Kapitel 25 - 4-Hydroxybutansäure

Wie auch immer es Clyve jedes Mal schaffte - Jess konnte ihm nicht lange wütend sein. Er hatte dieses Etwas an sich, was sie einerseits zur Weißglut trieb und andererseits extrem faszinierte. Und dann machte er manchmal auf einen Schlag alles zunichte. So, wie an diesem Morgen.

Nach einer langen Nacht und endlosen Küssen, fand sich Jess am nächsten Morgen einmal mehr an Clyves Frühstückstisch wieder. Alleine. Clyve hatte ihr lediglich einen Zettel hinterlassen, dass sein Vater ihn dringend brauchte und er untröstlich sei, jetzt nicht bei ihr sein zu können.

Jess Bauchgefühl protestierte dagegen, als sie sich einredete, dass am Ende alles bloß ein gewaltiges, großes Missverständnis war und Clyve mit seinem Vater keine illegalen Geschäfte trieb, sondern einfach nur äußerst autoritär mit seinen Mitarbeitern umsprang. 

Wie auch immer, dachte Jess bei sich. Es war nicht besonders höflich, sich jedes Mal aus heiterem Himmel aus dem Staub zu machen und sie alleine zurück zu lassen. Selbst, als sie ins Krankenhaus eingeliefert werden sollte, hatte er es nicht für nötig erachtet, seinen Vater einfach mal an zweite Stelle zu schieben. Aber nein.

Mit einem genervten Seufzen trottete Jess in die Küche und kippte den Rest ihres Croissants in den Müll. Eigentlich hatte sie überhaupt keinen Hunger gehabt, als sie erfahren hatte, dass Clyve unbemerkt einfach das Haus verlassen hatte. Sie fühlte sich wie benutzt und in die Ecke gestellt. 

Aber wenn der werte Herr "ich kümmere mich um dich, wenn es mir passt" wieder einmal andere Pläne hatte, dann  war es sicherlich kein Problem, wenn Jess etwas zusammen mit Debbie und ihrem Freund unternahm. 

Vielleicht, nur vielleicht hoffte Jess auch ein bisschen, dass Clyve davon mitbekam und vor Eifersucht kochte. Aber das hatte er sich redlich verdient, obwohl Jess wusste, dass es ein ääußerst kindischer Zug war und sie eigentlich darüber stehen musste. Aber nach dem, was sich am Vortag im Krankenhaus abgespielt hatte und er ihr dafür nun wohl eine weitere Retourkutsche verpasst hatte, war ihr das nun wirklich herzlich egal. 

Jess sprang noch schnell ins Badezimmer, um sich wieder etwas salonfähig zu machen, als ihr auffiel, dass sie ihre Zahnpasta zuhause vergessen hatte. Also suchte Jess nach der von Clyve, die er sonst irgendwo in seinem Badschrank aufbewahrte. Jess Blick flog prüfend durch die Regalfächer, als ihr das braune Fläschchen auf dem Sims des Badschrankes auffiel, das dort in den letzten Tagen noch nicht gestanden hatte. Es war eigentlich recht gut versteckt zwischen allerlei Parfums und Augentopfen, doch dadurch, dass Jess Augen gerade ohnehin geschärft nach etwas suchten, war es ihr sofort ins Auge gestochen.

Es sah beinahe aus, wie eines dieser Fläschchen, das man in der Apotheke bekam, wenn man sich dort Tinkturen zusammenmischen ließ. Außerdem war in dem schwarzen Deckelchen eine kleine Tropfpipette eingelassen, mit der man das Mittel mühelos und schnell irgendwo hinein geben konnte.

"4-Hydroxybutansäure", las Jess leise die Aufschrift des Mittels durch, bei dem es sich wohl um irgendeine chemische Substanz handeln musste. Aber was hatte Clyve mit Buttersäure zu tun? Jess meinte sich vage zu erinnern, dass reine Buttersäure fürchterlich stank. Aber das hier war keine reine Buttersäure, sondern ein anderes, klares Stoffgemisch, das leicht salzig-lakritzig roch.

Angestrengt dachte Jess nach, wo sie schon einmal etwas über diesen Stoff gehört hatte und für was man ihn einsetzte, doch es wollte ihr nicht einfallen. Also stellte sie das Fläschchen einfach schulterzuckend zurück in den Schrank und setzte dann ihre Suche nach der Zahnpasta fort.

Noch am selben Tag wurde Joe endlich aus dem Krankenhaus entlassen. Debbie war zwar nicht sonderlich begeistert darüber gewesen, dass ausgerechnet Jess mit ihnen etwas unternehmen wollte, jetzt,  wo sie endlich wieder tun konnten, was sie wollten, doch Joe hatte darauf bestanden. Wahrscheinlich plagte ihn ein schlechtes Gewissen, welches er nun irgendwie lindern wollte. 

Sie trafen sich also im Café du Lac. Einem schönen, kleinen Laden im Park von Southbank, von dem aus man eine wundervolle Aussicht auf den See im Park hatte. Debbie war verhältnismäßig still, während Joe davon erzählte, an was er sich von jenem Abend noch erinnern konnte. 

Dass er mit einer anderen Studentin geflirtet hatte, verschwieg er ihr allerdings gekonnt. Jess legte die ganze Zeit, während er redete einen alles wissenden Blick auf, der Joe allerdings zu ihrer Überraschung überhaupt nicht aus der Fassung zu bringen schien. 

Selbst, als Debbie die Toilette aufsuchte, machte Joe nicht gerade den Eindruck, als hätte er es irgendwie nötig, sich vor Jess zu erklären. Er checkte nur seine SMS und schlürfte nervtötend lange an seinem Drink, bevor er sich endlich erwärmte, zu der sich räuspernden Jess zu blicken.

"Du erinnerst dich an gar nichts?", fragte sie mit deutlicher Verstimmung. Joe schüttelte verwirrt den Kopf und irgendetwas an seinem Ausdruck sagte Jess, dass er es ernst meinte. 

"Totaler Filmriss", schnaubte Joe, niedergeschlagen. "Ich erinnere mich nur noch an so nen Typ, der mich an der Bar angequatscht und mich dann nach draußen gebracht hat."

"Und was war das für ein Typ?", fragte Jess interessiert. Ihr Gegenüber schloss die Augen und kniff sie nachdenklich zusammen. Joe musste wirklich eine heftige Lücke im Gedächtnis haben, wenn er selbst diese Erinnerung nicht mehr abgespeichert hatte. 

"Ich glaube, es war Professor Sullivan, aber ich bin mir nicht mehr sicher", Joe schüttelte schulterzuckend mit dem Kopf. "Die Ärzte sagen, dass mit irgendjemand wohl K.o. Tropfen ins Getränk getan hat. Wahrscheinlich, als ich mich zu ihm umgedreht und mit ihm geredet habe. Da habe ich kurz nicht auf mein Getränk geachtet."

Jess runzelte die Stirn. Wer konnte es bitte darauf abgesehen haben, Joe mit K.o. Tropfen ins Koma zu bringen? Waren das nicht eher Drogen, die Stuten verabreicht wurden, um sie wehrlos für Vergewaltigungen zu machen? Wenn Joe also unter Drogen gestanden hatte, war es natürlich kein Wunder dass er an dem Abend so merkwürdig gewesen war. Eigentlich wäre es nun an Jess gewesen, sich zu entschuldigen, doch da Joe sich ohnehin an nichts erinnerte, wollte sie sich nun nicht auch noch vor ihm blamieren, indem sie ihm noch einmal alles klipp und klar schilderte, was geschehen war.

"Ich bin jedenfalls froh, dass jemand rechtzeitig den Krankenwagen gerufen hat", schnaubte Joe freundlich in ihre Richtung. "Dadurch habe ich jetzt zwar eine Eintragung im Strafregister, aber da wird ohnehin noch geprüft, inwieweit die geltend gemacht werden kann, wenn ich zur Zeit der Aufnahme nicht zurechnungsfähig war. Immerhin liege ich jetzt nicht tot irgendwo im Graben."

Jess entschied sich dazu, ihm nicht zu sagen, dass sie es gewesen war, die den Krankenwagen gerufen hatte. Womöglich geriet sie dann auch noch bei Debbie in Erklärungsnot. Die kam nämlich gerade wieder von der Toilette zurück und sah noch immer nicht besonders begeistert aus. 

"Ich kanns echt nicht fassen!", jammerte sie, als hätte sie bereits die ganze Zeit an ihrem Gespräch teilgenommen. "Wer könnte dir sowas antun wollen?"

Joe zuckte mit den Schultern, als er schlürfend seinen Drink leerte und dann einen großen Bissen von einem Stück Blauberkuchen vor sich nahm. Es konnte ihm doch wohl nicht egal sein.

"Ich weiß nicht", schnaubte er, "aber es bringt nicht viel, wenn ich mir jetzt darüber den Kopf zermartere, wie jemand auf die Idee kommt, mir Buttersäure in den Drink zu kippen."

Ganz plötzlich war Jess hellwach.

"Buttersäure?", fragte sie so hastig, dass Joe sich beinahe an seinem Kuchen verschluckte.

"Buttersäure, Liquid Ectasy, K.o. Tropfen, ist doch alles das Selbe", brummte er schmatzend. "Fakt ist, dass Pferd X ne ziemliche Schraube locker haben muss, wenn es so etwas macht."

Darin waren sich alle Pferde an dem kleinen Kaffeetischchen einig. Jess jedoch war bereits weit weg, an einem anderen Ort. Die Erkenntnis hatte sie getroffen, wie ein Schlag, mitten ins Gesicht. Mit einem Mal wurde ihr klar, was sie am Morgen in Clyves Wohnung entdeckt hatte. 4- Hydroxybutansäure war ein äußerst wirkungsvolles Betäubungsmittel mit vielen Namen. 

Der Palomino hatte wohl gehofft, dass sie es nicht herausfinden würde, doch Jess war dahingehend wohl etwas cleverer, als er. 

Na warte, dachte sie mit äußerster Verbitterung über die Zustände, in die Clyve sie nun immer weiter hinein ritt. Das würde Folgen haben. Aber den Gefallen, dem Labor fernzubleiben würde sie ihm dadruch nicht tun. Eher im Gegenteil. 

Jess stand so abrupt vom Tisch auf, dass Debbie und Joe erschrocken in sich zusammen fuhren. Dann galoppierte sie ohne ein Wort des Abschieds davon. 

Wenn Clyve dachte, dass er so einen Keil zwischen Sie und ihre Schwester treiben konnte, dann hatte er sich gewaltig geschnitten. "Jetzt erst recht!", wieherte Jess leise, als ihre Hufe sie zurück nach Hause trugen. Schon morgen würde sie das Angebot von Clyves Vater geltend machen und ihren Dienst antreten.

"Jetzt erst recht, Clyve! Du verdammter Arsch!"

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