Kapitel 21 - Das Experiment, von dem niemand spricht
"Huch? Ich wusste gar nicht, dass wir hier auch Schlafplätze anbieten."
Jess schlug die Augen auf, als ein stämmiges, dunkelbraunes Pferd mit einer äußerst merkwürdigen Blesse verwundert auf sie herab blickte. Er klang nicht böse. Nein, eher überrascht. Und er gab ihr auch nicht das Gefühl, dass sie am besten sofort aufspringen und ihm erklären müsste, was genau sie hier machte. Das wusste sie nämlich selbst nicht so recht. Sie musste nach ewiger Suche nach einem Ausgang wohl eingenickt sein.
Als Jess Augen sich endlich scharf stellten, konnte sie auch erkennen, dass es ein Hengst, etwa um die dreißig, im besten Alter war.
Seine Stirn war beinahe vollständig von einer Art V-förmigem Rahmen bedeckt, der sich bis zu den Nüstern zog. Ein Streifen braunen Fells zog sich mitten durch diese Blesse hindurch und ließ ihn dadurch nicht nur äußerst seltsam, sondern auch ziemlich gruselig aussehen.
Jess hatte noch nie ein Pferd mit einem solchen Abzeichen gesehen.
"Keine Angst. Ich fresse dich schon nicht. Der Sturz durch den Wäscheschacht sollte Strafe genug für deine Neugier gewesen sein, findest du nicht?"
Jess nickte stumm und blickte sich in dem nun hell erleuchteten Raum um. Sie war tatsächlich auf einem Haufen Wäsche gelandet. Glücklicherweise. Denn wenn sie nach oben blickte, sah sie nichts als Schwärze. Sie musste mindestens zehn Meter in die Tiefe gestürzt sein. Wenn nicht sogar mehr.
"Du weißt aber, dass unser Rutschentestgelände noch nicht eröffnet wurde, oder? Ich meine, es mag verlockend sein, sie vorher schon auszuprobieren, aber es ist ganz schön gefährlich!"
Jess wusste nicht, warum, aber sie mochte diesen Hengst. Er schien ihr für ihren Regelverstoß weder wütend zu sein, noch hegte er offenbar die Absicht, sie bei seinem Boss zu verpetzen. Das erleichterte sie, wenn auch sie hoffte, dass sie ihm vertrauen konnte. Oder ihn wenigstens darum bitten konnte, sie lebend und unentdeckt wieder hier heraus zu bringen.
"Also, ich nehme jetzt einfach mal dreist an, dass du nicht sprechen kannst. Deshalb werde ich dich Wuscheline nennen und nicht danach fragen, warum um Himmels Willen du durch den Wäscheschacht gerutscht bist. Ok?"
"Jessica - Jess!", schnaubte Jess daraufhin schnell. Sie wollte nicht unhöflich sein. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie all ihre Gedanken gar nicht laut ausgesprochen hatte.
"Okay, Jessica-Jess. Mein Name ist Conor Kilbourne und es interessiert mich überhaupt nicht, was du hier treibst. Aber du siehst hilflos aus und deshalb werde ich dich zum Ausgang begleiten. Folge mir!"
Jess erhob sich, als der Hengst kehrt machte und am Türrahmen auf sie wartete. Sie stand jedoch wie angewurzelt, denn sie wusste nicht, ob dieses Pferd sie nicht vielleicht doch in eine Falle locken wollte.
"Conor?", frage sie deshalb. Der Hengst spitzte die Ohren mit interessierten Augen. "Sag mal. Werden hier Experimente an Pferden durchgeführt? Ich bin Praktikantin - na ja - zumindest bald. Und Clyve ist mein Freund. Deshalb würde es mich brennend interessieren."
"Es ist mir leider nicht gestattet, dir darüber Auskunft zu geben", antwortete Conor daraufhin mit freundlicher Stimme. "Aber ich kann dich beruhigen, dass alles, was hier geschieht legal und vom Staat genehmigt wurde. Wir haben schließlich einen Ruf zu verlieren."
"Und was ist mit dem Experiment A3360?", fragte Jess daraufhin, unbedacht, dass sie damit womöglich schlafende Hunde wecken und sich selbst in große Gefahr bringen könnte. Conors Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig von freundlich zu äußerst schockiert. Er blickte hektisch hinaus auf den Gang, bevor er die Tür schloss und dann ein paar Schritte auf Jess zu machte.
"Woher zum Teufel weißt du davon?"
"Ich sagte doch, dass Clyve mein Freund ist", schnaubte Jess mit trotzig angelegten Ohren. "Ich hab's in seinem Notizbuch gelesen und war gestern dummerweise zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich habe gesehen, wie sie diesen weißen Hengst eingeliefert haben."
Conor keuchte auf, als hätte ihn jemand in den Bauch getreten. "Jessica, du wirst nie wieder mit irgendjemandem über dieses Thema reden, verstanden? Du bist - wie gesagt- ein unschuldiges Pferd, das zur falschen Zeit am falschen Ort war. Und du kannst froh sein, dass ich es war, der dich gefunden hat und nicht der Professor persönlich."
"Aber du sagtest doch, dass alles hier legal und-"
"Vergiss, was ich gesagt habe!", unterbrach sie der braune Hengst so unwirsch, dass ihr kalt um die Hufe wurde. "Wenn der Professor das heraus findet, macht er Hackfleisch aus mir, weil ich dich nicht zu ihm gebracht habe."
Irgendetwas an Conor ließ Jess erahnen, dass er es bitter ernst meinte. Und dass er ihr deshalb trotzdem aus der Patsche helfen wollte, machte ihn für Jess zu ihrem persönlichen Held des Jahres.
"Ich habe nur gesehen, dass sie bei dem Pferd eine künstliche Alexitymie hervorrufen wollen. Stimmt das? Aber das kann doch nicht legal s-"
"Mein Gott, Jessica! Wirst du wohl still sein!", herrschte der dunkelbraune Hengst sie an. "Über dieses Experiment redet niemand. Keiner! Ich weiß nichts darüber und ich will nichts darüber wissen, hast du mich verstanden? Ich bringe dich jetzt hier raus und du wirst nie wieder her kommen. Nicht zum Praktikum - niemals! Zu deinem eigenen Schutz!"
Dieser Hengst hatte panische Angst vor etwas. Aber wovor? Vor seinem Chef? Davor, vielleicht seinen Job zu verlieren? Wenn sie erwischt wurden, würde sie die Schuld auf die eigene Schulter nehmen. Das war sie Conor pflichtig.
Jetzt verstand Jess immerhin, warum Clyve so merkwürdig reagiert hatte, als sein Vater ihr das Praktikum angeboten hatte. Er wollte nicht, dass sie davon erfuhr, was hier passierte. Er hatte sie schützen wollen.
Aber war er wirklich einer von diesen Pferden, die ein solches Experiment durchführten? Der weiße Hengst hatte jedenfalls nicht ausgesehen, als sei er freiwillig hier gewesen. Also wer war er und warum war er hier?
"Kommst du nun oder wartest du darauf, dass dir Flügel wachsen?", schnaubte Conor ungeduldig in ihre Richtung. Jess setzte sich sofort in Bewegung und folgte dem dunkelbraunen Hengst, der sie zielsicher durch die verzweigten Gänge leitete.
"Wenn jemand an uns vorbei kommt, benimm dich einfach, als gehörst du zu mir. Und kein Wort. Ich übernehme das Reden."
Jess nickte auf die Anweisung des freundlichen Pferdes und entspannte sich ein wenig. Solange sie bei ihm blieb, konnte ihr nichts passieren. Außer, sie liefen Clyve über den Weg. Dann war sie im Eimer.
"Warum hilfst du mir?", schnaubte Jess dann, nachdem Conor sie um etliche Ecken und durch zahlreiche Gänge geführt hatte, die irgendwie alle gleich aussahen.
"Ich habe eine Schwester", der dunkelbraune Hengst drehte sich nicht einmal nach Jess um, während er antwortete, "und die ist auch durch falsches Timing auf die falsche Bahn geraten. Jetzt hat sie einen dieser hellfelligen Hengste geheiratet, der andauernd fremdgeht, säuft, wie ein Loch und mein kleiner Neffe verwahrlost bei ihr, weil sie unglücklich in der Ehe ist und ihre Zeit lieber damit verbringt, ihr Geld beim Glücksspiel aus dem Fenster zu werfen."
"Oh, das klingt wirklich nicht gut. Warum hat das Jugendamt noch nicht eingegriffen?"
Conor seufzte. "Haben sie. Ich habe auch einen Adoptionsantrag gestellt. Aber diese verfluchten Bürokratenärsche meinen, dass die Zustände nicht schlimm genug seien, um ihnen meinen Neffen abzunehmen. Stattdessen dulden sie, dass er täglich mit den zwanghaften Neurosen seiner verkorksten Eltern konfrontiert wird und denken dabei wohl, dass er das alles nicht verstünde. Er ist nicht dumm, weißt du? Er ist jetzt gerade einmal fünf Jahre alt und kann schon lesen und schreiben. Und ich fördere ihn, so gut ich kann, aber er lässt nur ganz wenige Pferde an sich heran. Er ist so scheu..."
Conor räusperte sich mit trockenem Hals. Das Thema schien ihm sehr zu schaffen zu machen. Jess konnte verstehen, dass er um die Zukunft seines Neffen besorgt war. Sie wäre wahrscheinlich ebenso besorgt, wenn es um ein Fohlen ihrer Schwester ginge. Hoffentlich ließ die sich damit aber noch etwas Zeit.
Als die beiden endlich bei einem Aufzug ankamen, blickte der dunkelbraune Hengst mit gespitzten Ohren zu ihr herüber.
"Pass auf, was du mit deinem Leben machst, Jessica. Eine falsche Entscheidung kann alles für immer verändern. Darum denk an unsere Abmachung, okay?"
Jess nickte ihm dankbar zu. Es war nicht selbstverständlich, dass er als Unbeteiligter einer wildfremden Stute half, die sich aus eigener Dummheit in den Gängen eines Labors verirrt hatte, das im Geheimen an Pferden experimentierte.
Der Aufzug zeigte an, dass die Kabine bald in ihrem Stockwerk ankommen würde. Jess war tatsächlich in das fünfte von sage und schreibe sechsundzwanzig Stockwerken gerutscht. Sie hatte wahrlich Glück gehabt, dass sie nicht noch tiefer gefallen war.
"Ich werde dich gleich nach oben schicken. Ich muss hier leider die Stellung halten, auch, wenn ich dich gerne weiter begleiten würde", meinte ihr Retter in der Not, beinahe lachend.
"Ich finde schon heraus", gab sie ihm lachend zur Antwort. "Schließlich habe ich es ja auch irgendwie hier herunter geschafft."
Mit einem hoffnungsvollen Pling traf die Aufzugskabine bei ihnen im Stockwerk ein. Doch als die Türen sich vor ihren Nasen öffneten, blickte sie ein stämmig gebauter Palomino ohne Abzeichen aus düsteren, blauen Augen an, die aussagten, dass er überhaupt nicht erfreut war, sie hier zu sehen.
"Kilbourne, McLaren! Mitkommen! Sofort!" , seine donnernde Stimme duldete definitiv keine Widerrede. Jess blieb die Spucke im Hals stecken, der vor Schreck ganz trocken geworden war. Sie war erwischt worden. Und nun gab es kein Zurück mehr.
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