Kapitel 39 - Aussprache

»Und er hat sich echt bei Joe entschuldigt?«, fragte Jess verwundert. Seit einer halben Stunde war sie schon mit ihrer Schwester unterwegs zu dem Treffpunkt, den Clyve ihr angegeben hatte. Seite an Seite marschierten die beiden Stuten den schmalen Gehweg, an der Uni vorbei, auf die Bibliothek zu. 

Die Spätsommersonne stand hoch am Himmel und tauchte die bereits gelb werdenden Bäume in goldenes Licht. Hin und wieder wehte ihnen ein welkes Blatt um die Ohren, als die letzten warmen Sonnenstrahlen des Sommers auf sie herab schienen. 

»Ja, hat er«, antwortete Debbie nachdenklich. »JJ meinte, er sei wirklich sehr freundlich gewesen und hat sich für alles tausendfach entschuldigt. Sie haben sich jetzt darauf geeinigt, dass sie das ganze einfach als kleinen Unfall ansehen. JJ meinte, dass sie wahrscheinlich in zehn Jahren über diesen Vorfall lachen werden.«

»Und die Sache mit den k.o. Tropfen?«, fragte Jess vorsichtig. Debbie schwieg plötzlich, als ob sie nicht weiter über das Thema reden wollte. Die Schritte ihrer Hufe klangen laut in ihren Ohren, als sie vor sich hin schritten. Selbst das Rascheln eines Eichhörnchens in den Baumkronen über ihnen war laut im Kontrast zu ihrer plötzlich verstummten Unterhaltung. Schließlich hob die hübsche Fuchsstute neben Jess den Kopf, lächelte und schnaubte ein belangloses »Hat sich jetzt ja eh erledigt, oder?«.

Jess nickte mit traurig hängenden Ohren. »Ich hatte so sehr gehofft, dass er der ist, für den ich ihn gehalten habe. Dass er ... anders ist.«

»Verstehe ich«, murmelte Debbie andächtig. »Ich habe mich auch sehr in ihm getäuscht. Eigentlich ist es meine Schuld, dass ich dich überhaupt auf ihn aufmerksam gemacht habe. Wäre ich nicht gewesen, hättet ihr euch wahrscheinlich nie kennen gelernt. Dann wäre dir das alles erspart geblieben.«

Jess blieb abrupt stehen und legte ihren Hals über den ihrer Schwester. »Sag das nicht! Dich trifft überhaupt keine Schuld! Ich war es doch, die sich überhaupt auf ihn eingelassen hat. Außerdem hätte es sicher nicht lange gedauert, da wäre er von sich aus auf mich zugekommen.«

Die beiden Stuten seufzten im Chor, traten voneinander zurück und blickten sich tief in die Augen.

»Ich war so eine naive, dumme Gans«, schnaubte Debbie entschuldigend. »Du hattest so viel um die Ohren und dann komme ich auch noch mit meiner undurchdachten Zukunftsplanung um die Ecke und mache alles nur noch schlimmer.«

Jess lächelte sanft und kniff ihrer Schwester dann frech mit den Zähnen in die Wange.  »Ach Debbie. Aber du bist doch meine naive, dumme Gans. Ich kann dir doch nie lange böse sein. Außerdem hat man doch dafür große Schwestern. Damit sie einem die undurchdachten Zukunftsplanungen zunichtemachen!«

»Boah, ich hätte dich erwürgen können!«, lachte Debbie voller Heiterkeit. »Ich bin echt froh, dass ich dich habe.«

»Danke, dass du mitkommst«, schnaubte Jess. Das Treffen mit Clyve hatte sie zwar angenommen, aber aufgrund seines mehr als besorgniserregenden Verhaltens der letzten Tage, hatte sie ihm nicht alleine gegenübertreten wollen. Nicht, dass er am Ende noch versuchte, sie zu entführen, um sie in seinem Keller zu halten, damit er sie niemals gehen lassen musste. 

Ihre Schwester hatte bei diesem Szenario zwar nur gelacht, doch Jess musste sich eingestehen, dass sie große Angst hatte. Clyve war ihr zu einem Fremden geworden. Sie mochte ihn irgendwo, tief in sich drin, doch die Angst gewann meist Überhand, selbst wenn sie an die schönen Stunden mit ihm dachte. Er war einfach viel zu unberechenbar. 

»Oh, verdammt! ist er das nicht da vorne?«

Jess zuckte heftig zusammen. Die Stimme ihrer Schwester hatte überrascht geklungen, aber eher nach der negativen Sorte von überrascht. Auch Jess erblickte den Hengst nun vor sich. Er hatte sie noch nicht bemerkt, aber er sah tatsächlich elend aus. 

Sein goldenes Fell war glanzlos und matt, seine Augen blutunterlaufen und verklebt, als hätte er tagelang nur geweint. Seine Mähne war strohig und verzottelt. Unter seinen abgemagerten Flanken zeichneten sich deutlich seine Rippen ab. Er musste ewig nicht gegessen haben. 

Da stand er also, mit gesenktem Kopf, in der Sonne und blickte leer in die Ferne. So kraftlos, so schwach, so traurig. Jess schluckte. Ihre Schwester schien zu merken, dass Jess zögerte. Aber genau aus diesem Grund hatte sie die Fuchsstute mitgenommen. Um ihr den Rücken zu stärken, damit sie nicht im letzten Moment kniff.

»Du schaffst das«, ermutigte Debbie sie sanft. Ihre grünen Augen strahlten Wärme und Zuversicht aus. »Das bist du ihm schuldig. Vielleicht kann er dann loslassen.«

Entschlossen atmete Jess durch und wagte den ersten Schritt in Richtung des Hengstes. Dann noch einen und noch einen, bis sie schließlich direkt neben ihm stand. Clyve schien ihre Anwesenheit nicht zu spüren, denn er hob erst den Kopf, als Jess ihm vorsichtig auf die Schulter tippte. 

Sein Blick hellte sich auf, als er ihr den Kopf zuwendete und seine Augen sie zu erkennen schienen. In seinem leeren Blick funkelte plötzlich etwas Leben auf, was ihn gleich ein wenig besser aussehen ließ.

»Du bist gekommen«, hauchte er schwach. Seine Stimme klang heiser. Erst jetzt bemerkte Jess seine verschrammten Beine und Hufe. Shirley hatte ihr erzählt, dass er seine Spiegel zerschlagen hatte, aber dass er sich dabei so schlimm verletzt hatte, hatte sie ihr dezent verschwiegen. Dieser Hengst brauchte dringend Hilfe.

»Natürlich bin ich das«, schnaubte Jess, beinahe einfühlsam. »Reden finde ich gut.«

»Das ist schön«, keuchte Clyve mit trockener Kehle. »Ich habe ohnehin nicht viel zu sagen, außer - Ich liebe dich. Und das wird sich niemals ändern, Jess. Niemals.«

»Okay«, schnaubte Jess etwas verstimmt. »Worüber wolltest du mit mir reden?«

Clyve blickte sie an, als verstünde er sie nicht recht. In seinen Augen erschien eine unsagbare Trauer und im selben Moment bereute Jess ihre Härte. Doch sie durfte sich nicht weich machen lassen. Sie wollte schließlich nicht mit einer Beziehung leben, in der sie nicht glücklich werden konnte. Zumindest nicht im Moment.

»Okay?«, fragte Clyve. Sein Tonfall verriet Jess, dass sie ihn damit sehr verletzt hatte. Aber es war nichts daran zu ändern. Was geschehen war, war geschehen und keiner konnte es mehr rückgängig machen. 

»Dass es mir leid tut , habe ich wahrscheinlich schon deutlich genug gesagt, Jess. Ich habe lange überlegt, wie ich alles erklären soll und bin zu dem Schluss gekommen, dass es keine vernünftige Erklärung dafür gibt. Ich bin einfach durchgedreht. Ich habe also eigentlich nur eine Bitte an dich.«

»Ja?«

»Vergiss mich nicht.«

Ein Stich fuhr in Jess Herz, als sie diesen Satz hörte. Jeder andere anhängliche Freund hätte nun um Vergebung gefleht und versucht, sie unter Gewalt zurück zu erobern, nur Clyve nicht. Hatte er ihre Entscheidung akzeptiert?

»Was du liebst, lass gehen, Jess«, fuhr er mit Tränen in den Augen fort. »Und genau das werde ich tun. Auch, wenn es mir unsagbar schwerfällt. Aber ich habe meine Erinnerungen. Und am Ende wird doch schließlich immer alles gut, nicht wahr?«

»Und wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende«, lächelte Jess ihm zu. Clyve hob den Kopf, denn offenbar hatte er eine tiefere Bedeutung in ihren Worten gefunden. Ein Funke von Entschlossenheit flammte in seinen tiefblauen Augen auf und er nickte. 

»Das ist nicht das Ende, das stimmt«, schnaubte er tapfer. »Es wird weiter gehen. Für dich, sowie für mich.«

»Du bist noch so jung, Clyve. Du hast noch so viel vor dir«, versuchte Jess, ihn weiter zu ermutigen. »Ich wette, du findest schon ganz bald eine Stute, die dich genau so liebt, wie du es verdient hast.«

Ein leichtes Kopfschütteln von Clyve sagte Jess, dass er diesen Gedanken gar nicht weiter verfolgen würde. 

»Mein Traum, meine Wirklichkeit. Mein Herz. All das hatte ich bereits«, schnaubte er schwach. »Das alles warst du für mich. Ich werde vielleicht eine neue Wirklichkeit finden, aber niemals eine neue Gesamtheit aller guten Dinge für mich. Glück ist ein so dehnbarer Begriff. Aber solange du glücklich bist, kann ich mir nichts vorstellen, was mich zufriedener stellen würde. Auch, wenn das bedeutet, dass ich dich gehen lassen muss.«

Clyve machte einen Schritt nach vorne, legte seinen Hals über den von Jess, dann löste er sich von ihr, bevor er ihr tief in die Augen blickte. 

»Machst gut, Jess. Ich werde dich vermissen.«

Jess sagte gar nichts, sondern verlor sich noch einmal in seinen cyanblaugesprenkeltenhellmelierten Augen, wobei sie nicht bemerkte, dass sich ihre Köpfe immer näher kamen. Sie schloss die Augen, als sie ihre Nüstern sanft auf seine legte und ihm einen letzten, zarten und zurückhaltenden Kuss schenkte. Es fühlte sich wunderschön an und riss zugleich ihr Herz in zwei Hälften. Wenn ein Pferd eine Foltermethode erfinden konnte, die schlimmer war, als jenes Gefühl, dann hätte sie den Hut vor ihm gezogen. 

Debbie beobachtete das geschehen stumm aus einiger Entfernung. Als Jess mit einem erleichterten Lächeln auf ihre Schwester zukam, legte sie ein verschmitztes Grinsen auf.

»Na, wer hat denn da gerade seinen Ex geknutscht? Sowas macht man doch nicht. Tse!«

Jess kicherte leise, als sie sich gemeinsam mit ihrer Schwester zurück auf den Heimweg machte. Ein Bick nach hinten verriet ihr, dass Clyve ihr noch hinterher spähte. Aber sie waren immerhin nicht im Streit auseinander gegangen. 

Clyve würde sein Studium sicher mit Bravour beenden und sie würde Müh und Not haben, ihn als Konkurrenten auszublenden, wenn er mal wieder ihren Durchschnitt unterbot. 

Debbie würde ihr Studium beginnen und weiterhin mit Joe zusammen sein. Vielleicht hatten sich diese beiden ja tatsächlich gesucht und gefunden. Jess hatte sich sehr in Joe getäuscht. Sie mochte ihn wirklich und sie glaubte fest daran, dass er gut auf ihre kleine Schwester Acht geben würde. 

Und Jess... die war sich sicher, dass ihr weiteres Studium sie wieder auf den Weg der Normalität führen würde. Sie wusste jetzt schon, dass ihr die nächsten Nächte wieder schwer fallen würden, nachdem sich Clyves trauriger Blick und der letzte Kuss sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten. 

Aber es würde gut sein. Es musste einfach. Denn das war ihr Leben. Und dennoch sagte eine Stimme in Jess, als sie mit ihrer Schwester durch die belebten Straßen ihrer Heimatstadt spazierte, dass das noch nicht wirklich das Ende war. 

Zumindest nicht das von Clyve.



Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top