KAPITEL 41


Zu Sterben musste eine Art von Erlösung sein.
Willows Vater hatte in seiner Zeit im Gefängnis offensichtlich so viel leiden müssen, dass der Tod der beste Ausgang davon gewesen war.
Willow wusste nicht, wie anstrengend ein Drogenentzug war oder wie viel Menschlichkeit vielleicht doch noch in diesem Mann gesteckt hatte.
War er aus Reue gestorben?
Sie waren Vater und Tochter gewesen und einander immer fremd geblieben, doch hätte er ihr eine Möglichkeit gelassen, ihn kennenzulernen, hätten sie dann vielleicht eine Gemeinsamkeit gefunden?
Willow trug sein Blut in sich. Sie war sein nächstes Spiegelbild. Weshalb sollten sie sich dann nicht vielleicht einen einzigen Traum miteinander teilen?

Vorstellungen über ein Leben, das hätte sein können, wenn nur ein einziges Wort der Geschichte verändert worden wäre, hatten Willow in so mancher Nacht wach gehalten.
Sie hatten sie in der Nacht wach gehalten, als Wesley die Panne mit seinem Auto gehabt und sie beide, weit voneinander entfernt, zum selben Zeitpunkt in den Sternenhimmel geschaut hatten.
Es war unvorstellbar, wie viele verschiedene Leben ein Mensch  führen konnte, wenn er nur eine einzige Entscheidung in seinem Leben anders traf.
Ob eine Entscheidung gut oder schlecht war, war dabei vollkommen relativ. Im ersten Moment konnte sie einem wie der schlechteste Scherz aller Zeiten vorkommen. Tage später machte man sich gar keine Gedanken mehr über sie und ärgerte sich über etwas vollkommen anderes. Oder man sah die Resultate einer Entscheidung, sah, wie eine winzige Handbewegung nach rechts ein ganzes Leben verändern konnte und alles sich zum Guten wendete.

Wesley erinnerte sich genau an den Tag, an dem er auf dem Highway die Ausfahrt nach Innerforks gesehen hatte und wusste, wie wütend er im Nachhinein gewesen war, abgebogen zu sein.
Nur einen Tag später war Willow mit ihrer frechen Art noch ein viel größeres Problem als sein kaputtes Auto gewesen.
Heute sah er das Resultat seiner kleinen Reise in die Stadt am Ende der Welt und er sah die Frau, ohne die er sich sein Leben nicht mehr vorstellen konnte. Alle Reue war vergangen.
Das Leben hatte sich so gefügt, wie es sich hatte fügen sollen.
Vielleicht war der Weg nicht der eindeutigste gewesen und die Tage hatten einem Labyrinth geglichen, doch alles hatte hierher geführt.
Alles hatte hier seinen Anfang genommen und hier sein Ende bekommen. Es war vorbei.

Wesley hielt die Latte des Gartenzauns mit beiden Händen fest umklammert.
Es war Eschenholz, das sauber in der Mitte entzweit worden war.
Die Pistolenkugel hatte Willows Kopf um genau diese Zaunlänge verfehlt. Doch wenn Wesley sich eine Sekunde später erst auf sie geschmissen, Terrance erst eine Millisekunde nach Karla geschossen hätte, dann läge jetzt nicht dieses kaputte Holz in seinen Armen, dann wäre es Willow gewesen.

Wesley hatte das letzte Mal so richtig geweint, als er vierzehn Jahre alt gewesen war.
Damals hatte er mit seinem Vater auf dem Sofa gesessen und im Fernsehen die Nachrichten geschaut. Ein Reporter hatte über ein gefundenes Drogenlager und eine Siebenjährige berichtet, die von ihren Eltern jahrelang misshandelt und missbraucht worden war.
In den Medien war damals von einer Befreiung die Rede gewesen, doch Wesley kannte die Siebenjährige und er hatte heute gesehen, dass sie erst zwanzig Jahre später befreit worden war.
Ihm liefen die Tränen in Bächen die Wangen hinab.
Den Ausdruck in Willows Augen würde er seinen Lebtag nicht vergessen.
Wie sie dort im Gras gekniet und um ihr Leben gebettelt hatte und wie sie nur kurz darauf aufgestanden und direkt vor den Körper ihrer Mutter getreten war, die Fergus und Terrance in Gewahrsam genommen hatten, bis die Polizei eintraf.
»Wir sind fertig miteinander!«, hatte Willow gesagt, sich umgedreht und ihn in die Arme genommen.

Sie hatte nicht gesehen, wie die Polizei ihre Mutter abführte und ins Krankenhaus brachte, weil sie einen Schuss in Schulter und Knie bekommen hatte.
Willow hatte nicht gesehen, wie ihre Mutter sie gemustert hatte.
Das alles war ihr nicht wichtig gewesen und mit dem Kapitel rund um ihre Familie hatte sie ein für allemal abgeschlossen.
Sie war erlöst.
Die jährlichen Drohungen und Bedrohungen im Oktober hatten mit dieser Aktion ihr Ende erreicht.
Willows Fluch war gebrochen.

Wesley wischte sich die letzten Tränen aus den Augenwinkeln und sah sich dann im Garten um.
Die Polizei war vor nicht einmal zwanzig Minuten hier gewesen.
Trotzdem war der gesamte Vorfall, der wie aus dem nichts passiert worden war, schon jetzt nur noch eine blasse Erinnerung.
Er würde eine Weile brauchen, bis er das alles realisiert hatte.
Noch nie hatte er eine solche Angst um das Leben zweier Menschen haben müssen, die ihm alles in der Welt bedeuteten.
Niemals hätte er geahnt, dass sich Willows Mutter einfach so in den Garten traute.
Man schätzte die Gefahr nie größer ein, als man sie sich überhaupt vorstellen konnte und so etwas wie heute hatte Wesley noch nie erlebt.
Er machte sich Vorwürfe, dass er nicht früher aufgewacht und die gesamte Situation hatte verhindern können. Doch vielleicht – und das klang furchtbar falsch – vielleicht hatte das alles heute genauso passieren müssen.
Er wollte sich das nicht einreden, aber tatsächlich war es Willow, die diese Worte in den Mund genommen hatte.

Tief innerlich und so krank es auch zu sein schien, hatte sie diesen Moment gebraucht.
Sie hatte ihre Mutter noch einmal vor sich gebraucht, hatte sie noch einmal reden hören müssen und ihre Abscheu spüren müssen.
Jetzt, danach, ging es ihr besser damit.
Willow konnte sie nun wirklich loslassen.
Sie machte sich keine Vorwürfe mehr, ließ sich nicht mehr länger im Kopf foltern, weil sie insgeheim glaubte, das zu verdienen.
Sie war fertig.
Fertig mit allem und Wesley wusste, dass das kein Scherz war.

Willow Telieve lebte in Momenten.
Und der Moment mit ihrer Mutter war vergangen. Für absolut immer.
Sie würde keinen Gedanken mehr an diese Frau verschwenden.
Sie tat es schon jetzt nicht mehr.

Wesleys Eltern lagen sich noch immer schockiert und weinend in den Armen. Kelly war durch den Schuss aus dem Schlaf geschreckt worden und hatte das gesamte Geschehen aus dem Wohnzimmerfenster beobachten müssen. Sie hatte sich noch nie so hilflos gefühlt und war gleichzeitig so erleichtert, dass ihrem John nichts geschehen war.
Heute morgen hatte ein Engel über diesen Garten gewacht und er hatte Gnade und Recht walten lassen.

Das Ehepaar umarmte sich bestimmt schon seit zehn Minuten.
Seit die Gefahr gebannt worden war, klammerte Kelly sich an John und weinte in seine Schulter.
Er stand unter zu großem Schock, um das alles richtig wahrzunehmen.
Wesley sah wie sein Vater nach wie vor ein wenig irritiert durch die Gegend schaute, als wüsste er gar nicht, was er draußen im Garten zu suchen hatte.
Als die beiden sich endlich lösten, lächelten sie ihrem Sohn entgegen und ließen es sich nicht nehmen auch ihn in eine große Familienumarmung zu ziehen.
Wesley ließ es geschehen.
Er genoss es sogar.
Die physische Bestätigung, dass seine Eltern beide heile und so gut wie unversehrt waren, war auch das, was er brauchte.
Doch das war nicht alles. Etwas fehlte. Jemand fehlte und das fiel auch Kelly und John ziemlich schnell auf.

»Wo ist Willow?«

Die Familie löste sich und schaute sich im Garten um.
Willow war nirgendwo zu sehen.
Wesley erklomm sofort ein beunruhigendes Gefühl, doch es verschwand so schnell wie es gekommen war, als die drei aus dem Vorgarten ein leises Lachen vernahmen.

Mit schnellen Schritten umrundeten die Dillons das Haus und blieben wie angewurzelt stehen, als sie Willow vor dem Haus sitzen sahen – eine große, weiße Ziege dabei innig umarmend.
Wesley traten erneut die Tränen in die Augen.
Es war das Herzzerreißende an diesem Bild, das ihn so emotional machte.
Willow hatte ihr Gesicht tief in Heavers Fell vergraben und jeder Blinde konnte sehen, dass die Ziege sie stärkte wie kein Mensch, kein anderes Lebewesen sie jemals hätte stärken können.
Wenn es so etwas wie Seelenverwandtschaft gab, dann wusste Wesley in diesem Moment, dass Willows Seele dieser Ziege gehörte.
Für niemanden sonst auf dieser Erde ergab das einen Sinn, aber Heaver war Willows größter Lebenssinn und die beiden einfach alles füreinander.
Es gab nichts auf dieser Welt, das Willow mehr liebte, als dieses Tier.
Und es gab niemanden auf dieser Welt, den Heaver mehr liebte, als Willow.
Die beiden gehörten zusammen, wie Pech und Schwefel und Wesley wollte sich niemals zwischen sie stellen.

»Es ist beeindruckend, wie tief verbunden manche Menschen mit einem Tier sein können.
Es gibt Verbindungen auf dieser Erde, die die Wissenschaft niemals klären wird. So unerklärlich wie Leben und Tod sind, ist auch die Liebe, die diese beiden Seelen füreinander empfinden können.«

Willow bemerkte Wesley und seine Familie nur wenige Sekunden nach ihrem Eintreffen.
Ihr Herz schwoll an, als sie die Augen über die Menschen wandern ließ, die ihr warm entgegen lächelten.

Diese Leute und ihre Ziege waren Willows Sonnenschein nach einem Tag voller Regen.
Für das Wohlergehen ihrer Familie würde sie alles tun und alles geben.
Heute hatte sie alles gegeben und sie fand endlich Frieden in ihren Mühen.
Von heute an konnte sie sich zurücklehnen, denn sie wusste, dass es Menschen gab, die immer auf die aufpassen würden.
Sie konnte ihnen vertrauen.
Sie wusste es sicher, würde es nie wieder anzweifeln.
Sie konnte John vertrauen, der sein Leben für ihres gegeben hätte.
Sie konnte Kelly vertrauen, die sie wie eine Tochter behandelte, seit sie sich kannten.
Sie konnte Wesley vertrauen, der sich für sie ins Visier begeben und sie so lange gehalten hatte, bis die Polizei wieder abgezischt war.

Willow zog ein Grinsen über die Lippen, als sie daran dachte, was das Leben ab heute alles für sie bereit hielt.
Ihr Freund und dessen bester Freund waren Anwälte und Willow war von allen Seiten versichert worden, dass ihre Mutter nie wieder Tageslicht sehen würde.
Sie musste nie wieder mit der Angst leben, diesem Schattenmenschen noch einmal zu begegnen und sie brauchte im Oktober auch nie wieder ihren Briefkasten zu fürchten.
Generell ... Willow würde nie wieder alleine mit ihren Sorgen sein.

Als sie Heaver losließ, sich aufrappelte und das Gras von ihrer Kleidung klopfte, kamen Kelly und John wie von selbst auf sie zu und schlossen sie in ihre offene Umarmung, dass sie keinen Zweifel mehr zu haben brauchte.

Diese beiden Menschen liebten sie und sie erwiderte diese Liebe.
Alles was sie in ihren eigenen Eltern gesucht hatte, hatte sie in Wesleys gefunden und das reichte Willow vollkommen.
Sie war angekommen.
Hier, bei diesen Menschen, war ihr sicherer Hafen.
Hier würde sie ewig ihr Glück finden, sich immer aufgehoben fühlen.

Zuhause. Das waren immer sie gewesen.
Und Heaver.
Und der Mann, der sich in Bewegung setzte, als Willow über die Schultern seiner Eltern hinweg darum bat.
Sie streckte die Hand nach ihm aus und er nahm sie entgegen, kaum dass sie in Reichweite war.
Wesley hauchte Willow einen Kuss auf die Lippen.

»Ich liebe dich«, flüsterte er
und sie würde nie wieder daran zweifeln, dass er es auch so meinte.
Eine Träne der Freude entwich ihrem Augenwinkel.
Denn sie liebte ihn auch.

»Was ist denn hier für eine Kuschelparty? Haben wir etwas verpasst?«

Charles' Stimme durchbrach den schönen Moment, wie ein Sonnenstrahl die Wolkendecke.
Kelly, John, Willow und Wesley lösten sich voneinander und drehten sich zu den herantretenden Personen um, die das Grundstück betreten hatten.
Sofort rannte Willow auf ihre Freundin Lila zu und schmiss sich in ihre Arme.

Lilian lachte und erwiderte willows stürmische Geste, ohne zu wissen, weshalb.

»Ihr habt eine ganze Menge verpasst!«, sagte Willow. Doch es fiel ihr nicht schwer, das auszusprechen.
Es würde ihr nie wieder schwerfallen, über ihre Vergangenheit zu sprechen und sie würde sie auch nicht länger für sich behalten.

Viel zu lange hatte sie geschwiegen, Angst vor Hilfe und Angst vor ihrer eigenen Dunkelheit gehabt. Damit war Schluss.
Sie war stärker als das.
Und als sie in der nächsten Stunde, in der sie alle entspannt beim Frühstück saßen, von ihrem Morgen erzählte, bewies sie dieser Stärke all ihren Mitmenschen.

Wesley war unheimlich stolz auf sie.
Seine Freundin war die stärkste Frau, die er kannte.
Ohne Frage.

xxxx

Heaver hatte sich gelangweilt auf einen Birnbaum im Vorgarten begeben. Das knorrige Holz half hervorragend gegen ihr juckendes Fell in den letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres.
Ihre Schuldgefühle vom Vortag hatten ihr tagsüber jede Menge Energie geraubt, die sie sich jetzt zurückholen wollte. Willow hatte ihr offensichtlich verziehen, deshalb konnte sie jetzt beruhigt ein Nickerchen machen und gleichzeitig hoffen, dass ihre Message mit den zerkauten Schuhen bei Wesley angekommen war.

Willow mochte ihm verziehen haben. Aber für Heaver musste er sich etwas Besseres überlegen.

Sie ahnte nicht, dass Wesley sich diesbezüglich längst Gedanken gemacht hatte.
Er hatte nämlich fest damit gerechnet, dass Heaver ihn zwei Köpfe kleiner trampelte und im übertragenen Sinne war das auch passiert.

Seine Schuhe waren so hinüber wie sie nur sein konnten und von Spucke durchseucht, dass man sie beinahe gar nicht anfassen wollte.
Wesley erinnerte sich an seinen ersten Morgen bei Willow und der Ziegenzunge, von der er aufgeweckt worden war. Bei seinem ersten Treffen mit Heaver damals hatte er sie nicht ausstehen können.
Heute gehörte sie zum Gesamtbild dazu und nur ihre Gestalt machte seine Familie perfekt. Es war wundersam komisch, wie die Welt funktionierte und welchen Weg sie ging.

»Heaver?«

Wesley trat aus der Haustür.

»Bist du hier draußen?«

Im Haus war die Ziege nirgends zu finden gewesen. Weder in irgendwelchen Betten, noch vor dem Fernseher oder in der Küche, um sich ein wenig Zucker zu stibitzen.
Sie musste hier draußen sein.

»Da bist du!«

Wesley stellte sich unter die Baumkrone und war auf Augenhöhe mit der Ziege.
Der Birnbaum war nicht sonderlich hochbewachsen. Perfekt zum Erklimmen für Heaver. Sie musterte Wesley gelangweilt, beinahe hochnäsig.

Wesley kratzte sich am Hinterkopf. Es war immer noch befremdlich, sich mit einer Ziege zu unterhalten. Aber dieses Opfer hatte er zu bringen, um Dinge wieder in Ordnung zu bringen.

»Okay, ich weiß, dass du sauer bist. Und du hast auch allen Grund dazu, denn ich habe eine Menge Mist gebaut und mich wie ein Vollidiot verhalten. Ich hätte mich melden, Willow die Wahrheit sagen müssen. Aber die Dinge stehen jetzt so, wie sie stehen und ich kann nichts davon rückgängig machen.
Alles, was ich tun kann, ist mich zu entschuldigen und dir und ihr zu versprechen, dass ich das alles in Ordnung bringen werde. Ich werde dafür sorgen, dass die Diskussionen und Spekulationen aufhören und dass Willows Mutter endgültig ihre gerechte Strafe bekommt.
Ich rücke die Wirklichkeit wieder gerade und ich schwöre dir, dass ich Willow nie wieder enttäuschen werde.«

Heaver legte den Kopf schief.
Große Worte. Rührend.
Aber sie wollte sich davon nicht zu sehr beeindrucken lassen, obwohl seine Körpersprache durchaus Versöhnungs-Potential hatte.
Dennoch ... sie ließ ihn ein wenig zappeln.

Wesley seufzte.
»Außerdem ...«, setzte er dann an und ging ein paar Schritte zurück, in Richtung seines Autos, das in der Einfahrt geparkt stand.
Mit wenigen Handgriffen hatte er den Kofferraum geöffnet und holte einen riesigen Karton und ein Bündel Karotten daraus hervor.
Schwerfällig stellte er das Parket vor Heaver ab.
Diese zog eine Augenbraue in die Höhe.

»Du hast offensichtlich gesundes Fressen darin gefunden mir mit meinen Schuhen Denkzettel zu verpassen. Und da du weißt, wie du mir wehtun kannst, weil ich Schuhe liebe und ich weiß, wie ich dich glücklich machen kann, weil du Schuhe liebst ... habe ich mir folgendes gedacht.« Wesley öffnete den Karton vor Heavers Augen und kippte ihn im Gras aus, um seinen gesamten Schuhbestand vor ihr auszubreiten. »Das sind all meine Schuhe und ich erlaube dir hiermit, sie für mich aufzubessern. Ich habe es verdient.«

Er kapitulierte.
Heaver sah die Reue in seinem Blick. Das Leid, das Wesley selbst hatte tragen müssen. Denn die letzten Wochen waren für ihn offensichtlich ebenfalls kein Spaß gewesen.
Er wollte wirklich beheben, was er ausgehoben hatte. Er war nicht sauer, dass sie seine Schuhe zerfressen hatte. Nein, er sah darin eine gelungene Strafe für sich selbst.
Heaver dachte nach. Interessant.
Dann sprang sie in einem Satz vom Geäst und hüpfte neben Wesley ins Gras. Er trat einen Schritt zurück, ließ sie ihre Sachen machen, die Schuhe umkreisen und amüsiert meckern.

Dieser Mensch frisst mir aus der Hand.

Wes hielt die Luft an.
Seine teuren Wildlederschuhe waren Unikate aus Lissabon.
Und in den schwarzen Charles Tyrwhitt Schuhen aus Oxford hatte er seinen ersten Fall gewonnen.

Er hing an einigen Schuhpaaren mehr als an anderen. Kindisch vielleicht.
Aber es waren Erinnerungsstücke – oder dumme Statussymbole.
Wie auch immer. Für Heaver und Willow waren sie ihm nicht teuer genug.

Heaver musste zugeben, Wesley mal wieder unterschätzt zu haben.
Aber eigentlich waren Menschen bloß gut für Überraschungen zu haben.
Sie kannte sich nicht gut mit Beziehungen aus und zu hundert Prozent hatte sie auch noch nicht verstanden, was der Aufriss war und weshalb alle so einen Zirkus der Dramatik veranstalteten.
Aber anscheinend wollte Wesley sich bessern und von nun an bei Willow bleiben.
Das waren doch tolle Neuigkeiten.
Wenn Heaver an die Zeit, die er hier gelebt hatte, zurückdachte, sogar hervorragende!
Sie beschloss, einen Schritt auf ihn zuzugehen. Eigentlich hatte er es ja auch nur mit Willow verbockt, nicht direkt mit ihr.

Mit dem plötzlichen Sprung, den Heaver auf ihn zumachte, hatte Wesley am wenigsten gerechnet. Reflexartig griff er vor sich und versuchte Heavers Hufe abzufangen, ohne dabei ihren Körper zu Boden fliegen zu lassen.
Überraschend sanft landete sie in seinen Armen und schaffte es, ihn nicht mit seinen Hörnern aufzuspießen.
Wesley wich die Luft aus den Lungen. Heaver grinste schadenfroh und schielte ihn an. Er begann zu lachen.
Dieses verrückte Vieh.

»Was war das denn? Sind wir bei Dirty Dancing?«, fragte Wesley und umfasste Heavers Bauch ein wenig fester, um sie besser halten zu können. Ihre Vorderhufe ruhten auf seiner Schulter. Ihr Anblick musste urkomisch sein, doch Wesley fühlte sich nicht unbehaglich. Er mochte Heavers Geruch nach all dem Gestrüpp, das sie tagsüber durchquerte, den Hauch von Willow, der immer an ihrem Fell haftete und die natürliche Note Ziege, die sie wohl niemals verlieren würde.

»Ich hätte niemals gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber ich hab dich echt gern, Nervensäge. Ich bin froh, dass Willow dich hat und wenigstens einer von uns beiden immer gut auf sie aufpasst.«

Wesley musterte Heaver und schüttelte über sich selbst den Kopf. Was tat er hier eigentlich? Wer hätte das einmal gedacht? Dass er in Anzug und barfuß einer Ziege all seine Schuhe schenken würde, damit sie ihm verzieh.
Und jetzt trug er sie spazieren und gestand ihr seine Liebe.

Dieses Leben war wirklich ... anders verrückt. Doch komischerweise liebte er jede Facette davon.

Heaver leckte Wesley zustimmend über das Gesicht. Er verzog keine Miene, obwohl sie den Hauch von Ekel in seinen Augen funkeln sah.
Ein paar Dinge würden sich wohl nie ändern.
Sie lachte innerlich.
Wesley ebenfalls.
Und John, Kelly und Willow, die von der Haustür alles live mitbekommen hatten, ebenfalls.
Sie würden sich alle noch lange lieb haben.

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