Kapitel 10 - Hacker-Jess


Clyve ließ Jess auf seinem Sofa ablegen, holte ihr ein Tablett mit Wasser und ein nasses Handtuch, mit dem sie ihr geschwollenes Auge kühlen konnte. Er schien es recht eilig zu haben, deshalb traute sich Jess nicht zu fragen, woher er gewusst hatte, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Schließlich war sein Haus doch ein ganzes Stück vom Ort des Geschehens entfernt gewesen. Selbst ihre Schreie hätten unmöglich bis hierher vordringen können.

"Ich hab dir einen Krankenwagen gerufen", schnaubte der Palomino sanft, als er näher trat und ihr seine Nüstern tröstend gegen die Wange drückte. "Der sollte gleich hier sein. Ich kann nicht bleiben, deshalb-"

Jess spitzte die Ohren und blickte den Hengst erstaunt an. "Wo musst du denn hin?", fragte sie verwundert. Clyve schien die Frage deutlich unangenehm zu sein.

"Mein Vater braucht mich im Labor. Es ist dringend. Ich war gerade auf dem Weg zum Bus, als ich dich fand."

"Kannst du nicht wenigstens bleiben, bis der Krankenwagen hier ist?", flehte Jess. Sie schniefte, weil es sich anfühlte, als ob ihre Nase lief, aber das warme Rinnsal tropfte einfach an ihren Nüstern herunter. Jess erschrak, als sie bemerkte, dass sie starkes Nasenbluten hatte. Was hatten Shirley und Kimberly nur angestellt? Sie würde die nächsten vierzehn Tage definitiv nicht in den Spiegel schauen, das nahm sie sich fest vor.

Clyve seufzte mitleidig und reichte ihr ein Taschentuch, bevor er nervös auf und ab tigerte und schließlich eine Nummer in das Telefon hackte. 

"Wen rufst du an?", schnaubte Jess, wurde jedoch von einem unwirschen Schhh unterbrochen, das vonseiten des nervösen Palominos kam, der nervös auf seiner Unterlippe herum kaute, bis der andere Gesprächsteilnehmer endlich den Hörer abnahm.

"Dad? Hey, ich bin's. Hör zu. Es gab hier einen Notfall und ich denke, ich kann nicht... Nein, Dad, mir geht's gut... Ich kann nicht, Dad, es geht um meine Freundin, sie ist-...", die Stimme am anderen Ende der Leitung hatte nun eine Lautstärke erreicht, die selbst Jess auf der gegenüberliegenden Zimmerseite hören konnte. Clyve wurde hinter dem Hörer immer kleiner und begann nun, seinen berühmten Hundeblick aufzulegen und seinen Vater unterwürfig anzuflehen.

"Bitte, versteh das doch! Ich kann doch später nachkommen, wenn ihr den Eingriff vornehmt!...", ein lauter Schrei durchschnitt das Zimmer. Clyve legte die Ohren an und wich mit schmerzverzerrter Grimasse vom Hörer zurück, bevor er zu einer Antwort ansetzte. "Nein, sie hört nicht zu...Aber!...DAD!!!...Nein...Ja, nein. Ich verstehe. Ich bin schon unterwegs."

Mit diesen Worten legte er den Hörer auf, bevor er niedergeschlagen zu Jess getrottet kam. 

"Was hat er gesagt?", schnaufte Jess erschöpft, während sie beobachtete, wie Clyve einen weißen Laborkittel überzog und schließlich seinen Schlüssel und sein Geld zusammen packte.

"Ich glaube, das willst du lieber nicht wissen", murmelte er mit rollenden Augen. "Ich sagte ja, dass er ein gefühlskaltes Arschloch ist. Meine Mutter war ihm auch immer herzlich egal."

Jess schluckte. War er deshalb so anhänglich? Weil er sie nicht verlieren oder vergraulen wollte, wie sein Vater seine Mutter zuvor? War das wohl ein altes Kindheitstrauma, welches er zu überwinden versuchte?

"Hör zu", schnaubte er, bereits im Gehen. "Der Krankenwagen wird in spätestens drei Minuten hier sein. Ich werde deshalb die Tür offen lassen, damit du nicht zur Tür rennen musst. Ruh dich einfach aus und fühl dich wie zu Hause! Ich liebe dich!"

Jess hatte nicht einmal die Möglichkeit, sich bei ihm zu bedanken, da war er auch schon aus dem Haus und über alle Berge. Schnaufend lehnte Jess sich in die weichen Kissen des Sofas zurück und atmete einmal tief durch. Da fiel ihr Blick auf Clyves Skizzenbuch auf dem Wohnzimmertisch, in dem er während der Vorlesungen immer herum kritzelte.

Neugierig nahm sie es zu sich und begann darin herum zu blättern. Clyve liebte es wohl, Gebäude zu zeichnen. Kunstvolle Türme und Villen zierten seine teilweise sehr schlampig geführten Uni-Notizen. Seine Aufschriebe waren so chaotisch und so ungeordnet, dass Jess beinahe erstaunt war, wie er es damit überhaupt über das zweite Semester hinaus geschafft hatte.

Seine Zeichnungen hingegen... So akkurat und perfekt. Wie die Zeichnungen eines Künstlers. Manche von ihnen waren mitten auf dem Blatt weshalb sich die Notizen außen herum schlängeln mussten. Allerdings immer mit einem gewissen Sicherheitsabstand, um das Kunstwerk nicht zu zerstören.

Zuerst waren es nur Gebäude, die er zeichnete, dann hatte Clyve wohl begonnen, sich für Neurologie Skizzen des Gehirns zu machen, um die genauen Positionen und Umrisse der Gehirnteile zu dokumentieren. Eine Zeichnung eines Querschnitts eines Gehirns hatte er mit der Unterschrift "A3360" versehen. 

Die Verbindung zum Limbischen System hatte er mit einer gestrichelten, roten Linie unterbrochen und mit einer Ansammlung von Stichpunkten verbunden, die wohl erläuterten, was das zu bedeuten hatte. Die Schrift war allerdings so unleserlich, dass Jess Probleme hatte, sie zu entziffern. Sie schnappte nur Fetzen, wie "Antriebslosigkeit", "Ausschaltung von Emotionen" und "Künstliche Alexitymie" auf. Die nächsten Seiten waren aus dem Buch herausgerissen. 

Jess runzelte nachdenklich die Stirn, soweit Pferde eben mit der Stirn runzeln konnten, und blätterte weiter. Die folgenden Seiten waren nur noch Zeichnungen von Blumen, Bäumen, Natur und  - ihr. Clyve hatte sie gezeichnet. Und er hatte sie gut getroffen.

Immer wieder tauchte der Begriff A3360 in seinen Notizen auf, doch oftmals war der Begriff versteckt zwischen seinen Uni-Aufschrieben. Als hatte er geahnt, dass Jess irgendwann das Buch in die Hufe bekam und sehen würde, was er da alles gezeichnet hatte. Irgendetwas verheimlichte er ihr. 

Jess entdeckte nun den Laptop auf dem Küchentisch, den Clyve zurückgelassen hatte und ihre Neugier steigerte sich ins unermessliche. Vielleicht hatte er da ja noch ein paar Dinge gespeichert, die sein merkwürdiges Verhalten heute erklärten. Oder vielleicht fand sie ja auch ein paar niedliche Peinlichkeiten, mit denen sie ihn später aufziehen konnte.

Jess wusste, dass es ihr eigentlich überhaupt nicht zustand, in Clyves Sachen herum zu schnüffeln, doch irgendwie war ihre Neugier in diesem Moment größer, als ihre Vernunft.

"Jessica McLaren geht also unter die Hacker", lachte sie bei sich, als sie mit klopfendem Herzen den großen, schweren Laptop aufklappte und ihn einschaltete. Das laute, surrende Geräusch des Gebläses surrte um ihre Ohren, als Windows XP hochfuhr und die gewohnte Startmelodie um ihre Ohren dudelte. Der Desktop wurde sichtbar und Jess wollte gerade die Dateien durchforsten, als sich ein Programm öffnete, welches alle anderen Funktionen völlig außer Kraft setzte und ein Passwort abfragte. Ein Countdown zählte von dreißig herunter und als er Null erreichte, schien das Programm zu aktualisieren, blendete kurz aus und wieder ein und begann dann erneut von dreißig herunter zu zählen.

"Mhh, lass mal sehen", murmelte Jess und gab 1234 ein. Fehlanzeige! Der Countdown startete erneut und der Fehlversuch wurde über dem Fenster für die Passworteingabe vermerkt. Jess Herz klopfte heftig. Hoffentlich konnte Clyve nicht sehen, dass sie versucht hatte, sein Passwort zu knacken.

Mit einem tiefen Atemzug gab Jess das Geburtsdatum von Clyve ein. Wieder Fehlanzeige. In der Ferne hörte sie die Sirenen des Krankenwagens langsam näher kommen. Einen Versuch hatte sie noch. Jess gab willkürlich irgendwelche Zahlen und Buchstaben ein, drückte auf Enter und plötzlich verschwand das Programm. 

"Hab ich es geschafft?", fragte sie verwundert. Jess traute ihren Augen kaum. "Hacker-Jess ist voll am Start!", lachte sie stolz, doch in diesem Moment rumpelte es an der Tür und zwei Notärzte traten ein. Ertappt grinste Jess die beiden an und fuhr dann den Laptop wieder herunter.

Die beiden Rettungsärzte versorgten die schlimmsten Wunden und Kratzer vor Ort, bevor sie Jess auf ihre Bitte zu ihr nach Hause fuhren, wo sie sich erst einmal auf ihr Bett fallen ließ, um die letzte Dreiviertelstunde Revue-passieren zu lassen.

Was hatte dieser Hengst nur zu verheimlichen, dass er seinen PC mit einem Programm sicherte, das alle dreißig Sekunden ein neues Passwort generierte und dass er mehrere Seiten aus seinem Notizbuch herausreißen musste, damit sie sie nicht zu sehen bekam. 

Irgendetwas an Clyve wurde von Minute zu Minute merkwürdiger. Doch Jess würde es herausfinden. Das schwor sie sich.

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