren Hufen zu bleiben.
"Aber du musst, Mama!", japste der kleine Schimmelhengst. "Wir wissen nicht, wo Clyve steckt und wann er uns findet."
"Wäre es euch jetzt zum Beispiel angenehm?"
Die vier Pferde rissen ihre Köpfe herum, um den hässlichen, gerupften Palomino zu erblicken, der im Türrahmen stand und sie siegessicher angrinste.
"Jetzt guckt doch nicht so erschrocken. Mit Speck fängt man Mäuse. Oder in diesem Fall habe ich jetzt dank der Maus den ranzigen Speck an der Backe. Was mache ich jetzt nur mit dem ganzen Abfall?"
"Abfall? Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut?", keifte Josie ihn an. Mit ihrer Familie im Rücken, wirkte dieser Hengst nur noch halb so bedrohlich auf sie, wie im schummrigen Licht ihres düsteren Gartens. Dann fiel ihr Blick auf den Feuerlöscher an der Wand. Mit einem kräftigen Stoß in die Seite, machte sie ihren Bruder darauf aufmerksam und Simon nickte, als er ihren Plan verstand.
Clyve hatte unterdessen zornig die Nüstern gerümpft, als er mit hasserfüllten Augen die kleine, braune Stute erblickte, die sowohl ihrem Vater, als auch ihrer Mutter unheimlich ähnlich sah.
"Du siehst aus, wie eine Trockentomate. So runzlig und faltig!", schnaubte sie weiter. Clyve bleckte die Zähne und begann zornig mit dem Schweif zu schlagen. "Ich wette meine dass meine Mama niemals einen so hässlichen Hengst lieben könnte! Du siehst echt aus, wie Frankensteins Monster!"
"Es reicht, du vorlaute Bratze!", brüllte er zornentbrannt, als er langsam näher kam. "Mir ist zu Ohren gekommen, dass du einen Computer im Kopf cool findest. Mal sehen, wie cool du ihn noch findest, wenn ich mit dir fertig bin!"
Clyve stieg auf die Hinterbeine, bereit, Josie von den Beinen zu reißen, da tönte ihr schadenfrohes "Simon! JETZT!" durch den Raum. Clyve wollte sich gerade nach dem Fohlen umsehen, da traf ihn ein Strahl weißer Löschschaum mitten in sein gesundes Auge. Der goldene Hengst verlor das Gleichgewicht, stürzte und verschaffte der Familie so die perfekte Fluchtgelegenheit.
Jess gab ihr Bestes, um so schnell wie möglich hinter ihrer Familie herzukommen, doch ihre Beine waren so schwach und wackelig, dass sie ihr keine schnellen Gangarten erlaubten. Stattdessen eilte sie ihren Kindern in einer Gangart zwischen Schritt und Trab hinterher. Es war jedoch klar, dass sie so nicht besonders weit kommen würden, bis Clyve sein Gesicht vom Löschschaum befreit hatte und wieder auf die Beine kam.
Und tatsächlich. Sie waren kaum um die ersten beiden Ecken gekommen, da vernahmen sie das wutentbrannte Gebrüll des Hengstes, der offenbar ganz und gar nicht froh darüber war, dass seine Gefangenen sich aus dem Staub zu machen versuchten.
"Ja, lauft nur! Lauft! Ich kriege euch ja sowieso, ihr Idioten! Weit kommt ihr nicht!"
Simon machte den Fehler, den Kopf nach hinten zu wenden, um über seine Schulter zu blicken. In diesem Moment erblickte er den Hengst, der mit von dem Löschschaum verklebten und zerzausten Mähne um die Kurve schlitterte. In seinem Maul trug er eine silbrig glänzende Waffe und schoss.
Der Schuss verfehlte Simon nur um Haaresbreite. Clyve musste außergewöhnlich geübt im Umgang mit dieser Waffe sein, wenn er aus dieser Entfernung noch einen gezielten Schuss zustande brachte.
Alex blickte mit wilden Augen herum, als er den Knall hörte, stemmte die Hufe in den Boden, sprang auf der Hinterhand herum und seinem Feind entgegen. Clyve legte perplex die Bremse ein, bevor die beiden Hengste miteinander kollidierten und Alex den Palomino ohne Vorwarnung brutal von den Hufen riss und seinen Kopf mehrfach gegen die steinerne Wand rammte, die den Gang begrenzte. Benommen taumelte Clyve zurück auf die Beine, ohne von seiner Waffe abzulassen.
"Lauft!", brüllte Alex unterdessen. "Lauft! Ich halte ihn auf!"
Die Fohlen fackelten nicht lange, sprangen an die Seite ihrer Mutter, die stumm und mit weit aufgerissenen Augen den Kampf verfolgte, bevor sie sie durch Zupfen und Ziehen zum Weitergehen drängten.
"Wo sind wir vorhin noch einmal entlang gelaufen?", schnaubte Josie verwirrt. "Papa kann uns jetzt nicht führen!"
"Zweimal links, einmal rechts, dann geradeaus, dann wieder links, dann rechts, dann zweimal geradeaus.... dann bei der Weggabelung den rechten Gang und dann..."
"Simon, du hast dir das alles gemerkt?", schnaubte Jess verblüfft. Ihr Sohn blickte sie aus stolzen Augen an und nickte.
"Fotografisches Gedächtnis. Außerdem sagte mir jemand mal, dass ich mutiger bin, als ich denke. So wie Papa! Und ich kann ganz genauso sein wie er, wenn ich nur möchte!"
Dankbar blinzelte Simon zu Josie herüber, die mit rollenden Augen genervt aufseufzte.
"Wenn du dann mal fertig mit deiner Klischeehaften Moralverkündung bist, würdest du dich dann erwärmen, uns zu sagen, wohin wir müssen?"
Simon legte einen ernsteren Gesichtsausdruck auf und musterte die Gänge. "Links!"
Mit einem Sprung folgten die beiden Stuten seiner Anweisung, rannten den kleinen Hengst jedoch gnadenlos über den Haufen, der in letzter Sekunde ein "Das andere Links" in den Raum warf.
Immer wieder wechselten sie die Richtung, rannten durch dunkle Gänge und enge Gassen, bis sie schließlich endlich durch die Tür rasten, die zurück zu der Wendeltreppe führte, die den Leuchtturm hinauf stieg.
"Oh nein!", japste Jess, die in der Finsternis nur die silbrigen Stufen der Treppe erkannte. Ihr gesamter Körper spannte sich an. Zwei, drei Schritte führten sie zurück. Doch ihre Kinder blickten sie nur verständnislos an.
"Mama! Das ist nur eine Treppe!", schnaubte Josie, doch Jess schüttelte vehement den Kopf.
"Nein, ich kann nicht! Meine Beine machen das nicht mit. Ich gehe keinen Schritt weiter!"
"Mama! Du bist gerade mindestens einen Kilometer weit galoppiert! Und das, obwohl du immer sagst, du könntest nicht mehr galoppieren!", maulte Simon seine Mutter an, die plötzlich verblüfft die Augen aufschlug und dann zurück in den dunklen Gang blickte.
"Ich bin... was?"
"Galoppiert, Mama! Du bist richtig gerannt!" Josies Augen leuchteten, als sie fröhlich auf und ab hüpfte.
"Du kannst das, wenn du einfach ausblendest, was damals passiert ist!", wieherte Simon. "Wenn du einfach nicht daran denkst, schaffst du diese Treppe ganz schnell, Mama!"
Jess Blick richtete sich wieder auf die Treppe, doch ihre Beine blieben noch immer stocksteif. Noch schlimmer wurde es, als sie die an die Wände gesprühten Zahlen sah, die genau wie die aus ihrer Geschichte aussahen.
"Nein... neinein, das kann nicht sein!", zitterte sie. "Ich bin nicht wieder hier. Ich bin nicht hier, das existiert nicht mehr. Dieser Ort ist TOT!"
Jess Augen fixierten einen Punkt fern abseits des Raumes. Ihre Reaktion war den Fohlen ein Rätsel, dennoch spürte Simon, dass seine Mutter kurz davor war, eine Panikattacke zu erleiden. Sie atmete schwer und viel zu schnell, tänzelte auf der Stelle und hatte den Schweif weit zwischen die Beine geklemmt.
"Leute, hört ihr das? Ich glaube Papa kommt!", unterbrach Josie die Situation. Alle drei Pferde blickten nun in den dunklen Gang, aus dem sie soeben gekommen waren. Ein laues Hufgetrappel aus der Ferne wurde immer lauter, bis es schließlich direkt vor ihnen war und dann verstummte. Doch in der Dunkelheit war kein Pferd zu sehen.
"Alex?", rief Jess ins Dunkel, erhielt jedoch keine Antwort. Stattdessen erhob sich ein dunkles Grollen und ein hämisches Lachen in der Dunkelheit, welche immer lauter wurden.
"Lauft", keuchte Simon schockiert. "LAUFT!!!"
Doch es war bereits zu spät. Aus der Dunkelheit schoss ein heller, von Blut und Schaum verklebter Körper, warf sich auf die beiden Fohlen und umfasste sie mit seinen Vorderbeinen und Zähnen, sodass sie keine Möglichkeit hatten, sich von ihm loszureißen.
"Du denkst also wirklich, dass ich dein hochheiliger Alex bin? Das Pferd, das niemals deine Liebe erwidert und der dir nie auch nur einen Wunsch von den Augen abgelesen hat? Der Hengst, den du damals über die bedingungslose Liebe eines Hengstes gewählt hast, der dir Reichtum, Macht und ein Leben ohne Sorgen angeboten hat? Meinst du diesen Hengst?"
Jess schüttelte wie in Trance den Kopf, als sie langsam rückwärts vor dem verrückten Pferd zurück wich. In ihren Augen sammelten sich Tränen der Verzweiflung.
"Bitte! Clyve, lass sie gehen! Sie sind doch noch Kinder!"
"Dich immerzu aus der Ferne zu beobachten, wie du so tust, als ob du mit diesem beschränkten Pferd glücklich wärst ist ein Fluch, den du garantiert nicht leben willst, Jessica. Es hätten meine Kinder sein können, verstehst du? Sie sind aber nicht meine Kinder. Es sind nicht meine...!"
"Aber es sind meine!", japste Jess verzweifelt. "In jeder Ader, in jeder Vene, in jedem Atemzug sind sie ein Teil von mir, Clyve! Willst du wirklich einen so großen Teil von mir einfach zerstören? Willst du das wirklich?"
Clyves Augen verengten sich zu Schlitzen. "Du meinst in etwa so, wie du den verbliebenen Teil von mir zerstört hast, der noch nicht vollständig verkorkst war? Ja, genau so! Ich will, dass du genau jenen Schmerz spürst, den ich damals gespürt habe! Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und dann werde ich dich vergessen lassen. Du wirst sehen, dass danach alles wieder besser werden wird, sobald du von all diesen Lasten befreit sein wirst."
Clyves Zähne schlossen sich fester um Josies Nacken, sodass es sich anfühlte, als ob ihre Knochen dem Druck nicht länger standhalten würden.
"Irgendwelche letzten Worte zu deiner kleinen, vorlauten Tochter, die meinte, mir ihr freches Mundwerk anzuhängen? ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich sie zuerst töte. Ich hege einen Groll gegen Pferde, die keinen Respekt vor mir haben!"
"Halt warte!", schrie Jess verzweifelt. Clyves Zähne lockerten sich für den Bruchteil einer Sekunde von Josies Hals, was die junge Stute nutzte, um sich loszureißen und Clyve mit voller Wucht in die Seite auszukeilen. Der große Palomino war gerade im Inbegriff, Josie dafür das Fell über die Ohren zu ziehen, als aus der Tür ein zweites Pferd geschossen kam und ihn davon abhielt.
"Du schon wieder?", keifte Clyve. "Ich glaube langsam wirklich, dass ich dich unsterblich gemacht habe, du beschissene Ausgeburt der Hölle!"
"Ich mache genau das, worauf du mich programmiert hast, Higgins! Schützen und töten! Sterben gehört nicht zu meinen Programmpunkten!"
"Du bist ja so witzig!" Clyve spuckte Blut vor sich auf den Boden, das wohl aus einer Wunde an seiner Zunge troff. Er hatte sich wohl auf die Zungenspitze gebissen.
"Und du bist allein. Und ohne Waffen", ergänzte Alex. "Soll ich dir deine Überlebenschance in einem waffenlosen Gefecht mit mir ausrechnen? Willst du, dass ich sie dir in Prozent nenne oder soll ich dir ein Kreisdiagramm auf dein Handy senden? Dann kannst du es mit deinen Ex-Angestellten 'sharen', deren Leben du ebenfalls zerstört hast! Sie würden sich sicher über diese Nachricht freuen."
"Du verspottest mich!", knurrte Clyve. "Ja, du verspottest mich! Wie ist das möglich?"
"Das habe ich von dir gelernt. Sehen und imitieren - meine Programmierung zur perfekten Anpassung in jeder Situation. Du fandest wohl auch die Nachstellung des Labors hier unten lustig, nicht wahr? Du demütigst Jess und du versuchst auch mich zu demütigen. Ein Jammer, dass ich nicht für Demütigung zu haben bin. Aber ich weiß ganz genau, was sie bedeutet. Und wie man sie herbei ruft."
"Fahr zur Hölle!", wieherte Clyve erbost. Er stand Alex starr wie eine Statue gegenüber. Nur seine zuckenden Ohren verrieten, dass er gerade darüber nachdachte, was er wohl als nächstes tun würde. Einen Kampf gegen Alex würde er verlieren, das wusste er. Ihm blieben zwei Möglichkeiten.
Die erste war aufgeben, was für ihn nicht infrage kam. Die zweite war, Alex anzugreifen und ihn auszuschalten - koste es, was es wolle. Allerdings hätte ihn das einiges mehr an Fertigkeiten abverlangt, als er besaß. Er musste also einen Mittelweg wählen. Sein Blick fiel auf Jess, die noch immer an Ort und Stelle stand und ihn aus verängstigten, verheulten Augen anstarrte.
Ohne Vorwarnung machte er einen Satz auf sie zu. Jess hatte seinen Blick jedoch bemerkt und war beinahe auf seinen Angriff gefasst gewesen, denn sie sprang herum und auf die Treppe zu. Ihre Kinder folgten ihr.
Der Palomino jagte und hetzte den Pferden hinterher und traute seinen Augen nicht, als Jess die ersten paar Stufen der Treppe übersprang. Wie ein Wirbelwind raste sie die Stufen hinauf, als wäre die Verletzung ihrer Hinterbeine nur ein böser Traum gewesen.
Doch der goldene Hengst gab seine Jagd nicht auf. Keuchend und brüllend jagte er die Pferde die Stufen hinauf. Weiter und weiter. Irgendwann würde Jess dem Druck nicht mehr standhalten und sie würde stürzen.
Simon schrie entsetzt auf, als Clyve nach seinem Schweif schnappte und ihn zurück zog. Er kickte und trat und boxte nach dem bosartigen Pferd, das seiner Familie schaden wollte, doch Clyve riss ihn einfach von den Beinen, schleuderte ihn auf den Stufen nieder und schob ihn an den ungeschützten Rand der Treppe, die kein Geländer besaß.
Als Simon den kopf wendete, erblickte er tiefe Schwärze unter sich. An seinen Flanken spürte er den Druck von Clyves Hufen, die ihn weiter und weiter über die Kante der Treppe schoben. Er würde fallen. Er würde sich das Genick brechen und er würde hinunter fallen!
Mit einem Schrei vor Ehrgeiz strampelte Simon weiter und schaffte es gerade noch, sich wieder zurück auf die Treppe zu ziehen, da beobachtete er, wie Clyve von Alex zurückgedrängt wurde.
"Lauf!", befahl ihm sein Vater mit lauter Stimme. Simon nickte nur und schickte sich dann, den Rest seiner Familie einzuholen.
Als die Pferde dann endlich das Erdgeschoss des Turmes erreicht hatten, hämmerten sie verzweifelt an die Tür. Doch die war noch immer verschlossen. Sie mussten hier raus! Aber wie?
Simon erinnerte sich, dass sein Vater gesagt hatte, sie müssten aus dem Obergeschoss des Turmes springen, wenn sie hier heraus wollten. Aber wie sollten sie einen Sturz aus dieser Höhe überleben? Sollten sie ins Meer springen? Aus der Höhe war selbst das ein lebensgefährliches Unterfangen.
Aber was blieb ihnen denn als Ausweg? Die Tür einzuschlagen war unmöglich - zu stark war der gepanzerte Stahl, aus dem sie gebaut war.
"Was sollen wir tun?", keuchte Josie, völlig erschöpft. Ihre Schultern waren schaumig und nass vor Schweiß, doch in ihren Augen loderte noch immer das Feuer der Hoffnung. Sie würde jetzt nicht aufgeben!
Ratlos standen die Pferde auf dem merkwürdigen Metallgitterboden. Es war verdächtig ruhig in dem Turm, doch mit einem Mal änderte sich dieser Zustand, als von ganz unten aus dem Turm ein tiefes Grollen ertönte. Mit einem Mal begann der Boden unter ihnen erneut zu wackeln und zu beben.
Als die Pferde sich kaum noch auf den Beinen halten konnten, kam auf einmal Alex die letzten Stufen der Treppe hinauf geschossen. Er verharrte keine Sekunde, sondern steuerte zielstrebig auf die Wendeltreppe nach oben zu.
"Er ist hinter mir! Hinauf! Hinauf! Los jetzt! Beeilt euch!", wieherte er fordernd. Seine Familie zögerte nun nicht mehr. Der Turm begann bereits gefährlich zu knarzen und es kam Simon so vor, als ob er tief unter ihnen das metallische Kreischen zerreißender und herabfallender Stufen hörte.
Stufe für Stufe raste er hinter seiner Familie her, die bereits einen beachtlichen Vorsprung hatte. Ängstlich blickte Simon zurück und erblickte den Palomino, der sich in letzter Sekunde auf die rettende Gitterebene rettete, bevor die Treppe hinter ihm in Schutt und Asche zerfiel. Dann erblickte er Simon und die anderen und raste nun auch noch die zweite Treppe hinauf.
Simon gab alles, um den Gipfel des Turmes zu erreichen und als er endlich oben angekommen war, warteten seine Eltern bereits auf ihn.
"Er kommt! Was jetzt?", fiepte er aufgeregt und voller Panik.
"Wir springen!", prophezeite ihm Alex mit voller Ernsthaftigkeit. Simon wagte einen Blick über die Bande und fand sich über einem scheinbar hunderte Meter tiefen Abgrund wieder.
"Die Polizei hat ein Sprungkissen für uns aufgeblasen. Ich habe sie schon zu Beginn informiert, dass das von Nöten werden könnte", schnaubte er gelassen. Ein weiterer Blick nach unten bestätigte seine Behauptung. Nur wirkte das Sprungkissen von hier oben winzig klein. War sein Vater verrückt geworden? Wie sollte ein so winziges Kissen einen Sprung aus dieser Höhe überhaupt abfedern? Sie würden sich doch alle Knochen brechen, wenn sie unten ankamen.
"Ich will aber nicht zuerst springen!", japste der kleine Rappe zitternd.
"Ich gehe zuerst. Dann seht ihr, wie ihr das machen müsst und dass alles in Ordnung ist!", schnaubte Alex vorsorglich, nahm Anlauf und sprang dann über die Bande hinweg. Er drehte sich im Fallen auf den Rücken, während sein schneeweißer Körper immer kleiner wurde und schließlich unten auf dem Sprungkissen aufkam. Dann regte er sich, kletterte wohlbehalten von dem Kissen herunter und winkte ihnen dann zu.
"Josie, du springst als nächstes!", entschied Jess. Josie nickte mit entschlossenem Blick und folgte ihrem Vater. Auch sie kletterte offensichtlich unverletzt unten wieder von dem Kissen herunter.
"Simon, jetzt du!", schnaubte Jess. "Ich folge dir dann!"
Simon zögerte. Er wollte nicht springen. Er hatte tierische Angst! Was war, wenn er sein Ziel verfehlte und daneben aufprallte? Er würde außerdem seine Mutter alleine hier oben zurücklassen!
"Jetzt spring schon!", drängte Jess. "Wir wissen nicht, wie lange Clyve noch brauchen wird, um hier hoch zu kommen! Ich bin die Treppen hinaufgerannt, obwohl ich lange Zeit nicht galoppieren konnte und du schaffst es auch, über deinen Schatten zu springen! Los, Simon!"
Doch Simon traute sich nicht. Seine Beine waren wie aus Blei gegossen.
Plötzlich knallte es hinter ihnen, als ein äußerst zorniger, klatschnasser Clyve die Tür zm Balkon aufriss und keuchend mit einem bestialischen Grinsen im Gesicht langsam auf sie zukam.
Simon merkte, wie Clyve seine Mutter fixierte und mit gesenktem Kopf auf sie zuging, dabei immer schneller wurde und schließlich zum Sprung ansetzte. Er erkannte sich selbst nicht mehr, als seine Beine sich vom Boden abstießen und er gegen den ausgewachsenen Hengst prallte, der noch im Flug gegen die Bande geworfen wurde, die unter seinem gewaltigen Gewicht zerbarst. Clyve versuchte, mit den Hufen Halt zu finden, rutschte jedoch ab. Das Einzige, was er zu fassen bekam, war Simons Vorderbein, welches er fest mit den Zähnen umschloss, als er abstürzte und das Fohlen dabei mit in die Tiefe riss.
Das letzte, was Simon sah war seine Mutter, die über den Rand des Balkons blickte und entsetzt seinen Namen rief. Dann kam der Aufprall.
Mit einem schmerzhaften Stöhnen rieb sich Simon seinen Kopf, als er die Augen in der nachtfinsteren Umgebung aufschlug. Wo war er? Was war passiert? Unter seinem Körper war Gras, doch als er sich umblickte, war weit und breit kein Clyve zu sehen, obwohl es ihm vorkam, als ob sich neben ihm ein tiefer Abdruck befand, der unmöglich von seinem eigenen Absturz hatte stammen können. Simon verschuldete das jedoch seiner noch immer geknickten Optik, die ihn noch immer nicht geradeaus blicken ließ.
Nach Luft schnappend meinte er, die Umrisse seines Zuhauses zu erkennen. Er lag draußen auf dem Rasen neben der Garage und alles schmerzte fürchterlich. In seinem Kopf drehte sich alles. Was war geschehen?
Als er zu dem kleinen Dachbodenfenster über der Garage blickte, erkannter er verschwommen die Gesichter seiner Schwester und das seines Vaters, die zu ihm herunter blickten.
"Simon! Um Himmels Willen, ist dir etwas passiert?"
Der junge Hengst erkannte die Stimme seiner Mutter, die durch die Haustüre geeilt kam und ihn dann besorgt anstupste, doch auch ihre Silhouette war bizarr verzerrt. Sein Kopf tat so fürchterlich weh. Und dennoch verbesserte sich sein Zustand nicht. Es kam ihm fast vor, als verschlimmerte sich das Wummern in seinem Kopf, das ihm solchen Schwindel bereitete. Fast, wie bei einer Lachgasbetäubung bei einem Zahnarzt, nur viel, viel unangenehmer. Was das auch war... es war keine Gehirnerschütterung.
"Josie und Papa. Sie sind von einem Leuchtturm gesprungen", murmelte Simon verwirrt. "Du warst auch da, Mama. Ich habe dich vor Clyve, dem Narbengesicht gerettet!"
"Ach du liebe Güte! Alex, ruf einen Krankenwagen!", wieherte Jess zu ihrem Gefährten hinauf.
"Habe ich schon vor zwei Minuten und siebzehn Sekunden getan. Er sollte in vier Minuten und dreiundvierzig Sekunden da sein."
Jess brachte Simon in eine bequemere Seitenlage, denn er war einfach nicht in der Lage, von selbst aufzustehen. Ihm war so furchtbar schwindelig, aber er war zu Hause. Es war also alles nur ein Traum gewesen? War er schlafgewandelt?
"Mein Schatz, alles wird gut. Gleich kommt ein Arzt für dich!", versuchte seine Mutter ihn zu beruhigen. "Ich wünschte, ich hätte dich davon abhalten können, von diesem Dach zu springen. Aber wir haben es leider erst gesehen, als es zu spät war. Aber die verdammte Treppe zum Dachboden..."
"Mama. Du kannst das doch. Vergiss einfach, was passiert ist. Du bist stärker, als du denkst..."
Eine Träne kullerte seiner Mutter die Wange herab. "Du musst dich ausruhen, mein Schatz. Alles wird gut."
In diesem Moment kam der Rettungswagen bei ihnen an und die Ärzte luden Simon auf eine Barre, um ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Jess, Alex und Josie standen bei ihm und trösteten ihn. Simon hatte Schwierigkeiten, wach zu bleiben. Er war so müde. Und es kam ihm vor, als vergaß er mit jeder Sekunde mehr von seinem Traum der letzten Nacht. Außerdem juckte ihn ein Stich an seinem Hals, an dem er sich nicht kratzen konnte, weil die Ärzte ihn auf der Barre befestigt hatten, um ihn sicherer zu transportieren.
"Angelica ist wirklich ein hässliches Pferd. Aber Clyve ist hässlicher. So halb gerupft und er ist auf einem Auge blind. Das ist aber sein Nachteil. Er sieht nicht, wenn man von rechts kommt", lächelte Simon seiner Mutter schwach zu, als man ihn zum Auto brachte. Seine Mutter schien jedoch aus allen Wolken zu fallen.
"Ich... ich habe dir niemals erzählt, welche Seite es bei ihm getroffen hat...", schnaubte sie erschrocken, bekam jedoch keine weitere Möglichkeit, bei ihrem Sohn nachzuhaken.
Simons Blick fiel auf die Häuser der Nachbarschaft, als die Ärzte ihn vorsichtig in den Krankenwagen schoben. Und im letzten Moment, bevor er einschlief, meinte er gerade noch, die hellblauen Augen und die silbrig weiße Mähne eines Pferdes im Schatten der Straßenlaternen aufblitzen zu sehen, bevor es im Dunkel der Nacht verschwand.
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