KAPITEL 40
»Was ist, Willow, willst du mich deiner neuen Familie gar nicht vorstellen? Ich habe euch gestern gemeinsam gesehen. Dich und diesen schnöseligen Wesley und all seine Kumpanen.
Herzzerreißend, wie er sich dir geöffnet hat. Ich glaube, der arme Kerl hat wirklich sein Herz an dich verloren. Wie niedlich!«
Karla schwärmte sarkastisch. Eigentlich hatte sie Wesleys Namen in den Rasen gespuckt.
»Willow, wer ist diese Person?«
John Dillons sprach in klaren Worten. Aber eigentlich war seine Frage keine richtige Frage.
Sie war mehr eine Hoffnung darauf, dass er sich in seinem aufkommenden Verdacht irrte.
Er tat es nicht.
»Oh, wie unhöflich von mir! Ich bin Karla Zekolo, Willows Mutter. Und wer sind Sie?«, stellte sich die verwilderte Frau persönlich vor und erheuchelte John eine Freundlichkeit, die mehr wie fauler Mundgeruch bei ihm ankam.
Das war Willows Mutter?
John schüttelte sich innerlich.
Diese Frau war abscheulich. Ihr gesamter Auftritt war zu bieder und der Hass, in ihrer Körperhaltung, ihrer Stimme und ihren Augen so scharf wie eine Messerklinge.
»Mein Name ist John Dillons und ich fordere Sie auf, augenblicklich dieses Grundstück zu verlassen.
Ich werde Sie nur einmal daran erinnern, dass Sie sich Willow nicht auf diese Entfernung nähern dürfen und das hier ist ein Privatgrundstück. Verschwinden Sie oder ich rufe die Polizei!«
Es kam wie ein aufbrausender Schwall Wasser, das man in einer Leitung aufgedreht hatte und einen Moment verspätet aus dem Hahn schoss. In rasender Geschwindigkeit kochte in John eine Wut hoch, die er nie zuvor verspürt hatte.
Er kannte Willow noch nicht sonderlich lang, doch seine Worte waren keinen leeren Sinnes gewesen. Dieses Mädchen gehörte zu seinem Sohn und seiner Familie.
Und John Dillons beschützte seine Familie, das hatte er immer getan.
Willow neben ihm war wie versteinert. Seit sie in das Gesicht ihrer Mutter gesehen hatte und deren hasserfüllten, geweiteten Pupillen sie als kleines Mädchen spiegelten, das weinend und ängstlich in dem dunklen Haus stand und ihre Strafe erwartete, hatte sie nicht mehr gewagt zu atmen.
Die Drohbriefe, die Anrufe, die Klingelstreiche. Alles, was sie jährlich im Oktober wie einen Fluch verfolgt hatte, war ihr niemals über den Kopf gestiegen.
Sie hatte Angst gehabt.
Als der Stein durch ihre Terrassenscheibe geflogen war, hatte sie die ganze Nacht panisch und verängstigt auf dem Boden verbracht, sich nicht einen Millimeter gerührt und zu Gott gebetet, dass er nur durch Zufall in die Scheibe gekracht war.
Am nächsten Morgen hatte sie das Loch im Glas mit Panzerband beklebt und ihre Angst ignoriert.
Sie hatte das alles nicht ernst genommen, hatte so wie jedes Jahr den Monat voller Panik in Kauf nehmen wollen.
Sie hatte sich eingeredet, dass die Polizei ihr nicht würde helfen können und dass ein erneutes Verfahren gegen ihre Mutter nur zu ein paar Jahren Haft führen würde, ehe sie wieder entlassen wurde und der Spuk von vorne begann und dann vielleicht noch schlimmer.
Es klang verrückt, doch sie hatte sich in den letzten Jahren beinahe an die Routine gewöhnt, dass sie im Oktober einmal durch die Hölle wanderte.
Es war der Monat, in dem ihr Leben vor 20 Jahren eine drastische Wendung genommen hatte. Es war der Monat, in dem ihr Vater sein Leben beendet hatte.
Zwanzig Jahre.
Sich das vorzustellen war unglaublich. Zwanzig Jahre war ihre Kindheit her, die sie bis heute mit Traumata und Alpträumen verfolgte.
Zwanzig Jahre hatte sie ihren Vater nicht mehr gesehen oder seine Gefolgsleute, die in dem Haus, das sie ihr Zuhause genannt hatte, ein und aus gegangen waren.
Vor zwanzig Jahren war die Polizei mit Blaulicht und Sirenen vor ihrer Haustür aufgetaucht.
Mit Pistolen und Helmen – einer Eliteausrüstung – hatten sie das Trailerhaus ihrer Eltern umstellt und waren mitten in eine Orgie geplatzt. Es hätte keinen besseren Zeitpunkt für ihr Kommen geben können. Sie hatten sie alle auf einmal erwischt.
Dealer, Suchtkranke, Perverse, Menschenhändler. Das Haus war voll, ihr Vater total high gewesen und Karla hatte sich halb ausgezogen auf dem Schoß einer der Dealer gerekelt und sich von ihm befummeln lassen, damit er sich nicht auf das Pokerspiel hatte konzentrieren können.
Für Willow waren diese Tage normal gewesen. Hätte ihr damals jemand gesagt, dass es nicht normal für ein Kind war, in den Schrank geschickt zu werden, dann hätte sie diesem jemand keinen Glauben geschenkt.
Doch das alles war nicht normal.
Als sie sich an den wehleidigen Blick des Polizisten erinnerte, der sie damals gefunden und aus dem Haus getragen hatte, dann hätte sie das ahnen können.
Doch sie war noch zu jung gewesen.
Sie war so jung gewesen und sie hatte nichts an diesem Tag verstanden.
Nicht, warum ihre Mutter Handschellen angelegt bekam.
Nicht, warum ihr von allen Seiten jemand sagte, dass es nun vorbei war.
Nicht, warum sie niemand in die Nähe ihres Vaters ließ und weshalb man ihr all diese komischen Fragen stellte.
Willow erinnerte sich an den vierzehnten Oktober vor zwanzig Jahren.
Ihre Mutter und sie hatten damals genau so wie heute voreinander gestanden. Zwar war ihre Mutter damals bewegungsunfähig gewesen und ein Polizist hatte sie festgehalten, aber ansonsten war alles gleich.
Die Entfernung, die Blicke, die roten Augen, die fiese Stimme, die ihr an allem die Schuld gab.
Dabei hatte Willow geweint.
Sie hatte geweint, weil man ihr ihre Mutter entriss.
Sie hatte geweint, weil man ihr gesagt hatte, dass sie sie nie wieder sehen würde.
Für eine Siebenjährige, die von jetzt auf gleich alleine auf der Welt war, hatte das furchtbar geklungen.
Willow kannte damals doch niemanden außer ihrer Mum und ihrem Dad und Russel und den anderen.
Heute würde sie alles dafür geben, um endlich Ruhe von ihnen zu haben.
Doch diese Realisation kam ziemlich spät.
Jetzt war zu spät.
»Sie wagen es, mir Befehle zu erteilen?«, durchbrach Karlas wütende Stimme den ruhigen Morgen und ließ Willow resigniert zusammenzucken.
Sie hat sich wirklich kein Stück verändert.
Ihre Erzeugerin sprach mit John genauso, wie sie es mit dem Polizeibeamten damals getan hatte.
Sie hatte geflucht und ihn beleidigt und immer wieder Willow ihre angebliche Nichtsnutzigkeit und Schuld vor die Füße gespuckt.
»Lassen Sie mich los! Loslassen habe ich gesagt! Leo! Leo, wo bleibst du, du unnütze Göre? Hilf deiner Mutter!
Das ist alles deine Schuld, du miese Ratte!«
»Ich sage Ihnen mal was, Sie haben hier gar nichts zu melden und sollte hier auch nur irgendjemand die Polizei rufen, dann sind Sie der erste, der stirbt.«
In Sekundenschnelle hatte Karla eine Waffe gezückt und hielt ihren Lauf direkt in Johns Richtung.
Willow sah schwarze Punkte vor ihren Augen.
In ihrem Kopf kreiste alles und der Druck, der sich in ihrer Brust aufbaute, war unerträglich schmerzhaft.
Es war als würde jemand Gas in ihr Herz pumpen, dass sich aufblähte wie ein Luftballon. Aber ihr Herz bestand aus keinem elastigen Gummi. Stattdessen riss das zugeführte Gas ihr Lebenselixier mehr und mehr und immer mehr auf.
Sie hatte das Gefühl, ihr würden Arterien platzen, Nerven zerreißen und ihre Herzklappen von ihren Rippen wie Fleischstücke auf eine Gabel gespießt werden.
Die Schmerzen kamen von innen, während Karlas Beleidigungen und Drohungen von außen an Willows Ohren drangen.
Willow fühlte sich wie eine Puppe, die von ihrem Kind ins Gras geschmissen worden war, nachdem eine Stimme aus dem Haus es zum Essen gerufen hatte.
Sie war eine fehlplatzierte Marionette in den Fäden ihrer Mutter, die nach all den Jahren noch immer nicht mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben schien.
Im Gegenteil. Sie wollte noch immer Rache. Sie glaubte noch immer, ihr Leben hätte damals ewig so weitergehen können.
Dabei war das Schwachsinn. Früher oder später wären ihre Eltern so oder so aufgeflogen.
Es gab immer eine Petze in der Nachbarschaft. Und wenn nicht, dann hätten sich ihre Eltern und deren Anhänger irgendwann gegenseitig umgebracht.
Willow wusste heute mehr, als damals als Kind. Oder vielleicht doch nicht?
Jahrelang hatte sie sich beschuldigt und die Drohbriefe wie eine verdiente Strafe hingenommen.
Offensichtlich war sie nicht viel weiter mit ihrer Vergangenheit gekommen, als ihre kranke Mutter, sonst hätte sie doch längst etwas unternommen und sie wären heute nicht hier.
Vielleicht war Willow genauso naiv wie damals und sie hatte es sich bloß anders eingeredet. Aber egal, was es war, das hier war ein Konflikt zwischen ihr und ihrer Mutter.
John hatte gar nichts damit zu tun.
»Lass ihn in Ruhe, Karla! Er hat dir nichts getan. Du willst ihn nicht töten. Du willst mich töten.«
Es zu sagen, machte es real.
Willow stieg die Galle auf.
Doch sie hatte recht und sie alle wussten das.
Karla lachte hysterisch!
»Wo du recht hast, meine Liebe! Aber ist es nicht viel lustiger, wenn ich dich erst am Ende töte? Was spricht dagegen, wenn ich sein Leben als erstes auslösche?
Du liebst ihn, genauso wie du seine Frau liebst und den Sohn, den sie beide bekommen haben.
Oh, Wes, ich kann dir nicht sagen, dass ich dich hasse, denn, oh, ich liebe dich so sehr!«, ahmte Karla Willows Stimme nach und lachte danach laut los. Dann wurde ihre Stimme schlagartig wieder ernst und boshaft.
»LÄCHERLICH!«, schallte sie und schwenkte die Waffe in Willows Richtung.
»Ich bin wegen dir durch die Hölle gegangen. Meine eigene Tochter war der schandhafte Grund, weshalb ich jahrelang in dieser Zelle vergammelt bin, die mich letztendlich sogar meinen Ehemann gekostet hat. Ich habe nicht gelitten, um danach dabei zuzusehen, wie meine Flittchentochter sich einen reichen Schnösel angelt und ein schönes Leben hat, während ich in der Gosse verende. Nein, nein, meine Liebe, so einfach mache ich es dir nicht! Ich habe dich nicht jahrelang leiden lassen, um dem Sahnekuchen nicht auch noch die Kirschen aufzusetzen.
Vor zwanzig Jahren hast du mir mein Leben zur Hölle werden lassen, als ich exakt genauso alt war, wie du heute.
Und jetzt ist Zahltag. Ich werde all meine Drohungen wahrmachen, werde dir alles nehmen, was du liebst, so wie du es bei mir gemacht hast! Als letzte bist du an der Reihe, keine Sorge!«
Willow kriegte keine Luft mehr.
Sie versuchte krampfhaft an Sauerstoff zu kommen, doch die Worte ihrer Mutter waren einfach nur niederschmetternd.
Wie konnte man so unmenschlich sein? Wie so hasserfüllt?
Andere Mütter wünschten ihren Töchtern alles Glück der Welt, ihre ernährte sich von Willows Leid und all dem Schmerz der kam, wenn sie auch nur eine einzige Blume vor Willow aus der Erde reißen würde.
Eine kalte Träne fiel aus Willows Augenwinkel.
Sie hatte keinen Schimmer, was sie tun sollte.
Alle Kraft, die sie jemals empfunden hatte, war vergangen.
Alle Worte, die sie eben noch zu John gesagt hatte, vor die Wand gefahren.
Ihre Mutter leibhaftig vor sich stehen zu haben, riss alle Wunden wieder auf und das vielleicht schlimmer, als jemals zuvor.
Willow fühlte sich von Insekten angefallen und zerfressen.
Ihre Gefühle waren ekelhaft, ihre Empfindung vom Schmerz betäubt, die Sicht verschwommen.
Sie hatte Todesangst. Doch nicht um ihr eigenes Leben.
Ihr eigenes Leben war ihr vollkommen egal.
Aber Johns Leben nicht.
Kellys Leben nicht.
Heavers Leben nicht.
Charles' Leben nicht.
Lilas Leben nicht.
Wesleys Leben nicht.
»Bitte«, hauchte sie und eine weitere Träne kullerte über ihre Wangen.
»Bitte tu das nicht. Ich ... flehe dich an.«
Sie würde flehen, betteln, auf die Knie gehen, sich sogar noch einmal in den Keller sperren lassen.
Alles war sie bereit zu tun, wenn ihre Mutter bloß die Waffe von Johns Brust nehmen würde, die sie wieder anvisiert hatte.
»Du flehst, Willow Maus? Das reicht mir nicht!«, brüllte Karla und schoss plötzlich reflexartig in den Himmel. »Ich will dich komplett am Ende sehen, dich um deinen Tod betteln hören!«
Der laute Knall brachte Willows Trommelfelle zum Beben und ließ ihren Körper für einen Moment ins Schwanken geraten.
John, der eine Zeit lang zu nichts anderem fähig gewesen war, als das abartige Schauspiel zu beobachten, griff reflexartig nach Willows Hand und schob ihren Körper schützend vor sich.
Ihm war es egal, ob er heute sterben würde. Doch Willow sollte nie wieder, nie wieder in die Fäden dieser Frau gelangen. So lange er es verhindern konnte, würde John Willow vor dieser Psychopathin beschützen.
Karla war von Johns Aktion abgelenkt. Sie lachte laut, während sowohl John als auch Willow beteten, dass dieser Schuss an fremde Ohren gelangt war.
Sie beide wussten, dass sie Zeit schinden mussten, wenn sie lebend aus dieser Situation gelangen wollten. Karla war keine professionelle Auftragsmörderin.
Sie war gefährlich, aber weder leise noch unauffällig.
Willow hoffte innig, dass Fergus oder Terrance längst auf ihre Mutter aufmerksam geworden und Hilfe auf dem Weg war.
Natürlich war niemand so dumm, Karla in Bedrängnis zu schubsen.
Sie würde schießen, sobald sie sich bedroht fühlte und unter Drogen war sie unberechenbar.
Willow wusste, dass sie sich in Lebensgefahr befand, aber das war nicht so schlimm, wie die Tatsache, dass John ebenfalls um sein Leben zu bangen hatte.
Sie musste Karla von ihm ablenken.
Zittrig entriss sie sich Johns sanftem Griff.
Er zischte ihr leise zu, dass sie hinter ihm bleiben sollte, im Schutze seines Körpers. Doch Willow hörte nicht auf ihn.
Die Frau, die ihre Leben bedrohte, war ihre Mutter, ihr Dämon.
Und sie beide hofften auf Hilfe und darauf, dass sich alles zum Guten wendete, doch Karla hielt diese Waffe jetzt schon mindestens zwanzig Minuten auf sie gerichtet und Willow konnte nicht auf ein Wunder hoffen.
Vielleicht ist das jetzt das Ende.
Vielleicht ist das auch gut so.
Zitternd trat sie aus Johns Schatten, aus Johns Schutz.
Ihr Herz hatte schon längst aufgehört zu schlagen, was sollte sie also verlieren?
Karla musterte sie aus Argusaugen, als Willow sich seitlich von John distanzierte und dabei alle Aufmerksamkeit mit sich nahm.
»Du ... du willst mich am Ende sehen?«, wiederholte Willow Karlas Aussagen fragend und hielt dabei beständigen Blickkontakt zu ihrer Mutter. Karla rümpfte die Nase. Sie wusste, das Willow etwas im Schilde führte, doch die Angst ihrer Tochter zog sie wie magisch an.
»Ja!«
»Du willst mich flehen hören, dass ich nicht mehr weiterleben will und du meiner Hölle ein Ende bereitest?«, fragte Willow weiter und gab Karla weinerlich alles, was sie sich erträumt hatte, als sie doch tatsächlich vor ihrer Mutter auf die Knie sank.
Für zwei Sekunden sah Willow auf den Boden, auf das grüne Gras.
Sie musterte die Grashalme, die vom Frost der Nacht noch feucht waren und glaubte in den Tropfen des Taus eine Diashow ihres vergangenen Lebens abspielen zu sehen.
Sie sah sich als Baby, das noch nicht ahnte, welches Leben ihr bevorstand.
Sie sah sich als kleines Mädchen in den Händen dunkler Männer mit dunkler Kluft und rauen Händen.
Sie sah sich in zerrissenen Kleidern, in dreckigen Pfützen liegen, sah sich mit Platzwunden an der Schläfe und in Tränen, wenn jemand ihre selbstgebastelten Spielzeuge zerstörte.
Dann sah sie sich als Achtjährige, Neunjährige, Zehnjährige, Elfjährige, Zwölfjährige vollkommen apathisch in der Einfahrt des großen, schwarzen Waisenhauses sitzen, das von heute auf morgen ihr Zuhause hatte sein sollen, aber nie gewesen war.
Sie sah, wie sie dort ihre Hoffnung verlor, ihre Träume und ihre Vorstellungskraft von einem Leben in einem Haus mit Garten und Tieren und vielen Blumen und guten Freunden.
Doch das Heim hatte sie nicht zerbrochen.
So schnell wie der Tautropfen am Grashalm entlang kullerte, konnte sie ihre Beine fliegen sehen, als sie von dort geflohen war.
Weg von den Zwängen des dortigen Alltags, weg von allen Menschen, die ihr gesagt hatten, dass echte Wunder nur in Büchern existierten.
Doch das stimmte nicht.
Wunder geschahen, wenn man sie am wenigsten erwartete und sie passierten häufiger, als einem bewusst war.
Wunder waren, was wir nicht immer, als Wunder betrachteten. Doch selbst ein frisch aufgefüllter Kühlschrank konnte wundersam sein.
Willow erkannte auf Knien innerhalb von Millisekunden jedes ihrer widerfahrenen Wunder.
Sie erkannte Heaver, die ihrem Leben einen Sinn gegeben hatte.
Sie erkannte Mister Brünnigs, der ihr damals den Hof verkauft hatte.
Sie erkannte Misses Ross, ihre Verlegerin, die ihr einen sicheren Job vermittelt hatte und immer an sie glaubte.
Sie erkannte Lila, die ihr stets eine gute Freundin gewesen war, die Willow nicht gelöchert und jetzt sogar dafür gesorgt hatte, dass zwischen Wesley und ihr keine Missverständnisse mehr herrschten.
Sie erkannte John und Kelly, die ihr eine neue Familie geschenkt und ihr, wenn auch kurz, gezeigt hatten, was es hieß, von leibhaftigen Eltern geliebt zu werden.
Sie erkannte Charles, der ihr ein humorvoller Freund auf Augenhöhe war und natürlich erkannte Willow Wesley, der ihr als erster Mann gezeigt hatte, was echte, bedingungslose, aufrichtige Liebe bedeutete und wie viel sie davon verdiente.
Hier im Gras lagen alle Wunder Willow zu Füßen.
Eigentlich lag ihr ihr gesamtes Leben zu Füßen und als sie den Blick hob und Karla in die Augen blickte, spürte sie keine Furcht mehr.
Bis zu diesem Punkt war Willows Leben erfüllt.
Menschen hatten ihr in den letzten Jahren alle Lebensenergie zurückgegeben, die sie je auf dem Weg verloren hatte.
Karla konnte ihr nichts mehr anhaben, denn es gab keinen Flicken mehr in Willows Leben, durch dessen Loch sie an ihr Herz kommen konnte.
Willow war umringt von Freundschaft, von Güte, von Liebe und Geborgenheit.
Und wenn sie jetzt sterben würde, dann würde sie mit all diesen Dingen sterben. Dann hatte sie ein glückliches Leben geführt bis zu ihrem Ende.
Es tat plötzlich nicht mehr weh, Karla entgegen zu schauen.
Selbst die Tränen waren Willow versiegt, denn ihre Mutter triumphierte nicht länger über sie und ihr Leben.
Sie hatte keine Macht über Willow, denn ihr Hass war nicht annähernd groß genug, dafür hatte Karla zu wenig Bedeutung in Willows Leben.
Die siebenjährige Willow hätte sie hiermit zerstören können, doch die Willow von heute war längst über sie hinweg.
»Ich werde dir geben, was du willst!«, sagte Willow und ignorierte John neben sich, der sie verständnislos aufforderte, es nicht zu tun.
»Lass es uns sofort beenden, Mutter. Du hast mich die letzten zwanzig Jahre gefoltert. Tu dir selbst einen Gefallen und beende es!«, forderte Willow sie furchtlos auf.
»Nein! Willow! Hör auf mit dem Quatsch!«
Johns Gesicht war alle Farbe gewichen. Er durchschaute Willows Spiel und es brach ihm das Herz.
Sie ergab sich!
Es war eine Resignation, eine Hingabe. Doch für Willow war es kein Aufgeben und Hinnehmen.
Es war vielmehr die Erkenntnis, dass sie glücklich war, weil sie alles hatte.
Sie war zufrieden und zufrieden konnte sie von dieser Welt gehen.
Es machte ihr nichts aus, zu sterben, wenn alle anderen dadurch leben konnten.
Willow lebte in Momenten.
Und in diesem Moment war sie wunschlos glücklich und von allen Seiten erfüllt.
Es gab keinen besseren Zeitpunkt, als jetzt zu gehen. Es war okay.
Es ist okay.
Wahrhaftig echt lächelte sie John an. Es war dasselbe Lächeln, das sie ihm zugeworfen hatte, als er ihr damals in Washington im Park mit ihrem Großstadtproblem geholfen hatte.
Er hatte ihr Mut gemacht, sie aufgebaut. All diese Bestärkung gab sie ihm in diesem Moment wieder.
Willow lächelte. John weinte.
Wo blieb bloß diese verflixte Hilfe?
Wohin waren denn alle verschwunden?
Das konnte nicht wirklich passieren! Das hier konnte doch nicht so plötzlich das Ende sein!
»Willow, bitte!«
Doch sie hatte sich längst abgewandt, ihrer Mutter zugewandt, die im Rausch vollkommen benebelt von der Ergebenheit ihrer Tochter war.
All die Jahre und jetzt würde sich ihr größter Wunsch endlich erfüllen.
»Mom! Mom, ich flehe dich an! Ich bin kaputt. Bring es zu Ende. Bitte, bitte töte mich!«
Endlich.
Ein ohrenbetäubender Schuss ertönte, dann noch einer und noch einer.
Willows Körper sackte sofort in sich zusammen.
Sie sah aus, wie eine Raupe in ihrem Kokon. Eine Raupe, bevor sie ein Schmetterling wurde.
»WILLOW!«
Da waren Schreie, da waren Tränen und da war Schmerz.
Aber eigentlich lag in diesem Moment nur eines: Erlösung.
Alles fand seine Erlösung.
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