Kapitel 3

In dieser Nacht schlief Jess ganz fürchterlich. Andauernd zog der letzte Blick des entflohenen Experiments vor ihrem geistigen Auge vorbei und sie fragte sich, wo er jetzt wohl stecken mochte.

Unruhig wälzte sie sich in ihrem Bett hin und her, bis sie sich dazu entschloss, Clyve anzurufen, um ihn zu fragen, ob das Experiment bereits eingefangen war.

»Jess, weißt du, wie viel Uhr es ist?«, tönte Clyves Stimme verschlafen vom anderen Ende der Leitung. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, gerade Clyve anzurufen. Doch Jess wusste nicht, was sie sonst tun sollte.

»Vier Uhr morgens, warum?«

»Nicht gerade die Uhrzeit, um den Ex-Freund aus den Federn zu scheuchen. Was ist los?«

Jess zögerte. Sollte sie ihm erzählen, was sie heute gesehen hatte? Sie entschloss sich dazu, es erst einmal für sich zu behalten.

»Habt ihr es schon gefunden?«

Clyve schwieg für einen kurzen Moment, bevor er seufzte. Keine Antwort war auch eine Antwort.

»Aber wenn wir es finden, bekommt es eine ordentliche Ladung Kugeln unter den Pelz gejagt. Du brauchst keine Angst zu haben, Jess.«

»Ich habe keine Angst!«, schnaubte Jess entrüstet und legte die Ohren genervt an, als sie Clyve am anderen Ende der Leitung gönnerhaft lachen hörte.

»Leg dich schlafen! Spätestens morgen haben wir es gefunden. Wir können die Stadt ja nicht die ganze Woche lang lahm legen.«

»Gute Nacht«, presste Jess zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und legte steif den Hörer auf. Das war ja wohl die beste Idee des Jahrhunderts gewesen. Seufzend ließ sie sich zurück auf ihr Bett fallen, als plötzlich draußen eine Mülltonne schepperte.

Mit klopfendem Herzen stand Jess aufrecht im Bett und lauschte. Da war jemand vor ihrem Haus. Sie versuchte etwas durch ihr Schlafzimmerfenster zu erkennen, doch es war stockfinster.

Flink schnappte sie sich eine Taschenlampe und schlich sich die Treppe hinunter in den Flur.

Ihre Haustüre stand offen. Jess schlug das Herz bis zum Hals. War bei ihr eingebrochen worden?

Doch anstatt sich in Sicherheit zu bringen und die Polizei zu rufen, wie jedes andere Pferd auch, ging Jess auf die Küche zu, wo sie eifriges Klappern und Rascheln des ungebetenen, nächtlichen Gastes hörte.

Jess schluckte laut, als sie in die Tür trat und der Lichtkegel ihrer Taschenlampe auf einen pechschwarzen Hengst mit struppigem, ungepflegtem Fell stieß, der einen Großteil ihrer Haushaltsgeräte in einen Sack gestopft hatte und nun mit im Licht der Taschenlampe glühenden Augen Jess direkt anstarrte.

Einen Herzschlag lang standen sich die beiden Pferde nur regungslos gegenüber, bis ein weiteres Pferd Jess von hinten überwältigte, sie wieder auf den Flur hinaus zerrte und sie dabei mit einem Handtuch strangulierte.

Das struppige, schwarze Pferd sprang aus der Küche und begann damit, auf Jess einzustampfen.

Die braune Stute trat vor Angst wiehernd um sich, doch schon bald rang sie nur noch verzweifelt nach Luft, völlig unfähig, sich auch nur noch einen Millimeter zu bewegen.

»Was machen wir jetzt mit ihr? Lassen wir sie hier liegen?«, hörte sie den struppigen Hengst seinem Kollegen zu murmeln. Der Komplize, ein dunkelbrauner mit einer markanten Laterne beugte sich über sie und schnaubte ihr feucht ins Gesicht.

Als Jess die Augen aufschlug und der Hengst bemerkte, dass sie ihn gesehen hatte, trat er mit erhobenem Kopf und angelegten Ohren zurück.

»Hol ein Messer aus der Küche, Ray. Ein langes, scharfes Messer.«

Jess zuckte zusammen, als sie den schweren Huf des Anführers auf ihrem Hals spürte. Der struppige Hengst streckte seinen Kopf nach kurzer Zeit bereits aus der Küche und warf dem dunkelbraunen Anführer ihr scharfes Schneidemesser zu, das dieser geschickt mit den Zähnen am Griff auffing und ausholte, um es Jess in den Hals zu stoßen.

In diesem Moment tauchte hinter ihm eine bleiche Gestalt auf und riss ihn mit einem gezielten Tritt zu Boden.

Jess schaffte es irgendwie, wieder auf die Beine zu springen und sich ein Stück die Treppe hinauf zu schleppen. Hinter dem Geländer ihrer Treppe geduckt, erkannte sie das Experiment, das mit gesenktem Kopf auf den Anführer der Einbrecher zuging und dabei immer wieder geschickt den scharfen Messerhieben seines Gegners auswich, der sofort wieder aufgesprungen war.

Es war, als könne er jeden Schritt seines Gegenübers voraus sehen, denn er reagierte manchmal sogar bereits, bevor der Hengst zum Messerstich ausholte.

Als ein weiterer Messerhieb ins Leere traf, sprang der weiße Hengst nach vorne, stieg auf die Hinterbeine und trat ihm mit den Vorderhufen dermaßen heftig ins Gesicht, dass der Einbrecher das Messer fallen ließ und schnaufend, mit einer blutigen Platzwunde an der Backe zu Boden stürzte.

Das Experiment ergriff das Messer mit einer flinken Bewegung vom Boden, warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Einbrecher und schlitzte ihm unter dem wilden Gewirbel von um sich tretenden Pferdebeinen die Kehle auf. Blutgeruch erfüllte die Luft.

»Jeff!«, schrie der struppige Rappe, der vom Kücheneingang aus alles beobachtet hatte. Jeff, der dunkelbraune Hengst schrie vor Schmerzen, während Stöße von Blut aus seiner Kehle schossen. Nach kurzer Zeit begann der Hengst wild zu zucken, während der rote Lebenssaft schnell und in großen Mengen aus seinem Körper wich.

Sein Kollege hatte inzwischen das Weite gesucht, doch das Experiment eilte ihm nach draußen hinterher, riss ihn von den Beinen und kämpfte mit dem panischen Rappen, der jedoch nichts als Flucht im Kopf hatte.

Schließlich peilte das Experiment sein Ziel an und rammte ihm das Messer durch die entblößte Kehle hindurch in den Schädel hinein.

Die Bewegungen des Rappen erstarben bereits nach wenigen Sekunden und er blieb regungslos vor Jess Haustür liegen.

Jess zitterte und atmete stockend. Sie konnte einfach nicht fassen, was hier soeben passiert war.

»Alles in Ordnung?«, hörte sie eine Stimme von der Haustüre aus rufen. Jess zuckte zusammen, als sie das Experiment erblickte, das sie wieder mit seinen kalten, dunklen Augen an fixierte.

Sie nickte mit weit aufgerissenen Augen und wischte sich einige Tränen an ihrer lockigen Schulter ab, während sie beobachtete, wie das Experiment die Leiche in Jess Flur ansah und sein Blick dann wieder zu ihr hinauf glitt.

»Du solltest das vielleicht sauber machen. Ruf am besten gleich die Polizei. Ich lasse das Messer hier. Beseitige meine Spuren und schiebe es auf Notwehr. Gute Nacht!«

Mit diesen Worten verschwand er wieder. Einfach so. Kein Trost. Nichts.

Jess brauchte eine Weile, bis der Wackelpudding aus ihren Beinen wieder so weit gewichen war, dass sie laufen konnte, ohne, wie eine Betrunkene herum zu stolpern.

Zitternd wählte sie die Nummer der Polizei und erzählte, dass bei ihr eingebrochen worden war und sie die beiden Einbrecher in Notwehr getötet hatte.

Die ganze Nachbarschaft war von dem Tumult geweckt worden und alle kamen, um Jess Beistand zu leisten. Keiner jedoch hatte das Experiment gesehen, das ihr zu Hilfe geeilt war.

Ihre Nachbarin brachte ihr sogar warme Milch und Kekse und auch Clyve war sofort an Ort und Stelle, um Jess eine Schulter zum Anlehnen zu bieten.

In diesem Moment war Jess froh, dass sie ihm am Tag zuvor keine zu harte Breitseite gegeben hatte. Sie hatte nur wenige Freunde und war daher froh, wenn sie jemanden hatte, der ihr bei Kummer zur Seite stand.

Clyve bot ihr an, die Nacht bei ihm zu verbringen, was Jess dankbar annahm. Die Polizei und die Putzkolonne würden mehr als nur eine Nacht damit beschäftigt sein, die Leichen zu bergen und die Unmengen an Blut in Flur, Küche und Eingangsbereich zu beseitigen.

Doch selbst Stunden später, als sie eng an Clyve gekuschelt im Bett lag, war es ihr als würde sie beobachtet. Als Jess aus dem Fenster sah, erblickte sie jedoch nichts, außer einem Waschbären, der sich an einer Mülltonne zu schaffen machte.

Durch diese Tatsache beruhigt, schmiegte sich Jess wieder an die Schulter ihres Ex-Freundes. Und zum ersten Mal seit so vielen Jahren fühlte es sich nicht einmal falsch an.

Clyve legte seinen Hals schützend über den ihren, als er bemerkte, dass ihre Gedanken wieder zurück zu den Geschehnissen der letzten Stunden glitten.

»Ich bin hier. Ich pass' auf dich auf!«, flüsterte er ihr leise ins Ohr und gab ihr einen sanften Kuss, während sie so ins Traumland hinüber glitten.

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