KAPITEL 6


Willow blieb den gesamten Tag über wie vom Erdboden verschluckt.
Man musste ihr lassen, dass sie genau wusste, wie sie einen Menschen zum Nachdenken zwingen konnte und was sie zu tun hatte, um das Gewissen eines Mannes, wie Wesley einer war, zu kitzeln.
Dass er den ganzen Tag ohne ein Widerwort auf den Zettelchen sitzen blieb, die Willow ihm zum Frühstück serviert hatte, gefiel ihm nämlich gar nicht und die Ungewissheit war es, die Wesley beinahe wieder wütend werden ließ.
Er ärgerte sich über Willow, dass sie ihm nicht einfach gekontert hatte, wenn ihr nicht passte, wie er sich ausdrückte. Gleichzeitig wusste er genau, dass er Schuld hatte und dass er zu vollkommenem Unrecht geflucht hatte.
Ja, Heaver war wirklich widerlich gewesen und Willow hätte ihm vielleicht von ihr erzählen sollen. Aber letztendlich war Heaver eine Ziege und eine Ziege ein Lebewesen und jedes Lebewesen hatte einen eigenen Willen. Heaver war ausgerissen und hatte ihn konfrontiert. Willow hatte ihn gerettet und das war sein Dank gewesen.
Nein, er hätte das nicht sagen dürfen.

Eigentlich entschuldigte sich Wesley nie.
Er war nicht der Typ Mensch, der sich gerne Dinge eingestand und dann Erkenntnis zeigte. Sein Motto lautete stets, es gar nicht so weit kommen zu lassen, dass man etwas bereuen konnte.
Und eigentlich klappte das auch ganz gut.
Als Anwalt bewahrte er seine Professionalität und machte einfach keine Fehler, für die er sich entschuldigen musste und privat war er meistens allein oder mit Freunden in einem Club und lief einer Konfrontation stets aus dem Weg. Er wollte sich mit niemandem streiten, sich bei niemandem entschuldigen und Konflikte gab es für ihn nur im Gerichtssaal zu lösen – und dann gewiss nicht seine eigenen.
Wer keine Probleme machte, der hatte auch weniger von ihnen an den Fersen kleben.

Ja, das hatte stets gut funktioniert.
Und nun ...
Nun hatte er schon seit Stunden einen unausgesprochenen Konflikt mit einer fremden Person, die ihm den Arsch gerettet hatte ihn aber auch jederzeit versohlen konnte.
Willow konnte Wesley ganz einfach auf die Straße werfen und dann war Heaver sein geringstes Problem.

Dass Willow so lange fort war, nagte an dem Städtler. Er wollte es jetzt einfach hinter sich bringen, ein »Sorry« nuscheln und dann hoffen, dass sie mit ihrem strotzenden Selbstbewusstsein darüber hinwegsah. Er war doch nur irgendein dummer Stadtmensch. Wieso sollte sie von seinen Worten wirklich verletzt sein?

Sie beide waren einander doch vollkommen egal.

Während Wesley wartete und wartete, machten Willow und Heaver sich einen wunderschönen Tag am See, der am Rande des Dorfes zwischen Maisfeldern und dem anliegenden Waldrand lag und im Sommer ein beliebtes Anlaufziel für die Einwohner von Innerforks war.
Tiefenentspannt und ungerührt lag Willow neben Heaver auf dem großen Donut-Schwimmring, den sie letztes Jahr angeschafft hatte und las aus ihrer Lektüre vor, damit ihre Ziege sich nicht langweilte.
Das Wasser war klar und erfrischend an dem so warmen Dienstag.
An Wesley verschwendete Willow keinen Gedanken.
Sie wusste, dass er an sie dachte, dass ihn sein Gewissen plagte und dass er im Inneren einen kleinen Kampf mit seinem Stolz führte.
Aber er wusste nicht, dass er gar keinen Einfluss auf sie hatte.
Wesley wusste nicht, dass Willow seinen Worte keinen Schimmer Ärgernis widmete und dass sie von dem beleidigenden Wutausbruch keinen Zorn auf ihn hegte.
Ganz im Gegenteil.
Willow empfand großes Verständnis für Wesley.
Sie sah ein, dass es für einen Anwalt aus Washington nicht einfach war, sich von jetzt auf gleich von Luxus auf Standard hinabzulassen.
Sie verstand, dass er nicht in Innerforks sein wollte, dass sie nicht der Traum von einer Frau war und dass ihn der Schaden am Auto einfach frustrierte.
Sie verstand ihn so viel besser, als er glauben konnte und trotzdem hatte sie ihm einen kleinen Denkanstoß verpassen wollen, um ihn darauf hinzuweisen, dass er trotz seines Geldes nicht mehr und nicht weniger ein Mensch war und sich durchaus auch wie einer verhalten konnte.
Sie erwartete keine Entschuldigung. Er hatte ihr seine Meinung gesagt und das war in Ordnung. Sie lebten in Amerika und er hatte das Recht, frei zu äußern, was er dachte. Wenn er sie für irre hielt, dann war das okay.
Aber nur weil es okay war, war es nicht unbedingt nett und genau das hatte sie ihm mitteilen wollen, als sie den Frühstückstisch für ihn gedeckt hatte.

Als Willow am frühen Abend den Heimweg antrat und in der angehenden Dunkelheit das Gartentor hinter Heaver schloss, wusste sie, dass Wesley den Tag über nachgedacht und verstanden hatte. Sie war ihm nicht böse und das vermittelte sie auch direkt, als sie die Haustür aufschloss.

Im Erdgeschoss brannte überall Licht.
Die Lampen unter den Hängeschränken in der Küche waren allesamt eingeschaltet, die Stehlampen im Wohnzimmer warfen warmes Licht und selbst im Flur war alles hell erleuchtet.
Willow liebte genau das. Sie mochte es warm und gemütlich und hell, dass man das Wohlgefühl förmlich sehen konnte. Heaver mochte Licht ebenfalls. Aber das lag mehr daran, dass sie gerne sah, wo sich ihr Fressnapf versteckte, wenn sie mal wieder zu lebendig gegessen hatte.

Mit dem Klicken der Haustür lief Wesley sofort die Treppe hinunter.
Er hatte lange auf heißen Kohlen gesessen, war angespannt und nervös und gespannt darauf, wann Willow ihn aus dem Haus haben wollte.
Er hatte wirklich alle möglichen Wege ihrer Reaktion durchgekaspert und war zu dem Ergebnis gekommen, dass sie sehr angepisst von ihm war.
Mit einem freundlichen Lächeln, wie sie es auch gestern getragen hatte, und einem »Hi, hast du Hunger?« hatte er nicht gerechnet.

Eigentlich hatte Wesley das Gespräch sofort mit einer Entschuldigung beginnen wollen, aber diese Frage ließ ihm die Worte im Halse stecken bleiben.
Willow grinste fröhlich.
Diese Reaktion hatte sie erwartet.
Da war der Herr doch tatsächlich sprachlos. Männer waren durchaus berechenbar.
Vor allem Männer wie Wesley, die am liebsten die Probleme der anderen lösten, als sich um ihre eigenen zu kümmern.

»Ich ... Ähm ...«
Noch bevor er zu Ende stottern konnte, unterbrach Willow ihn wieder und wank mit der Hand ab.
»Weißt du was? Sag lieber nichts, denn du wirst sowieso etwas essen, wenn ich jetzt koche. Ich bestehe darauf.«
Sie grinste ihm selbstsicher entgegen und schlenderte hinüber in die Küche, um sich die Hände zu waschen und nach einem Topf zu suchen.

Wesley beobachtete sie mit geschlossenem Mund.
Er wusste nicht, was er erwidern sollte oder was genau Willow mit dieser Freundlichkeit erreichen wollte. Es gab genau zwei Optionen.
Entweder sie war tatsächlich kein bisschen gekränkt von dem, was er gesagt hatte.
Oder sie spielte eines dieser verrückten Frauenspielchen, von denen erwartet wurde, dass Männer sie kapierten und sich dann mit Blumen, Schokolade und tausenden Versprechen entschuldigten.
Wesley war verwirrt und skeptisch, Willow bei guter Laune, weil alles geklappt hatte, wie sie es sich vorgestellt hatte und Heaver war zufrieden, dass sie wenigstens jetzt am Abend ganz pünktlich ihr Essen bekam.
Während sie aß, begann Willow Paprika, Möhren und Zucchini für eine Gemüsepfanne mit Reis zu schneiden. Wesley stand wie erstarrt auf dem Treppenansatz und beobachtete sie, bis Willow mit der Zunge schnalzte und ihm ernst entgegensah.
»Ach, komm schon, Dillons, hälst du mich für so berechenbar? Sehe ich so aus, als bräuchte ich noch einen Blumenstrauß mehr in meinem Haus? Du kennst vielleicht die Frauen von deinen schicken Partys und Galen, aber eine Frau wie mich, die kannst du nicht einschätzen und es zu versuchen, ist genauso dumm, wie das Spielen mit Feuer.
Du verbrennst dich nur, also lass es lieber und beweg deinen Arsch hierher um mir zu helfen!«

Ehe er realisieren konnte, was sie sagte, hatte sie ihm eine hellgrüne Küchenschürze mit darauf gestickten Schafen über den Kopf gezogen und ihm ein Messer und eine Paprika in die Hand gedrückt.

»In schöne, kleine Würfel!«, wies Willow ihn weiter an und kehrte ihm dann den Rücken zu, um die Zucchini abzuwaschen und dann zu schälen.

Wesley starrte die Paprika unverwandt an.
Kochen?
Das war nun wirklich nicht das, was er gut konnte.
Er konnte das ein oder andere Gericht zaubern, um nicht zu verhungern, aber wirklich Freude oder Spaß hatte er an Lebensmitteln und seinem Herd nicht.
Er ließ sich lieber bekochen und machte dafür ein paar Minuten länger Büroarbeit.
Daran war auch nichts auszusetzen, denn er bezahlte schließlich vernünftig, aber hier war weder Arbeit noch eine Haushaltskraft, die diese Paprika für ihn schneiden würde. Hier war nur Willow und mit ihr wollte es sich Wesley nicht noch schlimmer verspaßen.

»Nun hör aber auf!« Willow drehte sich nach einigen Minuten der Stille amüsiert um. »Du denkst sonst bestimmt auch nicht an das, was du gesagt hast. Dir ist vollkommen egal, wie du dich heute morgen ausgedrückt hast. Das Einzige, das dir nicht egal ist, ist mein Angebot, dich hier wohnen zu lassen.«
Meine Güte, wie machte sie das immer? Dachte er etwa laut? Oder warum konnte sie auch, ohne das er ein einziges Wort sagte, mit ihm kommunizieren, als würde er mit ihr reden? Das war doch unmöglich!
»Ich versichere dir hiermit, dass du nichts zu befürchten hast. Du kannst so lange hier wohnen blieben, wie du möchtest und musst. Und ich will dir noch etwas sagen, damit du endlich beginnst, die Paprika zu schneiden und wir in naher Zukunft essen können: Wir beide, Wesley, kennen uns nicht und Menschen, von denen ich weiß, dass sie mich nicht kennen, die können mich nicht verletzen. Du kannst mich nicht verletzen, Wesley. Ich bin dir nämlich vollkommen egal und weil ich das weiß, haben deine Worte keinerlei Bedeutung für mich. Ich wollte dich nur ein wenig nachdenklich machen, das war alles, was die Zettel zu bedeuten hatten. Siehe da, es hat wunderbar geklappt.«

Willow sah einen Moment schadenfroh über ihre Schulter und begegnete einem fassungslosen Wesley, der nicht glauben konnte, was er gerade gehört hatte.

Menschen, die mich nicht kennen, können mich nicht verletzen.
Du kannst mich nicht verletzen, Wesley.

Er konnte Willow nicht verletzen. Was er auch gesagt hatte, es hatte sie nicht einen Millimeter berührt, denn sie wusste, dass sie mehr verdient hatte und mehr Wert hatte, als die Abfälligkeit, mit der Wesley heute morgen gesprochen hatte.
Willow konnte problemlos über Wesley hinwegsehen.
Sie war unbeugsam und nicht nachtragend und das strahlte sie auch aus.
Wesley war erstaunt und überrascht. Dieses Verhalten war ihm fremd, denn jeder andere Mensch hätte eine Entschuldigung von ihm erwartet.
Willow war nicht jeder andere Mensch, das wusste er jetzt.

Aus seiner Starre erlöst, aber ohne Worte, begann er die Paprika zu schneiden und dann in die heiße Pfanne mit Zwiebeln und Knoblauch zu werfen.
Wesley war kein Profi und er brauchte für die eine Paprika so lange, wie Willow für den gesamten Rest an Gemüse, aber immerhin hatten sie am Ende eine duftende Pfanne, die sogar für Heaver köstlich roch.

Die große Ziege war dem Stadtmenschen nicht ganz geheuer und er hielt stets Ausschau nach Heaver, aber er empfand, je länger er sie beobachtete, keine Angst mehr.
Während der Reis noch kochte, sah er Willow dabei zu, wie sie den Wohnzimmertisch eindeckte und mit Heaver gemeinsam auf der Couch hockte und durch das Seriensortiment auf Netflix scrollte.
Immer wieder verharrte sie länger auf einem Titel und fragte Heaver, was sie von der Inhaltsangabe hielt. Generell sprach sie mit ihrer Ziege, als seie diese ein Mensch.
Für Wesley sah das merkwürdig aus und er wollte Willow wieder für verrückt erklären, wenn nur Heaver nicht so gut auf ihre Besitzerin reagieren würde.
Immer wieder meckerte sie oder nickte auffällig, als würde sie ihr tatsächlich eine Antwort geben und das war irre, aber wirklich wahr und bewies Wesley eines ganz sicher: Willow war nicht normal, aber sie war keine verrückte Irre.
Ganz im Gegenteil.
Wie sie da auf dem Sofa saß, die losen Haarstähnen hinter das Ohr geklemmt hatte und die Fernbedienung des Fernsehers in der Hand hielt, während sie mit Heaver diskutierte und über ihr Gemeckere lachte, wirkte sie einfach nur lebensfroh und freundlich.
Sie sah einfach nur ...

»Erde an Wesley Dillons?«

Ihre Stimme riss ihn aus allen Gedanken und halb versunken, halb verträumt, schüttelte Wesley den Kopf und sah fragend in das lachende Gesicht von seiner neuen Mitbewohnerin.

»Hm?«

Was hatte sie bitte gesagt? Und wie lange beobachtete sie ihn schon?
Er hatte keinen blassen Schimmer. Aber, dass sie ihn beim Starren erwischt hatte, war ihm einen Moment lang unangenehm.

»Ich wollte nur sagen, dass Heaver und ich uns für The Witcher entschieden haben, der Reis fertig ist und du ruhig zu uns rüber kommen kannst. Ich passe auch auf, dass Heaver dich nicht auffrisst.«

Demonstrativ hielt sie Heaver für einige Sekunden die Hand vors Maul und klopfte neben sich auf die Couch.

Wesley konnte es selbst nicht glauben, aber tatsächlich kam er ihrer Aufforderung nach, holte den Reis und setzte sich dann neben Willow auf die Couch, aß etwas und überlegte, was die Frauenwelt so toll an Henry Cavill fand.
Und Wesley konnte noch etwas nicht glauben: Er konnte nicht glauben, dass ihm das tatsächlich gefiel. Er konnte nicht glauben, dass er Gefallen daran fand, neben Willow zu sitzen und sie und ihre Ziege beim Mitfiebern der Serie zu beobachten.
Er konnte nicht glauben, dass er Stunden damit verbrachte, sie einfach nur anzusehen.

Sie lachen zu sehen.
Sie weinen zu sehen.
Sie mit Heaver diskutieren zu sehen.
Sie gestikulieren zu sehen.
Sie herumlaufen zu sehen, weil sie im Laufe des Abends unbedingt noch Popcorn brauchte.
Sie essen zu sehen.

Er konnte nicht glauben, dass er stundenlang nichts Anderes tat, als seine volle Aufmerksamkeit Willow zu widmen.
Dieses Mädchen war ihm ein Rätsel.
Sie war ein großes, gewitztes, schlaues und nettes Mysterium.
Selbstbewusst, willensstark, freundlich und liebevoll und doch schien sie etwas zu verbergen.

Das war nicht alles.
Das war nicht alles von Willow Telieve.

Aber was fehlte?
Und wollte Wesley das wirklich wissen?

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