Kapitel 28 - Stockwerk U26

"Guten Morgen. Ich soll mich bei einer gewissen Mrs. Madison melden?"

Jess stand mit vor Aufregung zittrigen Beinen in dem ihr bereits äußerst bekannten Foyer der Einrichtung, in die sie vor wenigen Wochen mutwillig eingebrochen war. Das Logo von Hancester Science Laboratories war in großen, dunklen Lettern in die Vorderseite des Tresens aus gebürstetem Aluminium eingraviert. 

Eine gelangweilt dreinblickende Sekretärin lugte verschlafen hinter dem Tresen durch ihre Brillengläser hervor und legte dann einen äußerst dümmlichen, unwissenden Blick auf.

"Und Sie sind?"

"Jessica. Jessica McLaren", antwortete die braune Stute prompt, woraufhin die Sekretärin offenbar noch immer keinen blassen Schimmer zu haben schien, was Jess von ihr wollte. 

"Die neue Arbeitskraft?", half sie der Sekretärin deshalb ein wenig nach, bevor diese mit einem unmotivierten 'Ah' endlich begann, in ihren Unterlagen zu kramen. Sie zog ein Formular zwischen Bergen von Akten hervor, knallte es vor Jess auf den Tresen und warf ihr dann noch einen Kugelschreiber zu, der über die Schreibfläche rutschte und schließlich vor Jess Hufen zu Boden fiel. 

"Dankesehr!", knurrte diese daraufhin, etwas ungehalten, als sie sich bückte, um den Stift aufzuheben. "Sehr freundlich."

Jess wartete noch kurz, ob sie irgendeine Reaktion der Stute bekommen würde oder wenigstens eine Anweisung, doch nichts dergleichen erfolgte. Deshalb nahm sie sich einfach nur seufzend den Stift, bevor sie sich das Formular einmal durchlas und es schließlich ausfüllte und unterschrieb. Es war ein Schweigegelübde, mit dem sie sich dazu verpflichtete, kein Wort über das, was sie hier sah und tat, an die Außenwelt zu verlieren.

Kaum hatte sie das Dokument unterschrieben und es der Sekretärin zugeschoben, vernahm sie die vertraute Stimme von Clyves Vater hinter sich, der zusammen mit Conor Kilbourne ins Foyer getreten war.

"Ah, Sie haben sich schon mit Mrs. Madison bekannt gemacht?"

"Na ja", schnaubte Jess mit einem grantigen Seitenblick auf die übellaunige Stute, die ganz plötzlich ein überfreundliches und breites Grinsen im Gesicht hatte. "Versucht habe ich es ja -"

"Ich habe sie schon eingewiesen, Professor Higgins, Sir!", unterbrach die Sekretärin Jess in einem beinahe übertrieben künstlich freundlichen Singsang, von dem der braunen Stute beinahe übel wurde. Ihres Erachtens wusste diese falsche Schlange ganz genau, was passierte, wenn ihr Chef von ihrer üblen Arbeitsmoral Wind bekam. Eingewiesen hatte sie sie jedenfalls nicht einmal im Ansatz. 

"Wie schön!", schnaubte der Professor jedoch nur, bevor er sich wieder Jess zuwendete und ihr eine Passkarte umhängte. "Ich bin leider im Augenblick sehr beschäftigt, deshalb wird Mr. Kilbourne Ihnen alles zeigen."

Jess wechselte einen kurzen Blick mit dem dunkelbraunen Hengst, dessen Blick ihr, vor Enttäuschung über ihr Wiedersehen, einen eisigen Stich ins Herz verpasste. Er war so ambitioniert gewesen, ihr ins Gewissen zu reden, nie wieder hierher zurückzukehren, aber sie brauchte das Geld. Und was würde schon groß passieren? 

Ihr persönlicher Super GAU wäre momentan nur eingetroffen, wenn sie Clyve über den Weg lief. Aber von dem war zum Glück weit und breit nichts zu sehen. Was für eine Erleichterung! Das letzte, was Jess jetzt brauchte, war ihr überprotektiver Freund, der ihr die ganze Zeit, wie eine Klette, an der Hinterhand klebte.

Der Professor zwinkerte Jess noch einmal freundlich über die Schulter zu, dann verschwand er in den verzweigten Gängen des Labors. 

Ein Kloß steckte in Jess Hals, als sie sich ein freundliches Lächeln abrang, das sie in Conors Richtung sendete.

"Hi, lange nicht gesehen."

"Spar dir das Theater", murmelte Conor miesepetrig. "Du hast eine Entscheidung getroffen und ich werde dich deshalb nicht verurteilen. Es gibt Erfahrungen, die ein Pferd selbst machen muss, um seine Grenzen kennen zu lernen."

Conor klang nicht unhöflich, als er so sprach. Er klang mehr, wie ein besorgter Vater, der seiner Tochter davon abriet, eine Beziehung mit dem Drogenjunkie aus der Oberstufe einzugehen, weil sie womöglich naiverweise dachte, dass sie ihn ändern und vom Drogenrausch abhalten konnte. 

"Du bist hier also ein ziemlich hohes Tier, mh?", versuchte Jess mit Conor ins Gespräch zu kommen, als sie ihm folgte.

"Ich bin leitender Biotechnologe an diesem Institut. Ich entwickle Methoden, biologische Vorgänge in technische zu übersetzen, um Dinge zu entwickeln, die Pferden das Leben leichter machen."

Jess schnaubte anerkennend. Biotechnologie war ein wichtiger Bestandteil der Medizin. Seit Jahren wurden in dieser Sparte Prothesen für Pferde entwickelt, die an einem Handicap zu leiden hatten. Beinprothesen, die sich anfühlten und bewegten, wie richtige Beine. In der Bionik wurden aber auch kleinere Dinge entwickelt, wie zum Beispiel Honiglöffel, an denen dank ihrer lotusblattartigen Oberfläche kein Honig mehr kleben bleiben konnte. Aber das waren für die Hancester Science Laboratories wohl eher nur kleine Spielereien, die sie in ihrer Freizeit ebtwickelten. Hier wurde an wichtigeren Dingen gearbeitet.

"Ich bin für Professor Dr. Higgins leider unentbehrlich, deshalb hat er wegen mir schon so manches Auge zugedrückt", Conor zwinkerte Jess verschwörerisch zu, als er auf den jüngsten Vorfall anspielte, an dem sie beide beteiligt gewesen waren. "Mir höher gestellt ist nur noch sein Sohn, der, sollte der Professor ableben, die Führungsposition erben wird. Aber ich denke, dass sie mir eindeutig zu viel Vertrauen schenken, obwohl sie sich darüber bewusst sind, dass ich nicht alles gutheiße, was hier passiert."

"Du hast eine Familie und Pferde, die dir wichtig sind. Wie deinen Neffen zum Beispiel", merkte Jess trocken an. "Geschäftsleute, die im Schatten handeln, lieben Mitarbeiter mit großen Familien. Das gibt ihnen viele Sicherheiten."

Conor blickte sie mit einer wissenden Mischung aus Furcht und Beklommenheit an. Er brauchte es gar nicht erst auszusprechen. Jess wusste, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Immerhin war Conors Gage für seinen Einsatz angemessen. Wenn er zusätzlich auch noch unterbezahlt worden wäre, hätte das Ganze doch sehr viel üblere Ausmaße haben können. 

Inzwischen waren die beiden in einen Aufzug gestiegen, der sie weit hinunter, tief unter die Erde beförderte.

Jess zählte sechsundzwanzig Stockwerke auf dem Display des Fahrstuhls. Und ganz hinunter, in die tiefste aller Ebenen, fuhren sie nun. 

Als die Türen sich vor den beiden öffneten, staunte Jess nicht schlecht. Ein riesiges Gewölbe türmte sich über ihnen auf. Die Gänge hier unten bestanden nicht aus Mauern und Wänden, sondern waren schlichtweg aus dem Grundgestein gefräst worden. Sie kam sich vor, wie in einem riesigen Netzwerk eines Komplexes von Kaninchentunneln. 

Die steinigen Felswände waren komplett mit grau-grüner Farbe getüncht und glänzten, wie frisch gewachst, als Jess und Conor sich sicher durch die Tunnel bewegten, die alle gleich aussahen. An den Wänden waren zu beiden Seiten schwere Stahltüren mit Panzerglasfenstern eingelassen, hinter denen Pferde standen, die ihnen mit leeren Augen hinterher blickten.

Einen von ihnen erkannte Jess sogar wieder. Es war der weiße Hengst, den sie ein paar Tage zuvor schon gesehen hatte. Die Scheibe seines Fensters war bereits vollkommen zersprungen. Offenbar hatte er schon etliche Male versucht, der Zelle zu entkommen. Er schien, als Einziger von allen Pferden, noch nicht gebrochen worden zu sein, denn seine Augen verengten sich beinahe unmerklich zu Schlitzen, als Jess und Conor an seiner Zelle vorüber schritten. Dann begann er wieder in seiner Zelle zu toben und mit voller Wucht gegen seine Tür auszukeilen. 

"Lasst mich raus, ihr Wichser!", brüllte er wieder und wieder, während das Poltern seiner Hufe scheppernd und rasselnd durch die Gänge hallte. "Ihr macht einen Fehler!"

Jess schluckte bei seinem Anblick, zwang sich dann aber dazu, Conor weiter zu folgen, der sie weiter und weiter, bis zu einem großen OP-Saal führte, der mit nagelneuem Equipment ausgestattet war. Inmitten dieses Raumes stand ein großer Operationstisch mit Werkzeugen und etwas am Rand war eine Konstruktion in den Boden geschraubt, in der man offenbar einen unwilligen Patienten fixieren konnte, wenn er nicht spurte. Alleine der Gedanke daran, machte Jess völlig fertig.

"Unseren Rebellen hast du ja offenbar schon kennen gelernt", schnaubte Conor schließlich mit einem Nicken in Richtung der Zelle des weißen Hengstes, der in seiner Zelle offenbar noch immer tobte. "Er wird einer deiner Patienten sein, um den du dich kümmern musst. Da wird dir diese Vorrichtung, zu deinem eigenen Schutz, von großem Nutzen sein."

Jess nickte. Ein wenig konnte sie es ja verstehen. Man konnte diesen wilden Hengst schließlich nicht immer mit Betäubungsmitteln ruhig stellen, wenn man ihn untersuchte. In Psychiatrien gab es dafür Zwangsjacken, die die Vorderbeine eines Pferdes gegen seinen Bauch zogen, sodass es gezwungen war, in die Knie zu gehen.

"Du wirst zu Beginn lediglich dafür sorgen, dass sie sich bis zu ihrer Einbindung alle in einem einwandfreien, gesundheitlichen Zustand befinden, angefangen bei Zelle A3360, bis hin zu D734."

"Alles klar", schnaubte Jess unterwürfig. Das klang nach einem äußerst harten Knochenjob, der in einer Psychiatrie nicht anstrengender hätte sein können. Risikobehaftet, daher wahrscheinlich auch der hohe Lohn.

"Die Patienten werden jeden Morgen aus den Zellen zu dir gebracht. Darum brauchst du dich nicht zu sorgen. Wenn du Hilfe brauchst oder auf etwas Ungewöhnliches stößt, kannst du mich, Clyve oder den Professor kontaktieren. Dann kümmern wir uns darum."

Conor schenkte Jess ein Lächeln, doch deren Gedanken flogen geradewegs zu der Zelle mit dem weißen Hengst, der so zornig und verzweifelt in seinem Pferch getobt hatte, bis ihm die Hufe blutig vor Glassplittern geworden waren. Der Hengst in der Zelle mit der Aufschrift A3360, um den sie sich in den nächsten Wochen kümmern müssen würde.

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