KAPITEL 39
Willow erwachte mit einem zarten Lächeln auf den Lippen.
Die Welt an diesem Morgen war nicht vollkommen und die Ereignisse der letzten Tage nicht verwaschen. Eigentlich, hatte sich keines ihrer Probleme wirklich gelöst. Aber es fühlte sich so an und vielleicht reichte das für den Moment.
Wesley schlief tief und fest neben ihr. Er hatte seine Arme um ihren Körper geschlossen und hielt sie an sich gedrückt, als habe er Angst, Willow würde in Luft aufgehen, wenn er sie nicht fest genug bei sich hielt.
Sie lächelte bei dem Gedanken.
Wesley schlief ungerührt. Seit Wochen hatte er nicht ruhig schlafen können, aber allein die wärmende Nähe zu Willow ließ ihn entspannen.
Der seichte Duft ihres Shampoos lag in der Luft und ihr Körper lag perfekt in seinen Armen, dass er nicht anders konnte, als friedlich zu schlafen.
Willow lächelte als sie ihn musterte. Gestern Abend hatte er noch dunkle Augenringe gehabt und war ein wenig steif gewesen, als habe er die letzten Tage ebenso sehr gelitten, wie sie selbst. Jetzt, Stunden später, wirkte er endlich ein wenig erholter.
Da sie wusste, dass Heaver langsam Hunger bekam und es noch ein paar Dinge zu erledigen gab, bevor auch die anderen aufstanden, rekelte sie sich umständlich aus dem Bett und versuchte Wesley ein Kissen unterzujubeln, das er umarmen konnte, um gar nicht zu merken, dass sie verschwunden war.
Als er nicht aufwachte, bis sie die Tür hinter sich auf und wieder zugemacht hatte, kicherte Willow leise in sich hinein und machte ein Foto von der schlafenden Gestalt in ihrem Bett.
Ob es richtig gewesen war, ihm so schnell zu verzeihen?
Hatte sie sich auch wirklich gut überlegt, ihrem Herzen zu vertrauen?
Arbeitete sie nicht gegen all ihre Prinzipien, die sie in den letzten Jahren erbaut hatte?
Warum wollte ihr Herz bei Wesley einfach nicht locker lassen?
Wieso glaubte es stets, er sei einer der Guten? Was bewies ihr das?
Nichts. Und dennoch waren sie beiden jetzt wieder hier und sie hatte die beste Nacht seit Tagen in seinen Armen verbracht.
Ironie oder Schicksal?
»Guten Morgen, Heavy!«, grüßte Willow ihre Ziege, die im Erdgeschoss schnarchend in ihrem Körbchen lag und alle Hufe von sich gestreckt hielt. Erst durch Willows Stimme und die Streicheleien, die sie trafen, wachte Heaver wirklich auf und musterte Willow aus verschlafenen, trüben Augen.
Sie sah besser aus.
Gesünder und fröhlicher.
Der Besuch gestern hatte ihr offensichtlich gut getan. Zumindest einer von ihnen.
Doch Heaver wollte dem Braten nicht zu früh trauen.
Sie hatte noch eine große Rechnung mit Wesley offen und sie war gespannt, was er sich ausgedacht hatte, um sich für all den Scheiß zu entschulden, den er Willow angetan hatte.
Letztere mochte gutgläubig sein und sich auf die Zukunft fokussieren.
Doch für Heaver war nichts falsch daran, es den Menschen auch ein wenig schwerer zu machen, damit sie sich zukünftig mehr Mühe gaben. Wesley sollte sich ruhig einmal die Hände schmutzig machen und sich den Konsequenzen seines Handelns bewusst werden.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte Willow und kraulte Heaver hinter den Ohren, was diese bereitwillig über sich geschehen ließ. Für einen Moment döste sie noch einmal zurück, dann erhob sie sich und beobachtete Willow, die in die Küche lief und sich aufmachte das Frühstück herzurichten.
Ein Eimer voller Heu und Äpfel landete dabei verdächtig auffällig in der geöffneten Terrassentür zum Garten.
»Lass es dir schmecken.«
Das würde Heaver mit Sicherheit.
Während sie nach draußen lief, hungrig zuschlug und sich mit der Schnauze im Eimer durch die Wohnung fraß, machte Willow sich daran, Brötchenteig zu mixen und kleine Teigkugeln frisch aufzubacken. Von Terrance und Fergus war im Wohnzimmer bereits keine Spur mehr zu sehen. Sie waren offensichtlich aufgestanden und hatten sich ihrer Lieblingsbeschäftigung als Schatten gewidmet.
Willow ließ sich nicht beirren.
Auf einem Tablett servierte sie Obst, Käse, Wurst und Marmelade und richtete den Tisch auf der Terrasse her, um ihre Gäste die letzten warmen Tage des Oktobers genießen zu lassen.
Es brauchte nicht lange und sie bekam Besuch.
John Dillons kam auf leisen Sohlen die Treppe hinunter und staunte nicht schlecht über Willows Handfertigkeiten in der Küche und Heaver, der ein wenig Heu im Ziegenbart klebte.
John war in einer Vier-Zimmer-Wohnung in Downtown Washington aufgewachsen. Er entstammte einer Arbeiterfamilie, die hin und wieder jeden Penny fünfmal umzudrehen gehabt und sich ihr Gehalt gut hatte einteilen müssen, um im Monat über die Runden zu kommen. Er hatte nie gehungert, aber auch nie im Überfluss gelebt, wie seine Frau als junges Mädchen.
In Willows Haus traf er auf eine neue und dritte Welt, von der er hin und wieder gehört und geträumt, aber sie niemals wirklich gelebt hatte.
Ein alter Bauernhof, ein Haus mit Ecken und Kanten, ein riesiger Garten und Tiere, die er nur aus dem Zoo kannte.
Natürlich war John durch seinen neuen Beruf ein ums andere Mal gereist und hatte Urlaub an den verschiedensten Stellen der Erde gemacht. Aber das hier war anders. Idyllischer und es besaß einen heimlichen Flair von dem er sich niemals hatte ausdenken können, dass er ihm so gut gefiel oder gar seinem Sohn.
Die Luft war klarer, der Raum größer und die Welt weniger erdrückend. Oder wirkte es nur so?
Wie auch immer, es entspannte John auf unnatürliche Weise.
»Du lebst im Paradies, weißt du das, Willow?«, fragte John und bedankte sich leise, als Willow ihm mit einem Lächeln auf den Lippen eine heiße Tasse Kaffee reichte. Das Mädchen war bezaubernd.
»Viel mehr Leute nennen es „das Ende der Welt". Ich schätze also, es kommt immer darauf an, mit welchem Auge man sich die Umgebung hier ansieht.«
Sie zuckte mit den Schultern.
John nickte bedächtig.
»Für dich ist es ein Ort der Ruhe, habe ich recht? Als wir uns das erste Mal auf der Bank im Park trafen, wirktest du unglücklich und gestresst in einer anderen Welt – der Stadtwelt. Ist das hier die richtige?«
Es war interessant, sich mit John Dillons zu unterhalten. Er redete niemals einfach nur über die Alltagsfloskeln.
Stattdessen griff er ein nahezu überweltliches Gesprächsthema auf. Willow gefiel die Weise, in der dieser Mann dachte. Er hatte etwas Poetisches, Philosophisches an sich. Das war selten und wundersam.
»Das habe ich immer angenommen. Ich dachte immer, dass nach all den Jahren, dieses Haus hier, diese Welt, jene ist, in der ich ankommen und mich willkommen fühlen darf. Aber die letzten Wochen haben mir gezeigt, dass auch dies ein Irrtum war. Es gibt keinen Ort der heilen Welt für mich. Kein Zuhause, das von Dunkelheit unberührt bleibt.«
»Und weshalb nicht? Was hat sich geändert?«
Willow machte eine lange Pause. John fuhr in der Stille fort: »Verzeih. Du musst natürlich nicht darüber sprechen, wenn du nicht willst. Ich will dich zu nichts drängen.«
Willow schüttelte den Kopf.
»Nein«, murmelte sie und ließ sich auf die Armlehne des Sofas sinken. »Nein, das ist es nicht. Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll. Mein Leben ist ein einziges Schlachtfeld ohne Anfang und Ende.«
»Was fällt dir spontan als erstes ein, wenn du daran denkst, etwas zu erzählen?«
Gute Frage.
»Meine Eltern«, fiel es Willow von den Lippen und sie wandte den Blick ab, als sie an ihre Erzeuger zurückdachte.
»Alles hat mit meinen Eltern zu tun. Mein gesamtes Leben, ob ich will oder nicht. Aber ich wünschte, ich könnte sie besser ausblenden, sie vergessen, denn ich will nicht mit ihnen verbunden sein. Sie verkörpern für mich all das, was ich nicht sein möchte, darum.«
Wieder entstand eine Pause.
Willow starrte an die Wand gegenüber. John unterdrückte das Gefühl von Mitleid und Verständnis. Er wollte neutraler wirken, aufgeschlossener.
»Ich will in jedem Menschen etwas Gutes sehen. Denn ich glaube daran, dass in jedem Menschen etwas Gutes steckt. Den Unterschied macht bloß die Einstellung, die Menschen zum Gutsein haben. Wir sind alle gut. Aber nur wenige von uns, wollen auch gut sein. Und die, die es nicht wollen, die versuchen alles Gute mit etwas Schlechtem zu vertuschen. Meine Eltern waren ... sind solche Menschen. Sie haben sich geliebt, aufrichtig, ehrlich, bis in alle Ewigkeit. Ich kenne die Geschichte, wie sie sich kennengelernt haben. Ich kenne jede Höhe und jede Tiefe. Und ich kenne das Ende. Zueinander waren meine Eltern immer gut. Sie hätten alles füreinander getan. Das werde ich ihnen niemals anders unterstellen. Aber für mich war in ihrer Beziehung kein Platz. Eigentlich war für nichts und niemanden sonst in ihrer Beziehung Platz. Sie hatten nur einander. Da waren keine Ziele und Träume, kein Engagement und Erfolg, nichts, was sie mehr erreichen wollten, als sich selbst. Vielleicht sind das Gründe, weshalb sie niemals aus Orofino – meiner Geburtstadt – herauskamen oder aus dem Trailer, in dem ich aufgewachsen bin.
Sie verliebten sich, als sie noch Teenager waren. Von meinen Großeltern weiß ich nichts, aber ich bin sicher, dass sie selbst nicht das einfachste Leben hatten oder die besten Eltern.
Meine Mom ist mit siebzehn von Zuhause ausgezogen. Sie hat sich mit Minijobs den Unterhalt klargemacht. Ich glaube, ihr haben immerzu die Perspektiven im Leben, vielleicht eine Chance gefehlt.
Sie lebte an der Armutsgrenze. Und Menschen, die dort landen, brauchen Hilfe, die sie von niemandem bekommen.
An dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin, kämpft jeder für sich allein. Wenn du keinen Job hast, keine Zuhause, kein Geld, dann ist das dein Pech. Niemand hilft dir auf, wenn du fällst. Das Leben dort ist frustrierend. Meine Eltern waren frustriert. Und als dann auch noch ich auf dem Weg in ihr Leben war, noch einen Magen, den es zu füllen galt, rutschten sie gänzlich ab. Sie können nicht vollkommen herzlos gewesen sein. Ich habe keine wirklich guten Erinnerungen, aber allein, dass sie mich nicht einfach abgetrieben oder weggegeben haben, bewies mir an besonders schlechten Tagen, dass ich einen Sinn auf dieser Welt habe, und dass sie mich irgendwann, wenn auch nur für eine Millisekunde, vielleicht doch gewollt haben.
Mit den Jahren habe ich an diesem Funken Sympathie für die beiden gezweifelt. Als kleines Mädchen habe ich die Treffen in ihrem Trailer mit irgendwelchen zwielichten Männern und Frauen in knappen Kleidchen nicht als falsch wahrgenommen. Wenn sie mich auf mein Zimmer schickten und mir sagten, ich hatte gefälligst keinen Mucks von mir zu geben, oder wenn ich herauszukommen und ihnen irgendwas zu bringen hatte oder mich auf den Schoß von einem der Gäste setzen sollte, dann sah ich darin keinen Fehler oder etwas zum Anzweifeln. Ich bin seit meiner Zeit als Baby von der Außenwelt abgeschottet gewesen. Ich hatte keine Freunde oder ging zur Schule. Ich blieb bei meinen Eltern zuhause. Lesen, rechnen und schreiben lernte ich durch einen Kumpel meines Vaters. Er war keinesfalls sauber oder nicht auch komplett zugedröhnt mit Rauschmitteln. Aber er war der einzige, der niemals gewalttätig war. Er hat mich als einziger niemals angefasst. Stattdessen meinte er immer, ich solle was vernünftiges machen. Aus mir müsse was werden, damit ich die anderen aus der Scheiße hole. Ich habe nie verstanden, was er mir damit sagen wollte. Ich kannte kein anderes Leben. Heute schon und heute blicke ich auf die Dinge aus einem anderen Winkel. Aber ich verabscheue nicht alles, was damals passiert ist. Ich weine nicht um alles, was mir widerfahren ist oder versuche, zu verdrängen, was man aus mir gemacht hat. Dass ich schreiben und lesen konnte ist beispielsweise ein Geschenk gewesen. Ein Geschenk, das mir jemand in dunkelster Stunde gemacht hat. Und ich würde es um keinen Preis hergeben wollen, denn ich wäre nicht zu dem Menschen geworden, der ich heute sein darf.
Meine Eltern waren Junkies und Drogendealer. Genauso wie ihre Freunde. Sie hatten nichts anderes, als dieses Leben. Und sie kamen nicht anders an Geld, als illegale Geschäfte zu machen und mich wie eine Puppe herumzureichen. Sie waren ekelhaft, aber verzweifelt. Und ich will nicht beschönigen, was sie getan haben, sie hatten andere Möglichkeiten, aber sie waren, wie gesagt, nicht durch und durch schlecht.
Sie haben mich benutzt und misshandelt. Das sind Dinge, die ich ihnen niemals verzeihen kann und die mir das Leben immer schwer machen werden. Aber schlimmer als all diese Dinge aus der Kindheit ist es eigentlich, erwachsen zu werden und zu verstehen.
Zu verstehen, was das ist, was sie da als Kind mit mir gemacht haben.
Zu verstehen, wie falsch das ist, was sie mit mir gemacht haben.
Zu verstehen, was es bedeutet, was sie da mit mir gemacht haben.
Ich habe es schnell kapiert.
Kinder aus der Nachbarschaft verhielten sich anders als ich und sahen anders aus. Lebensfroher.
Aber dem Ausmaß an Leid bin ich mir erst im Kinderheim bewusst geworden. Als ich älter war, als die Polizei durch eine Spur auf meine Eltern aufmerksam wurde und ich zu einem Systemfehler in einer anderen Stadt wurde. Ich war verstört. Ich kannte die simpelsten Dinge nicht. Ich hatte Berührungsängste und Alpträume und ich wusste nicht, was Freundschaft bedeutete.
Für andere Kinder war ich hinterwäldlerisch und für die Betreuer eins von vielen Kindern, für das sie nicht mehr oder weniger Zeit hatten. Mir konnte keiner helfen, dafür war kein Platz – so wie immer. Heute weiß ich, dass dafür auch kein Platz sein musste. Andere Menschen machen das Leben komfortabler in den meisten Fällen, aber wer sich selbst verloren hat, findet seine Seele nicht in einem anderen Menschen, sondern nur an dem Ort, an dem er sie verloren hat.«
John unterbrach Willow überrascht. Sie sah, wie sich seine Augenbrauen hoben und wartete seine Worte ab.
Zum ersten Mal war er sprachlos.
»Du ... du meinst, du ...«
Willow lächelte. Sie verstand, wie ungläubig das klang. Und sie konnte es selbst nicht fassen, welchen Mut sie sich damals selbst bewiesen hatte.
Aber im Leben trieb man sich immer wieder zu neuen Grenzen hinaus und sie hatte ihre eigenen überschritten, um wieder heilen zu können.
»Ich habe mich auf dieser Erde niemals zugehörig gefühlt. Ich hatte nie eine Familie, ich hatte nie ein Zuhause, ich bin nie geliebt worden und ich hatte eine lange Zeit auch keinen Sinn für Träume. Dabei sind diese so wichtig. Denn, wer träumt, der hat Vorstellungskraft und wer Vorstellungskraft hat, der ist auch in der Lage, sich eine Zukunft zurechtzulegen und Ziele zu formen. Ich hatte immer schon eine Menge Vorstellungskraft und viel zu viel Spaß daran, Menschen glücklich zu machen, während ich selbst am Tiefpunkt lag. Das Lächeln anderer Menschen hat mich immer über Wasser gehalten – das tut es bis heute. Aber mir war das alles nie genug. Man darf niemals an den Punkt kommen, an dem das Leben genug ist. Denn wer einmal sesshaft wird – so wie meine Eltern – der kann sich auch nicht mehr aufraffen, obwohl er zunehmend unzufrieden ist. Ich wollte mehr. Ich wollte nicht nur andere Menschen lächeln sehen, sondern auch mich selbst.
Also bin ich abgehauen, zurück nach Hause geflohen. An den Ort, an dem alles noch genauso war, wie damals. An den Ort, an dem nichts mehr so war, wie damals.
Der zerstörte Schrebergarten, um den sich nie jemand gekümmert hat.
Die Feuerstelle mit den Zigarettenstummeln in der Asche.
Die Tür, die nur noch an zwei Schrauben befestigt war.
Der grüne Teppich, der von Pulverresten in all den Jahren zu einem ausgebleichten Flaschengrün gewechselt war.
Das ausgefranste Sofa, dessen Rücken sie aufgeschnitten hatten, um darin Ware zu lagern.
Die heruntergekommene blaue Tapete mit den ironisch niedlichen Veilchen, die mir als Kind den Tag versüßt haben, weil sie mich an Schmetterlinge erinnerten und die so etwas wie einen Neuanfang verkörperten.
Es stand alles so, wie gehabt. Zerbeulte Stühle mit spitzen Kerben, der Pokertisch, auf dem sie um unser Abendessen gezockt haben, die kleine Kammer, in die ich mich verziehen sollte und in der es nichts außer dem Ohrensessel gab, der mir mit einem Hocker als Bett diente.
Alles so wie immer.
Alles anders.
Alles bereit für ein Ende.«
Willows Stimme zitterte.
Sie hatte noch niemanden erzählt, dass sie jemals an den Ort der Hölle zurückgegangen war.
Lila würde sie dafür für verrückt erklären, Wesley hätte sie niemals gehen lassen. Doch für sie – als Siebzehnjährige – war es damals der erste Schritt in ein neues Leben gewesen.
Zuvor war sie eine Raupe gewesen, danach der Schmetterling. Denn alles hatte sich bei ihrem letzten Besuch im Trailer bewusst gemacht, dass sie nie wieder dorthin zurückwollte. Dass nichts je schlimmer gewesen war, als die Zeit und die Menschen dort. Es konnte nur besser werden. Es sollte besser werden und es würde besser werden.
Sie hatte abschließen können.
Sie hatte Dinge klar machen können.
Und sie hatte sich zudem verzeihen können.
All die Jahre nach den Prozessen und Urteilen über ihre Eltern und ihre Clique hatte sie die Stimme ihrer Mutter und ihres Vaters gehört, die sie beschimpften und beleidigten und für ihre Festnahme und Verhaftung verantwortlich machten.
Sie hatte geglaubt, dass Leben zweier Menschen ruiniert zu haben. Obwohl sie dazu kein Recht besaß, obwohl sie sich gar nicht mehr an jedes Detail erinnerte.
Sie hatte sich schuldig gefühlt, weil Menschen wegen ihr ins Gefängnis gekommen waren.
Später war ihr endlich bewusst geworden, dass sie sich keinen Vorwurf zu machen hatte.
Ihre Eltern hatten sich bewusst dazu entschieden, illegale Geschäfte zu führen und es gab nun einmal keine Entschuldigung dafür, dass sie das Leben ihrer Tochter mehrmals durch den Dreck gezogen, in Gefahr gebracht und ausgenutzt hatten.
Ihre Strafe war gerecht gewesen. Und so viel Mitleid Willow auch für Menschen empfand, so viel Mitgefühl sie auch hatte, sie war nicht schuld am Schicksal ihrer Eltern und sie brauchte sich keinen Vorwurf zu machen.
Die Dinge standen richtig so, wie sie standen.
»Wow. Glaube mir, dass ich das hier nicht häufig sage und im Verhältnis zum Gewicht dieses Gesprächs, sind meine Worte vollkommen unzulänglich, aber ... du bist ein sehr mutiger und bewundernswerter Mensch, Willow. Von der Stärke, die du bewiesen hast, könnten eine Menge Menschen sich eine Scheibe abschneiden. Ich wünschte, es gäbe mehr Menschen, die so denken, wie du es tust.«
John legte Willow eine Hand auf die Schulter und nahm ihr damit einen Ballast ab, den sie seit Ewigkeiten unbewusst mit sich getragen hatte.
Sein Trost war etwas, das sie niemals gewusst, aber doch gebraucht hatte. Sie dankte ihm im Stillen.
»Nein. Es sollte noch viel mutigere und stärkere Menschen geben, als mich. Ich bin nicht halb so stark, wie du vielleicht denkst. Anderenfalls hätte ich es vielleicht schon seit Jahren über mich gebracht und meine Mutter für ihre Tyrannei zur Rechenschaft gezogen. Seit sie aus dem Gefängnis entlassen wurde, hat sie es jedes Jahr mit mehreren Briefen und Besuchen vor meiner Haustür geschafft, mich wieder und wieder in die Enge zu treiben.
Aber ich habe das alles stumm über mir ergehen lassen. Als sei ich wieder das kleine Mädchen, das sie wie eine Puppe herumschubsen kann. Sie hat mir gedroht, Dinge demoliert und kleine Botschaften hinterlassen. Schau dir nur meine Terrassentür an. In jeglicher Art und Weise hat sie mich spüren lassen, dass ich bereuen werde, was ich ihr angetan habe. Gefängnis, der Selbstmord meines Vaters. Sie hasst mich heute mehr als damals. Aber sie hat mich noch nie angegriffen, wie immer in ihren Briefen prophezeit. Und, naiv wie ich bin, habe ich fast geglaubt, ich könne mit den leeren Drohungen leben. Aber das ist ein Irrtum. Denn ich weiß nicht, ob die Drohungen wirklich leer sind oder ob sie morgen nicht vielleicht doch in meinem Wohnzimmer steht und mich umbringen will. Sie ist unberechenbarer und feindseliger, als ich es mir ausmalen kann. Und in ständiger Angst kann ich einfach nicht mehr weiterleben. Jahrelang dachte ich, wenn ich mich verstecke, dann findet sie mich irgendwann nicht mehr. Aber jetzt lebe ich am Ende der Welt und sie schreibt mir immer wieder ihre Briefe.
Vor drei Wochen habe ich mir klargemacht, dass das ein Ende haben muss. Und jetzt sitze ich hier, mit Angst vor dem, was mich erwarten wird, wenn ich sie wieder verpetzte. Ich habe Angst vor dem Ballast, Angst vor den Fragen, Angst vor den Schuldzuweisungen und Angst vor dem Alleinsein.«
Für einen Moment herrschte Stille.
Dann ertönte plötzlich ein lautes Klatschen hinter ihnen und ließ John verwirrt herumfahren.
Willows zuckte erschrocken zusammen, als sich zu dem Klatschen plötzlich ein Lachen gesellte.
Ein raues, finsteres Lachen.
Ein Lachen, das sie seit Jahren nicht mehr gehörte hatte, aber das noch immer denselben krankhaften Schauer Angst über ihren Rücken kriechen ließ.
Es war ein Alptraum, wie schnell sich die Situation wandelte.
Aus der Idylle des neuen Morgens entwickelte sich in Sekundenschnelle der pure Horror.
»Das hast du aber schön gesagt, Willow Maus!«
Die Stimme kam einem hysterischen Quietschen ähnlich.
Sie war boshaft, ekelhaft, abscheulich und sie traf Willow mitten in die Brust.
»Obwohl es mich enttäuscht zu hören, dass du nach all den Jahren immer noch Angst vor mir hast. So viel Angst, dass du dich nicht einmal traust, mich anzusehen.«
Sie spuckte ihre letzten Worte.
Sie wagte es tatsächlich, Willow noch einen Vorwurf zu machen.
Doch das war immer ihre Art gewesen. Das war der Umgang mit dem Willow aufgewachsen war.
Sie war immer der Fehler gewesen.
»Entschuldigung, aber wer–?«, setzte John Dillons verwirrt an, der die Welt und ihren Ernst nicht verstand.
Die unheilvolle Situation, in die er hineingeraten war, konnte er sich in seinem friedvollen Kopf nicht einmal ausrechnen. Wie auch? Es war surreal. Surreal sich vorzustellen, dass eine Mutter so zu ihrer Tochter sprach. So hasserfüllt, so nieder.
Doch alles, was John nicht schnell genug begriff, realisierte Willow in wenigen Sekunden.
Sie wusste, dass ihre Mutter nicht morgen, übermorgen oder vielleicht nie in ihrem Wohnzimmer stehen und versuchen würde, sie umzubringen.
Willow wusste, dass das alles heute geschehen würde. Genau jetzt.
Aber sie wusste auch, dass das ihr Ende sein sollte und nicht das von irgendjemandem sonst.
John war in Gefahr.
Sie konnte nur hoffen, dass Wesley und Kelly noch fest genug schliefen, um nicht ebenfalls ins Visier ihrer kranken Peinigerin zu geraten.
Und wo war Heaver?
Willow hoffte, dass ihre Ziege auf einer ihrer ausgiebigen Entdeckertouren war und sich nicht hier blicken lassen würde.
Es war irreal, als Willow es wagte, sich umzudrehen.
Ihr Herz raste, ihr Körper war von kalten Schweiß bedeckt und in ihrem Kopf pochte die Angst mit einem Vorschlaghammer gegen ihren Schädel.
Das hier war der Alptraum.
Aber es war der letzte.
»Willow, was–?«
Die Brünette wagte es nicht den Blick von der Frau ihr gegenüber zu nehmen.
In zerrissenen, verschmutzten Jeans und einer schludrigen Jeansjacke stand sie vor ihr.
Ihre braunen Haare sahen wie ein vom Baum heruntergefallenes Vogelnest aus und sie stand ein wenig nach vorne gebeugt.
Sie sah krank aus. Sie sah irre aus.
Ihre Augen waren rot unterlaufen, ihre Wangen eingefallen und faltig.
Karla sah um hundert Jahre gealtert aus und ihre Tochter wusste, dass sie wieder angefangen hatte, Drogen zu nehmen.
Willow wollte sagen, dass die Person vor ihr nicht sie selbst war.
Sie wollte sagen, dass ihre Mutter dem Rausch verfallen war und nicht wusste, was sie tat.
Aber die Frau vor ihr, war genau die Person, die sie war.
Willow kannte sie nicht anders, als in diesem Zustand.
Traurig, aber wahr.
Karla Zekolo war kein Schatten ihrer Selbst.
Sie war das, wovor Willow am meisten Furcht empfand.
Sie war ein waschechter Schattenmensch.
Sie war alles, was Willow niemals sein wollte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top