Kapitel 20 - Dunkle Geschäfte

Clyves Hufspuren auf dem nachtnassen Boden führten Jess zu einem Taxistand, an dem zwei Wägen einsam auf Kundschaft warteten. Ein dritter Taxiparkplatz war frei und ließ darauf schließen, dass Clyve wohl die Dienste eines Fahrers in Anspruch genommen hatte.

Völlig außer Atem, schlitterte Jess vor den zwei verbliebenen Taxifahrern zum Stillstand, die sich auf ein Schwätzchen vor ihren Autos aufgestellt hatten. Sie blickten ein wenig verwundert drein, als sie bemerkten, dass die aufgebrachte, braune Stute kaum noch Luft bekam.

"War hier gerade ein Palomino mit vier weißen Beinen und einem dunklen Anzug?", ächzte sie, noch immer nach Luft ringend. Einer der Taxifahrer, ein dunkelbraunes Zwergenpony nickte freundlich.

"Jap. Ist mit Chester mitgefahren."

"Wisst ihr auch, wohin er wollte?"

"Sí", nickte der andere, ein mittelgroßer Fuchsschecke. "Dürfen aber nicht sagen. Wegen die Schweigepflicht und so."

Jess Hoffnungen verpufften schneller, als ein Tropfen Wasser auf einem heißen Stein in Malibu.

"Bitte! Es ist wirklich wichtig! Er ist mein Freund und ich hab Mist gebaut und jetzt weiß ich nicht, was ich sonst tun soll, weil ich ihn liebe und ich-"

"Wow. Wow, liebes", schnaubte das dunkelbraune Pony aufgeregt. "Ganz ruhig. Sag das doch gleich!"

Jess traute ihren Ohren nicht. Hatte die alte Masche wirklich gewirkt? Die nahmen ihre Schweigepflicht ja wahnsinnig ernst. Ihr war das nur recht, aber wenn sie jemanden abschütteln wollte, hätte sie das sicherlich nicht ganz so toll gefunden.

"Heute ist dein Glückstag, denn heute stehst du vor Amor höchstpersönlich! Zumindest seinem Namensvetter. Aber der Name ist hier Programm!"

Amor? Der Liebesgott? Wie auch immer. Ihretwegen konnte dieses Pony sich auch Batman oder, besser noch, Joker, nennen, solange er sie nur zu Clyve, oder zumindest in seine Nähe brachte. Am besten noch so, dass er sie nicht entdeckte. Einen guten Sicherheitsvorsprung hatte er ja bereits.

"Er wollte zu dem Laborkomplex bei Hancester. Is'n gutes Stück von hier. Aber ich bring' dich hin!"

Hancester! Warum hatte Jess nicht gleich daran gedacht? Freudig stieg sie in Amors Taxi und ließ sich von dem Zwergenpony chauffieren. Währenddessen tippte sie schnell eine Nachricht an ihre Schwester, dass ihr Freund im Krankenhaus war und sie mit Clyve zusammen noch einen spontanen Ausflug machte.

Wenn sie so weiter machte, würde sie als Ameise wieder geboren werden, dachte sie bitter. So viel mieses Karma, wie sie in den letzten Tagen durch kleine Notlügen gesammelt hatte, war sie sicherlich nicht weit davon entfernt.

Das Taxi fuhr unterdessen in ein heftiges Sommergewitter hinein, als es sich dem großen Gebiet außerhalb der Stadt Hancester näherte, die ein paar Meilen von Southbank landeinwärts lag. Die Einrichtung von Hancester Science Laboratories lag allerdings relativ weit abseits der Stadt, mitten in der Pampa. Angrenzend lag ein riesiges Areal, auf dem Raketen und Sprengstoffe getestet wurden. Jedoch weit genug von der Stadt entfernt, dass keine Gefahr durch Querschläger oder Rauchbelästigung mehr bestand. 

Jess ließ Amor ein paar hundert Meter vom Eingang entfernt parken und steckte ihm dann großzügig einen Fünfziger zu, den er dankend annahm und sich dann mit einem "Für die Liebe!" ehrenvoll verabschiedete.

Jess stand nun ganz alleine im Regen und hoffte, dass sie so schnell wie möglich einen Weg ins Innere des Komplexes fand, denn das komplette Grundstück des Labors war von einem hohen Maschendrahtzaun umgeben und es gab nur eine Schranke am Eingang, die von einem Pferd in einem Wärterhäuschen bewacht wurde. 

Das Gebäude des Labors an sich wirkte nicht besonders imposant. Es war vielleicht gerade einmal zwei Stockwerke hoch und erstreckte sich etwa fünfzig Meter in die eine und fünfzig Meter in die andere Richtung.  Wie weit es noch nach hinten ging, konnte Jess nur erahnen, aber sie ging davon aus, dass das Gebäude eine rechteckige Grundfläche besitzen musste und sie gerade auf die längste Seite blickte. Aber vielleicht hatte das Labor ja noch ein paar unterirdische Testräume. Das war nicht unüblich bei Labors, die mit Sprengstoffen experimentierten. 

Als Jess merkte, dass der Wachmann in dem Wärterhäuschen sich weder rührte, noch irgendein Lebenszeichen von sich gab, wagte sie sich einige Schritte auf die Schranke zu. 

"Eindeutiger Fall von Arbeitsziel verfehlt", murmelte sie grinsend. Der Wachmann schlief tief und fest. Auf dem Tisch vor ihm flackerte ein mini Fernseher irgendeine Dauerwerbesendung vor sich hin. Jess nutzte also die Gelegenheit, um an der Schranke vorbei auf das Gelände und von dort in das düstere Gebäude zu gelangen.

Ein eisiger Schauer lief ihr den Rücken herunter, als Jess durch das dunkle Eingangsfoyer tappte. Ihre Augen brauchten sehr lange, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte und sich wenigstens ein wenig an den Schildern an der Decke orientieren konnte. 

Sie befand sich hier auf der Therapieebene. Dem Ort, an den Pferde kamen, die an teils sehr schweren Krankheiten litten, für die es noch keine offiziellen Heilmethoden gab. Das Foyer war sehr offen und steril gestaltet. Aber nicht so, dass man sich darin unwohl fühlte. Vielmehr wirkte es, wie das Wartezimmer einer gewöhnlichen Arztpraxis. 

Es gab Bänke und Ständer mit Zeitschriften und in einer Ecke lag Fohlenspielzeug herum. Eigentlich ganz harmonisch. Leider bekam die Harmonie durch Jess unerlaubte Mission einen leicht bitteren Nachgeschmack.

"Was mache ich hier eigentlich?", murmelte Jess zu sich selbst. Wie zum Teufel hatte sie sich vorgestellt, Clyve hier finden zu können, wenn sie weder eine Erlaubnis besaß, hier zu sein, noch wusste, wo er überhaupt steckte? 

In diesem Moment schlug ein Blitz ganz in der Nähe ein. Jess erschrak bei dem gewaltigen Knall so sehr, dass sie sich mit einem gewagten Sprung hinter den Empfangstresen rettete. Und das keine Sekunde zu früh.

Nur einen winzigen Augenblick später wurde die Schranke außerhalb des Gebäudes hochgelassen, um einem dunklen Transporter Einlass zu gewähren. Vier Pferde in weißen Kitteln stiegen aus und zogen eine Bahre aus dem Laderaum, auf der ein Pferd lag. Ein weißes Pferd mit dunkler Mähne, dessen Bahre sie äußerst grob herum stießen und schließlich auf das Gebäude zu rollten. 

Der arme Hengst hatte struppiges, schmutziges Fell und sah allgemein so aus, als wäre es kürzlich heftig zusammengeschlagen worden. Hastig duckte Jess sich etwas, als die Tür zum Foyer aufgestoßen wurde und die Pferde die Bahre an ihr vorbei schoben. Zum Glück lag der Tresen im Schatten, sodass die Pferde nicht bemerkten, wie sie über die Kante spähte, um einen Blick zu erhaschen, was zum Teufel hier vor sich ging.

Der weiße Hengst versuchte offenbar, sich gegen seinen Transport zu wehren, da er immer wieder schlapp mit den Beinen ausschlug und versuchte, seinen Kopf zu heben. Offenbar war er jedoch zu schwach oder zu benebelt, um den vier Pferden eine ernsthafte Gefahr darzustellen.

Als die Bahre direkt vor ihr vorbei rollte, hob der Hengst seinen Kopf und nur kurz - ganz kurz - trafen sich ihre Blicke. 

"Ich bin nicht verrückt", murmelte er mit einem Funken Hoffnung in seinen Augen. Seine Stimme war kaum hörbar, doch Jess hatte sie und auch den verzweifelten Tonfall, den der Hengst dabei gehabt hatte, vernommen.

Und dann war die Gruppe auch schon verschwunden. Jess wollte sich gerade wieder aus dem Staub machen, als sie Clyves Stimme im Gang hörte. Mit vor Panik klopfendem Herzen duckte sie sich noch tiefer, als Hufgeklapper direkt vor dem Tresen zu hören war. 

Der goldene Hengst hielt kurz, direkt vor ihr, inne und man hörte, wie er verwundert die Luft prüfte. Dann eilte er jedoch schulterzuckend der Gruppe hinterher. Dem Regen sei Dank hatte er ihr Parfum nicht mehr riechen können. Jess schickte ein Stoßgebet in den Himmel. Sonst wäre sie doch wirklich sehr in Erklärungsnot geraten.

"Bringt ihn ganz nach Unten!", rief Clyve den Kittelpferden lauthals hinterher, "Zelle A3360! Ich komme gleich nach!"

"A3360", murmelte Jess. "Das hat es damit also auf sich."

Sie wartete noch einen Augenblick, bis sie sicher war, dass Clyve und seine Arbeiter wirklich außer Hörweite waren, als sie zurück zum Eingang schleichen wollte. Doch genau da fuhr noch ein Wagen auf den Innenhof. In Panik raste Jess durch das Foyer und in einen der Gänge, der in die entgegengesetzte Richtung führte, in die die Pferde den weißen Hengst gebracht hatten. 

Doch leider gab es weit und breit keine Versteckmöglichkeit und zu allem Überfluss auch keine Seitengänge, in denen sie sich hätte aufhalten können. So konnte man sie vom Foyer aus sehr einfach erkennen.

Voller Verzweiflung machte Jess vor einer großen Klappe in der Wand Halt, die dem Aufdruck nach zufolge wohl ein Wäscheschacht sein musste. Prüfend stieß Jess die Klappe mit der Nase auf und bemerkte, dass ein Rohr schräg hinunter in einen dunklen Raum führte. 

War sie verzweifelt genug, um ein so riskantes Manöver zu wagen? Das Klappern der Türen des Eingangs und die darauf folgenden Schritte von Professor Dr. Higgins zeigten Jess, dass sie sehr wohl verzweifelt genug war. Sie quetschte sich mit den Vorderhufen voran in den Schacht hinein und begann so, in die Tiefe zu rutschen.

Wie sie jemals wieder ans Tageslicht kam, ohne dabei entdeckt zu werden,  kam ihr dabei nicht in den Sinn. Sie rutschte unaufhaltsam und immer schneller werdend den Schacht hinab, der unter ihrem Gewicht bedrohlich zu knarzen begann. 

Plötzlich verschwand jedoch das Rohr unter Jess und sie fiel. Weiter und weiter in die Tiefe. Jess strampelte panisch mit den Hufen um sich, vergaß dabei, wo oben und unten war und schrie lauf auf, als sie auf einem Haufen Wäsche in dem dunkelsten Raum aufschlug, den sie je zuvor gesehen hatte.

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