Kapitel 30 -Wo ist Clyve?
Jess Herz raste. Wie sollte sie sich jemals verzeihen können, wenn Clyve tatsächlich Selbstmord begangen hatte? Sie würde sich doch immer irgendwie die Schuld daran geben, da sie es doch gewesen war, die ihn, ohne ihm ein Ohr für seine Seite der Geschichte zu schenken, von ihrem Grund und Boden verjagt hatte. Und das nicht einmal auf besonders freundliche Art und Weise. Aber, dass er deshalb gleich so überreagieren musste?
Jess rannte mit dem Zettel im Maul zurück zu ihrem Auto das sie vor Clyves Anwesen geparkt hatte, und rief mit ihrem Handy augenblicklich die Polizei an. Dann schlug sie den Weg zurück zu Hancester Science ein, um dem Professor von der erschreckenden Neuigkeit zu berichten, die ihm sein Sohn beschert hatte.
Professor Higgins war erstaunt darüber, Jess an diesem Tag noch einmal in den Gängen seines Institutes anzutreffen, doch sein Erstaunen wich schon bald einem verwirrten Gesichtsausdruck, als Jess ihm wortlos den Zettel vor die Nüstern hielt.
"Wir sollten sofort nach ihm suchen!", wieherte Jess, beinahe panisch. "Ich habe schon die Polizei gerufen. Wer weiß, was er anstellt, wenn wir ihn nicht rechtzeitig finden?"
Professor Higgins stieß nur ein nachdenkliches Brummen aus, noch immer den Zettel begutachtend, den Jess ihm vor die Nase hielt. Machte er sich denn überhaupt keine Sorgen um seinen Sohn?
"Die Polizei wird uns nicht viel weiter helfen", entgegnete er nüchtern. "Ich denke aber, dass ich etwas Besseres habe. Ich werde mich um den Vorfall kümmern."
"Den Vorfall? Clyve ist doch ihr Sohn!?", wieherte Jess mit einem Anflug von Wut in ihrer Stimme. "Ich verstehe nicht..."
Der Professor schenkte ihr ein zuversichtliches Lächeln, als er ihr den Zettel abnahm, ihn säuberlich zusammenfaltete und ihn dann in seiner Kitteltasche verschwinden ließ. Dann hob er seinen Blick. Jess musste zugeben, dass sie erwartet hatte, mehr Besorgnis in den Zügen von Clyves Vater zu sehen. Oder wenigstens einen Funken von Zuneigung oder Trauer über das, was sie ihm soeben berichtet hatte. Aber Professor Higgins behandelte Clyve, wie eine Ware, ein Fall, wie jeder andere.
Manch einer hätte ihn für seine Gelassenheit bewundert und dafür, dass er selbst im Angesicht des bevorstehenden Dramas noch einen kühlen Kopf behielt. Aber Jess widerte es an, diesen Hengst zu beobachten. Nach allem, was Clyve ihr schon über ihn erzählt hatte stand fest, dass Professor Higgins in seinem Sohn nichts weiter sah, als einen Nachfolger für seine zwielichtigen Geschäfte. Und wenn dieser Nachfolger seinen Dienst nicht antrat, würde er sich eben ein anderes Opfer suchen, das seinen Platz einnahm.
"Mein Sohn ist nicht das erste Mal auf diese Art verschwunden", versuchte der alte Palomino sie zu beruhigen, als er wohl merkte, dass sie gerade einen inneren Kampf mit sich selbst führte. "Ich habe gute Verbindungen und wir werden ihn bald gefunden haben. Mach dir keine Sorgen."
"Ich mache mir aber Sorgen", schnaubte Jess trotzig. "Weil ich ihn liebe und weil ich daran schuld bin, dass es überhaupt soweit gekommen ist!"
"Schuld daran ist allein er selbst. Nicht du", Professor Higgins berührte Jess sanft an der Schulter. "Ich habe dir bereits zu Beginn gesagt, dass Clyve ein paar ... Probleme mit sich und der Welt hat. Dass du es so lange mit ihm ausgehalten hast, ist dennoch bewundernswert."
Bewundernswert. Das war es, was er darin sah, wenn jemand seinen Sohn liebte? Dieser Hengst hatte nach Jess ehrlicher Meinung so viel Empathie wie ein Sack Kartoffeln, der an einer Liane über den Niagarafällen baumelte. Sie versuchte sich dennoch nichts anmerken zu lassen, dass sie sich soeben entschlossen hatte, ihrem Gegenüber keinen Millimeter weit zu vertrauen. Dieser Hengst würde sicher nicht davor zurück schrecken, seinen eigenen Sohn in die Versuchsreihen einzubinden, wenn er für ihn unbrauchbar geworden war. Und wenn er nicht einmal davor zurück schreckte, dann würde er es bei ihr erst recht nicht tun.
Schmerzlich dachte Jess an Nina, die seit Jahren in den Kellern der Labore gefangen gehalten wurde.
"Wenn es dich beruhigt, kannst du gerne ebenfalls nach ihm suchen", schnaubte der Professor dann. "Aber morgen zu Arbeitsbeginn möchte ich dich topfit und vollkommen bei der Sache sehen. Ich mag das Gehalt zwar sehr großzügig ausgestellt haben, aber dafür möchte ich auch Arbeit sehen!"
"Ja, Professor Higgins."
Jess hasste sich dafür, wie kleinlaut sie dem Professor gegenüber gewesen war. Wenn sie nur etwas mehr Mumm gehabt hätte, hätte sie ihm ordentlich die Meinung gegeigt. Allerdings hätte sich das wahrscheinlich eher kontraproduktiv auf ihre finanzielle Lage und eventuell auch auf ihre persönliche Sicherheit ausgeübt.
Gerade, als sie den Komplex wieder verlassen wollte, um nach Hause zu fahren, entdeckte sie Conor, der sich gerade mit seiner Karte am Stichgerät vom heutigen Dienst abmeldete. Er musste wohl gespürt haben, dass Jess etwas auf der Seele lag, deshalb klang er auch äußerst besorgt, als er Jess im Eingangsbereich abpasste, um ihr eine Erklärung abzuringen.
Warum ausgerechnet jetzt? Sie wollte wirklich nicht noch einmal den Schreck durchleben, den sie am Nachmittag erlebt hatte. Sie wollte einfach nur nach Hause, Chips und Schokolade futtern und sich dann mit einer DVD unter ihrer Bettdecke vergraben, um eine kitschige Komödie zu sehen, die sie auf andere Gedanken brachte.
"Conor, ich möchte nicht darüber reden", schnaubte sie deshalb nur kühl, versuchte sich an dem dunkelbraunen Hengst vorbei zu drücken, wurde von diesem jedoch zurückgehalten, bevor sie auch nur die Türklinke erreicht hatte.
"Ist es wegen Clyve? Ich habe mich schon gewundert, wo er sich die letzten Tage herumgetrieben hat. Was ist passiert?"
Was passiert war? Ja, das hätte Jess auch zu gerne gewusst. Im Grunde genommen hatte sie Clyve für etwas beschuldigt, das sie ihm nicht zu einhundert Prozent hatte nachweisen können und ihm dann das Herz gebrochen. Aber das war ja alles nur halb so schlimm, da Clyve ohnehin für seinen Vater nichts als ein Objekt war. Also sollte sie sich laut ihm ja keine Sorgen machen. Keine Sorgen, weil es schließlich nicht ungewöhnlich für ein psychisch kaputtes Pferd war, eine Selbstmorddrohung zu hinterlassen und dann aufnimmerwiedersehen nach irgendwohin zu verschwinden und dann auch noch die Botschaft zu hinterlassen, dass er sie liebte. Und zwas nur sie, Jessica McLaren.
In diesem Moment überkam es Jess, wie eine unaufhaltsame Welle, die auf eine Küste zurollte. Sie fiel dem Hengst vor sich schluchzend um den Hals und erklärte ihm alles, was sie auch dem Professor schon gebeichtet hatte. Conor hörte ihr allerdings wesentlich aufmerksamer zu und selbst er schien am Ende der Geschichte aufgebrachter zu sein, als Clyves Vater es in ihrem gesamten Gespräch gewesen war.
"Oh, Shoot", hauchte er erschreckt, bevor er Jess wärmend seinen Hals über den Widerrist legte. "Die junge Liebe kann so kompliziert sein, nicht wahr? Ein Glück, dass ich das hinter mir habe."
Jess musste dabei tatsächlich ein wenig lächeln. Dann löste sich der dunkelbraune Hengst von ihr und blickte sie eindringlich an.
"Hast du vielleicht irgendeine Ahnung, wo er stecken könnte? Ein Ort, an dem ihr beide schon wart, oder an dem ihr etwas besonderes erlebt habt?"
Jess schüttelte den Kopf. Ihr fiel nichts ein, was irgendwie besonders einprägsam gewesen wäre. Das Restaurant würde er wohl kaum als Todesort auswählen. Zu Hause war er nicht und an den Liegewiesen an der Uni kamen immer zu viele Pferde vorbei. Ratlos zuckte sie mit den Schultern und seufzte resigniert.
"Gut, dann müssen wir die Sache eben selbst in die Hufe nehmen."
Conor steckte seine Karte zurück in das Gestell an der Wand und schnaubte Jess dann auffordernd zu.
"Wir machen uns jetzt auf die Suche!"
"Und was ist mit deiner Frau? Wird die sich keine Sorgen machen?"
"Ach die", schnaubte Conor mit rollenden Augen. "Die kann auch mal warten. Ich sag ihr einfach die Wahrheit. Dann versteht sie es bestimmt. Und zur Not sage ich ihr einfach, dass ich mit einem Freund eine Nacht in unserer Stammkneipe durchzecht habe."
Mit einem hoffnungsvollen Lächeln im Gesicht zogen die beiden in Conors zwar sauber hergerichteten, aber trotzdem klapprigen Mercedes-Oldtimer los und begannen systematisch, die Umgebung von Clyves Wohnung abzusuchen, Nachbarn zu befragen und deren Hinweisen nachzugehen. Das Auto schien sein ganzer Stolz zu sein. Conor hätte sich bei seinem Gehalt sicher etwas nobleres leisten können, aber er hatte so ein seliges Lächeln auf den Lippen, als er fuhr, dass Jess es nicht weiter hinterfragte.
Die Stute, die im Haus gegenüber wohnte, hatte ihn morgens vor drei Tagen gesehen, wie er nach Hause gestürmt war, etwas in der Wohnung geholt hatte und dann mit dem Auto davongerast war. Conor witterte darin seine Chance, denn so viele Autos von diesem Kaliber fuhren ganz bestimmt nicht auf den Straßen herum.
Also ging die Suche weiter. Jess und Conor fuhren in die Himmelrichtung, die die Stute ihnen angegeben hatte und befragten jedes Pferd auf dem Weg, ob Clyve oder zumindest einen dunklen Aston Martin gesehen hatten, und wohin er gefahren war.
Nur wenige Pferde waren aufmerksam oder autovernarrt genug gewesen, als dass ihnen der Wagen aufgefallen wäre, aber die wertvollen Tipps, die sie Jess und Conor gaben, führten sie weit, weit aus der Stadt hinaus. Doch noch immer war keine Spur von Clyve oder seinem Auto.
Es wurde bereits dunkel, als Conor und Jess vor einem klapprigen, alten Motel hielten, damit Jess ihre Familie anrufen und kontaktieren konnte, dass sie heute Nacht wohl nicht nach Hause kommen würde. Sie erzählte ihnen, dass sie bei ihrer Freundin Kate war, die am anderen Ende der Stadt wohnte. Wo genau sie wirklich war, war ja auch eigentlich nicht von Belang. Zumindest nicht für ihre Eltern. Die würden sich sonst nur wieder unnötig Sorgen machen. Jess hatte schließlich Conor bei sich.
Niedergeschlagen schloss Jess nach ihrem Telefonat die Wagentür wieder hinter sich und schielte dann zu Conor herüber, der müde den Kopf auf dem Lenkrad abgelegt hatte. Sie waren beide am Ende ihrer Nerven, aber sie waren so weit gekommen. Warum sollten sie jetzt aufhören, weiter zu suchen?
Vielleicht, weil sie nicht wussten, wie weit Clyve aus der Stadt gefahren war und vielleicht auch, weil es hier draußen auf den Highways nicht besonders wahrscheinlich war, ein ortsansässiges Pferd zu finden, das sich womöglich auch noch daran erinnerte, vor drei Tagen ein besonders schickes Auto gesehen zu haben. Im Grunde genommen war es beinahe hoffnungslos. Clyve konnte überall sein.
Jess und Conor seufzten im Chor und beinahe hätte Jess vorgeschlagen, umzukehren, da kam ihr der Gedanke, den freundlich drein blickenden Hengst hinter dem Tresen des Motels zu befragen, ob nicht er denn vielleicht einen Tipp für sie hatte.
Ohne ein Wort zu sagen, riss sie Conors Wagentür wieder auf und stürmte zurück in das baufällige Gebäude.
"Ein Palomino mit blauen Augen, vier weißen Beinen und einer breiten Blesse?", hakte der freundliche Motelbesitzer nach. "Ja, der war hier."
Jess Herz machte einen Sprung, als sie das hörte. "Wissen sie, wo er hin wollte?"
Der Hengst hinter dem Tresen schnaubte nachdenklich, bevor er sich bückte und eine knittrige Landkarte hinter dem Tresen hervorzog, sie auffaltete und mit den Nüstern vor sich auf der Theke glatt strich.
"Er hat zuerst gefragt, wo in der Gegend von Cliffland ein Baumarkt ist. Den habe ich ihm auf der Karte gezeigt."
Der Hengst kreiste mit dem Huf einen kleinen Bereich auf der Karte ein. Jess hörte die Türglocken hinter sich bimmeln, als Conor eintrat. Doch sie wendete den Blick keine Sekunde lang von der Karte und der Gegend, die das Pferd vor ihr einkreiste.
"Cliffland?", schnaubte Conor verwirrt. "Aber das ist beinahe zwei Stunden von hier."
Der Hengst hinter dem Tresen nickte. "Ich wusste auch nicht, warum er es genau da kaufen wollte. Hab ihm gesagt, dass er hier in Southbank viel näher an ein Seemannstau kommen würde, aber er hat darauf bestanden, dass er's in Cliffland besorgt. Und er wollte mich bezahlen, dass ich niemandem davon erzähle. Aber ich bin nicht dumm, wissen Sie. Ich merk's wenn jemand mir was vormacht. Nur leider hab ich zu spät gemerkt, was er vorhatte. Ich hoffe, Sie finden ihn noch."
"Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?", wieherte Jess ihn so unwirsch an, dass der Hengst hinter dem Tresen ganz erschrocken dreinblickte. "Wenn Sie doch genau wussten, was er vorhatte."
"Nein, keine Polizei. Nicht hier. Ich habe schon so genug Probleme."
Mit rollenden Augen wendete sich Jess ab, rang sich dann jedoch dazu durch, ihm noch einmal freundlich zuzulächeln und ein "Danke, Sie haben uns sehr geholfen", in seine Richtung zu schnauben.
Und das hatte er wirklich. Conor und Jess wechselten verschwörerische Blicke, als sie zurück im Auto des dunkelbraunen Hengstes standen und dann Cliffland entgegen rasten.
Sie hatten eine neue Spur!
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