Kapitel 15 - Rosarote Brille

"Dein Vater und du, ihr mögt euch wirklich nicht sonderlich, oder?", war Jess erste Frage, als Professor Doktor Lester Higgins in Richtung Toilette verschwunden war. Er hatte ganz gewiss nicht damit gerechnet, seinen Sohn und dessen Freundin auf dem Weg dorthin anzutreffen. Aber er hatte auch nicht den Eindruck gemacht, dass er besonders erfreut über diesen Zustand gewesen war.


"Geht so", knurrte Clyve, etwas genervt in seinen Oliven-Salbei-Feigen Maccheroni herumstochernd. Man merkte ihm deutlich an, dass er lieber über 9/11 geredet hätte, als über seine Beziehung zu seinem Vater. Jess entschied sich dazu, nicht weiter Salz in seine offensichtlichen Wunden zu streuen und widmete sich stattdessen dem kulinarischen Meisterwerk vor ihr. Ein herrliches Süßkartoffel-Chili mit Reis, Zucchini, Oliven und Paprika, das unheimlich lecker duftete.

So standen sie sich eine Weile am Tisch gegenüber. Schweigend, wie Gräber und aßen in dieser bedrückenden Atmosphäre. Es hätte doch ein so schönes Date werden können, dachte Jess in diesem Moment. Doch offenbar hatte Clyve denselben Gedanken gedacht und hob nun den Kopf, um sie anzulächeln.

"Hey", schnaubte er mit seinem niedlichen Hundeblick auf den Augen. Sein Huf suchte den ihren und er umfasste ihr Vorderbein sanft mit seinem unter dem Tisch. "Ich sehe, dass du Fragen hast. Was ist denn?"

"Nein", schnaubte Jess nur, legte ihren Kopf schief und lächelte ihn an. "Ist okay. Ich verstehe, wenn du nicht darüber reden willst, was passiert ist. Lass uns einfach Spaß haben und die Sache vergessen, okay?"

Ein kleiner Funke der Dankbarkeit glitzerte in Clyves Augen auf. Ein Stein der Erleichterung schien mit einem Mal von seinem Herzen abzufallen, der ihn die ganze Zeit über bedrückt hatte. Offenbar hatte Jess das Richtige getan. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass sie mit seiner Entscheidung, ihr so vieles zu verschweigen, d'accord ging. Es war einfach nicht gerecht. Schließlich waren sie doch ein Paar und sollten keine Geheimnisse voreinander haben, oder doch?

"Jess. Du siehst übrigens wunderschön aus, habe ich dir das schon gesagt?", riss Clyve sie aus den Gedanken. Oh, dieser schlaue Kerl! Er wusste genau, wie er Jess ablenken konnte. Das war einer der ältesten Tricks überhaupt. Aber er funktionierte. Und wenigstens brachte er die beiden auf andere Gedanken.

Es wurde trotz allem ein herrlicher Abend, mit viel gutem Essen, Wein und Gelächter. Jess konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so viel Spaß mit einem Typ gehabt hatte. Clyve hatte etwas an sich, das sie sich besonders fühlen ließ.

Auch, wenn er charakterlich vielleicht gar nicht das darstellte, was sie sich immer für ihren Freund gewünscht hatte, so schien es doch, als hätte dieser Hengst trotz seiner Macken das Herz am rechten Fleck. Für ihn war sie perfekt. Und es tat so unheimlich gut, immer und immer wieder von seinen schönen Worten aufgebaut und gestärkt zu werden. Es gab ihr Selbstvertrauen und das Gefühl, niemals alleine zu sein. Beschützt und behütet zu sein, was auch immer passierte. Und dieses Gefühl war das Schönste auf der ganzen Welt.

Als sich der Abend dem Ende neigte, rief Clyve den beiden ein Taxi, da er sich nicht traute, mit seinem Alkoholspiegel noch Auto zu fahren. Den Wagen würde er am nächsten Tag von einem Kurier des Restaurants bringen lassen.

Erst war es nur ein kurzer Kuss auf dem Rücksitz des Taxis, dann ein weiterer und ein weiterer. Und mit dem Wein im Kopf, 'Feel Good' von den Gorrilaz im Radio und dem herrlichen Duft von Clyves Parfum, verschwamm die Welt schon bald zu einem perfekten Bild aus rosaroten Blüten und Schmetterlingen, die durch ihren Bauch flatterten. Einfach alles in Jess Körper schaltete auf Durchzug, denn es gab gerade nur diesen einen Moment, der hoffentlich niemals enden würde.

Jess kicherte schrill auf, als Clyve sie spielerisch durchkitzelte, dann fand sie sich in seinen Armen wieder, wo sie Kuss um Kuss verharrte, bis sie schließlich bei ihm zu Hause angekommen waren.

Clyve gab dem Taxifahrer ganze zwanzig Dollar Trinkgeld, denn zum Wechseln war keine Zeit mehr. Betrunken vor Glück und vielleicht auch ein bisschen von dem verboten guten Wein, stürzten sie sich sofort ins Schlafzimmer, wo sie Tür und Jalousien verschlossen, um ganz für sich alleine zu sein.

Es war eine wundervolle Nacht und selbst, als Jess später in Clyves Arme eingekuschelt neben ihm lag, konnte ihr niemand das unheimliche Gefühl des Glückes nehmen, welches sie in diesem Moment durchflutete.

Erst, als Clyve das Zimmer kurz verließ, um auf die Toilette zu gehen, verblasste der rosarote Schleier allmählich und wurde zu einer unsagbaren Müdigkeit, die an ihren Gliedern riss und sie schon beinahe ins Traumland gezogen hatte, als sie auf dem Boden den Umriss eines Fotos entdeckte, das wohl aus dem Nachttisch gefallen sein musste, als Clyve seine Geldbörse und sein Handy in das Schubfach gelegt hatte.

Es ging sie eigentlich überhaupt nichts an, aber die Neugier war wieder einmal stärker, als ihre Vernunft. Mit vor Müdigkeit hängenden Augenlidern erhob sie sich gähnend aus Clyves Bett und hob vorsichtig das Foto auf, um es sich anzusehen. Darauf abgebildet war eine hübsche Lichtfuchsstute mit sehr hohen Beinabzeichen, die vor dem Hintergrund eines endlosen Meeres glücklich in die Kamera lächelte.

Sie sah Clyve ähnlich. Und die Tatsache, dass es sich bei der Stute um ein Vollblut handelte, bestätigte Jess Annahme, dass diese Stute Clyves Mutter war. Auf der Rückseite des Fotos war das Datum des Fotos mit dem 4. Juli 2000 angegeben. Also war die Aufnahme noch keine fünf Jahre alt. Aber sagte Clyve nicht, dass seine Eltern sich schon vor Ewigkeiten getrennt hatten und sein Vater ihm jeglichen Kontakt zu ihr untersagt hatte?

In diesem Moment hörte sie die Schritte von Clyve vor der Tür. Es war bereits zu spät, um das Foto zu verstecken, also versuchte sie einfach, so cool zu wirken, wie es ihr im Augenblick möglich war, als der Palomino in das Zimmer trat und erschrocken von Jess zu dem Foto zwischen ihren Vorderbeinen blickte, als er bemerkte, dass er nun nicht mehr um ein Gespräch mit seiner Freundin herum kam.

"Das Foto ist herunter gefallen", versuchte Jess sich zu entschuldigen, als sie die zitternden Beine des Hengstes bemerkte, den sie so liebte. "Ich wollte es aufheben und wieder zurück legen, aber-"

"Jessica", unterbrach Clyve sie mit einem Ausdruck in seinem Gesicht, den Jess noch nie zuvor bei ihm wahrgenommen hatte. Mittlerweile war das Zittern von Clyves Beinen auf seinen gesamten Körper übergegangen, als er einen großen Schritt auf sie zu machte und sich mit bebendem Körper an ihre Schulter presste. Jess meinte, ihn leise schluchzen zu hören.

"Ist sie das?", fragte sie vorsichtig, als sie sich langsam von ihrem Freund löste, um ihm in die von Tränen geröteten Augen blicken zu können.

"Ja, das war sie", nickte Clyve daraufhin nur niedergeschlagen. "Das war meine Mutter."


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