KAPITEL 38
»Willow! Da bist du ja! Endlich! Ich hab mir solche Sorgen gemacht!«
Stürmisch rannte Lila nach Einbiegen in die Auffahrt auf Willow zu und warf diese beinahe über den Haufen, als sie sie in die Arme schloss.
Angespannt, aber sich von der kurzen Überraschung entspannend, erwiderte Willow die liebende Geste und drückte ihre Freundin.
Was würde sie bloß auf dieser Erde tun, ohne die Freundschaft zu dieser tollen Frau?
Hinter Lila trat auch der restliche Washingtoner Besuch aus dem Dunkel und versammelte sich vor der Haustür.
Beinahe kamen Willow Tränen in die Augen, als sie die Bodyguards, die sie auf dem Ball angesprochen hatte, wiedererkannte, ebenso wie Wesleys Eltern, Charlie und sogar eine Frau, die verdächtig nach seiner Mutter aussah. Alle hatten sie ernste, erleichterte, aber durch und durch liebevolle Blicke aufgesetzt und begegneten ihr herzlich.
»Willow, Schatz. Wieso bist du denn nicht an dein Telefon gegangen? Ich hatte beinahe einen Herzinfarkt! Obwohl nein ... ich hatte einen Herzinfarkt, als ich von den Dummheiten meines Sohnes erfuhr. Es tut mir ja so leid, was alles passiert ist, Herzchen. Ich verspreche dir, dass ich diesbezüglich noch einmal seine Ohren langziehen werde. Aber jetzt lass dich erstmal drücken, sonst werde ich wahnsinnig.«
Mal wieder im Überfluss redend, trat Kelly Dillons näher und zog Willow in ihre Arme. Beinahe sofort schloss Willow die Augen und erlaubte sich, für einen kleinen Moment loszulassen, wie damals auf dem Ball. Mütterliche Umarmungen waren ... anders, tiefer, geborgener, prägnanter.
Sie waren genau das, was Willow gebraucht hatte, was sie sich immer ersehnt hatte. An diesem Abend kam es sogar so weit, dass auch John sich löste und kurzerhand seine Arme um die beiden Frauen schlang. Wärmend legte er einen Arm um die Taille seiner Partnerin und den anderen auf Willows Rücken, der vor Rührung zu zittern anfing.
»Danke«, hauchte Willow leise, als sie für eine Weile so stehen blieben und sich gegenseitig halfen, die Realität zu verarbeiten.
Kelly schüttelte mit dem Kopf.
»Bedank dich nie wieder bei uns, Kindchen. Du gehörst zu unserer Familie, egal, was aus dir und unserem Sohn wird. Was dir geschehen ist, wird sich niemals wiederholen und wie oft auch immer wir diese Worte wiederholen müssen: Du bist wertvoll und ein wunderbarer Mensch. Zweifle niemals an dir selbst.«
Kelly sprach so aufrichtig und ernst, dass man ihr glauben musste. John lächelte. Leise sagte er: »Ich habe diesen Worten nichts mehr hinzuzufügen. Willkommen in der Familie, Willow.«
Diese Worte brachten das Fass zum Überlaufen.
Verloren quollen Willow die Tränen aus den Augen. So sehr rührte es sie, so sehr freute es sie, so sehr ergriff es sie, dass sie eine Familie gewonnen hatte.
Die letzten Jahre ihres Lebens war sie von konstanter Einsamkeit geprägt worden. Jetzt lag sie in den Armen zweier Menschen, die sie noch gar nicht lange kannte, aber die ihr versprachen, immer für sie da zu sein und sie zu unterstützen.
Es fühlte sich wie der beste Traum aller Zeiten an.
»Ich will ja echt nicht stören und diesen Moment ruinieren. Ausnahmsweise dürft ihr mich für meinen Kommentar schelten, aber mir friert hier so langsam der Arsch weg, also könnten wir die ganze Harmonie eventuell nach drinnen verfrachten?«
Natürlich war es Charlie, der den Moment zerstören und gleichzeitig die Stimmung heben musste.
Und es war Lila, die ihm einen saftigen Tritt auf den Fuß gab.
Aber danach brachen sie alle in Gelächter aus und auch Willow konnte sich nicht mehr halten. Grinsend löste sie sich aus der schützenden Umarmung, warf Kelly und John einen letzten dankbaren Blick zu und wandte sich dann an alle, die geduldig gewartet hatten.
»Danke, Charles, für deine freie Kunst immer dann auf dich aufmerksam zu machen, wenn niemand darum gebeten hat«, erwiderte Willow frech. Gleichzeitig streckten sie einander die Zungen aus.
»Ich hab dich auch lieb, komisches Mädchen mit der Ziege!«
Willow warf ihm einen Luftkuss zu.
Dann fuhr sie ernsthafter fort: »Natürlich könnt ihr alle mit hereinkommen. Ich möchte mich unbedingt bedanken, dass ihr euch so gesorgt und sogar hierher gekommen seid, obwohl es mir den Umständen entsprechend recht gut geht.«
Okay, das war eventuell gelogen. Aber alle behielten diesen Kommentar für sich.
»Lasst mich euch auf eine Tasse Tee oder Kaffee einladen«, bat Willow und öffnete die Haustür.
Glücklicherweise war dank Lila das Haus auch während Willows Tiefphasen heile und sauber geblieben.
Kelly und John gingen als erste an ihr vorbei und betraten das Haus mit den verputzen Bruchstein und Holzwänden, das Willow in den verschiedensten Farben eingerichtet und gemütlich gemacht hatte. Kelly verliebte sich sofort und geisterte in der Stube herum, John ihr diskreter hinterher.
Lila und Charlie folgten den beiden und fürsorglich wie Willows Freundin einmal war, kümmerte sie sich als erstes um Heaver, die vom plötzlichen Besuch ganz überrascht war.
Wie befohlen hatte sie den Tag über im Körbchen ihre Standpauke abgesessen. Jetzt kam Leben in das Haus und Terrance, der nach Fergus das Haus betrat, weckte sofort ihr Interesse. Oder ... vielmehr die Lackschuhe, die der Bodyguard trug.
Die fremde Frau in einem geblümten Sommerkleid stellte sich Willow als Sonja Anderson und Mutter von Charles vor. Sie war eine hübsche Frau mit demselben Haar wie das ihres Sohnes und einem lebensfrohen Blick.
Willow freute sich, sie kennenzulernen und Sonja freute sich über das Temperament und den Humor in Willow. Wesley hatte eine hervorragende Wahl getroffen, als er sich verliebt hatte. Dieses Mädchen war ein Goldstück, ebenso wie ihre Freundin Lila, die Sonja am Nachmittag hatte kennenlernen dürfen und von der Charles so angetan schien, dass Sonja bereits ahnte, dass ihr Sohn ihr etwas verschwiegen hatte.
So, wie er Lila ansah, sah er niemanden an.
Als letzte blieben nur noch Wesley und Willow in der Tür stehen.
Wes sah Willow lange in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick, wartete auf die ihr noch unbeantwortete Frage. Doch er sagte nichts. Lächelte bloß sanft. Wagte es, ihr eine Strähne aus dem Haar zu streichen.
Es war lange still. Irgendwann raunte er: »Ich habe nur eine Chance, dir deine Fragen auf die beste Weise zu beantworten. Aber alles, was ich sage, will ich auch beweisen. Und das braucht noch mindestens einen Tag.«
Er trat näher an sie heran. Zwang sie, ihren Kopf zu heben, um ihm weiter in die Augen zu schauen.
Ihre Oberkörper berührten sich. Willows Herz stolperte. Wesley wirkte unfehlbar und selbstbewusst. Er strahlte einen Triumph aus, der Willow überrumpelte.
»Aber eines kann ich dir versprechen, Schäfchen. Du wirst mich nicht mehr los. Nicht mehr in hundert Jahren.«
Er küsste sie so schnell auf die Stirn, dass sie glaubte, es sich bloß eingebildet zu haben. Doch er hatte sie geküsst und er war sich sicher gewesen. Er würde sie nicht mehr alleine lassen.
Einen Moment wie erstarrt, blickte Willow ins Leere und lauschte ihrem Herzen.
Dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf und folgte den anderen ins Haus. Der Anblick, der sich ihr bot, war ein Moment für die Ewigkeit.
Da saßen die Herrschaften der Washingtoner High Society in teuren Anzügen und Kleidern und in Begleitung ihres Sicherheitspersonals auf der kleinen Stoffcouch im kleinen Wohnzimmer eines kleinen Hauses in einem noch kleineren Städtchen und unterhielten sich, als hätten sie nie zuvor etwas anderes getan, als aus kunterbunten Tassen mit den irrsinnigsten Sprüchen ihren Tee zu trinken und sich dabei über Gott und die Welt zu unterhalten.
Es wirkte, als hätte jemand Regen und Sonne vertauscht. So wenig passte es zusammen, dass der große zwei Meter Kerl, wie Terrance es war, auf einem kleinen Sitzhocker mit gelben Sonnenblumen Platz genommen hatte.
So wenig passte es, dass eine Frau wie Kelly Dillons Willow den gesamten Abend über um ihre Topfpflanzen beneidete und sie darauf drängte, ihr morgen bei der Gartenarbeit helfen zu dürfen.
Es war absurd, dass sich eine so mächtige Frau wie Sonja Anderson als die netteste Person aller Zeiten entpuppte und Willow so viel Sympathie überbrachte, obwohl sie sie keineswegs kannte.
Und am aller wenigsten passte es wohl, dass jemand wie Wesley Dillons sich Hals über Kopf in eine Frau wie Willow Telieve verliebt hatte.
Aber genau so war es ... und der Schein trog wohl häufiger, als man annehmen wollte.
xxxx
Die Gespräche gingen bis tief in die Nacht hinein. Sie schwankten zwischen seichter Comedy von Charles und drängender Neugierde von Sonja und Kelly. Es war lustig und angenehm, leicht. Alle verstanden sich gut miteinander, planten sogar noch eine Weile länger zu bleiben und genossen die Idylle, die es wohl nur auf dem Land geben konnte.
Willow hatte es sich entspannt neben Heaver auf dem Teppich gemütlich gemacht. Sie beobachtete das Geschehen in ihrem Wohnzimmer die meiste Zeit über, aber es störte sie nicht im Geringsten, weniger am Gespräch teilzuhaben.
Sie war zufrieden. Entspannter.
Nach alle den Tagen der Angst und Verstörtheit konnte sie heute endlich wieder ein wenig aufatmen.
Die Übelkeit war weg, die Tränen ebenfalls.
Es war, als hätte die Anwesenheit aller Beteiligten ihren Beitrag geleistet, um ihr Komfort zu schaffen. Welch ein Privileg.
Bis nach halb zwei in der Nacht redeten und tratschten alle miteinander.
Zwischendurch ließ Kelly es sich nicht nehmen, noch einmal gebührend auf Willows Buchveröffentlichung anzustoßen. Wesley zeigte Charles stolz den Gartenzaun, den er repariert hatte, und Fergus gab unter ein wenig Protest bekannt, dass seine Frau und er es endlich geschafft hatten, ein Kind zu zeugen. Man hielt sich die Ohren zu, als Lila vollkommen begeistert zu kreischen anfing.
Es war ... als hätte es nie etwas anderes gegeben. Als wäre niemand dem anderen fremd. Als würde von Anfang an alles perfekt zueinander passen. Derartige Harmonie hatte Willow nie erlebt. Aber es gab sie. Sie war real.
Mitten in der Nacht noch zurück nach Hause zu fahren, erschien am Ende des Abends niemandem sinnvoll.
Kurzerhand räumte Willow alles dafür ein, das Gästezimmer frisch zu beziehen und die Couch im Wohnzimmer auszuklappen.
Fergus und Terrance beteuerten, dass das Wohnzimmer für sie vollkommen in Ordnung sei. John und Kelly übernahmen das freie Doppelbett im Obergeschoss und Lila bot Charles und Sonja ihr Schlafsofa an, welchem Charles sofort zustimmte, als hätte er nur auf die Idee gewartet.
Willow schmunzelte, als sie die drei in die Nacht entließ.
Irgendetwas knisterte zwischen ihrer besten Freundin und dem Anwalt.
Die beiden hatten offensichtlich Gefallen aneinander. Aber irgendetwas fehlte auch in ihrer Geschichte. Lila und Charles wirkten so ... umgänglich. Als wären sie perfekt aufeinander abgestimmt und das schon seit Ewigkeiten. Aber gleichzeitig herrschte eine raue Distanz zwischen ihnen.
Sie waren ein einziger Widerspruch in sich. Aber Willow würde die Dunkelheit schon noch lichten. Das versprach sie sich.
Als sie die Haustür schloss und sich umdrehte, stand abermals Wesley vor ihr.
Diesmal jedoch hielt er einen diskreten Abstand und hatte ein Zögern im Gesicht.
»Soll ich auf dem Sessel im Büro schlafen? Ich kann verstehen, wenn du noch nicht bereit bist, wieder ... also ...«, druckste er herum und schob seine Hände in die Taschen seiner Anzughose.
»Ich will dich zu nicht drängen. Niemals. Und ...«
Willow huschte ein Lächeln über die Lippen. Dieser Mann war wirklich einfach nur ... wunderbar.
Zumindest meistens.
»Ich will nicht alleine sein, Wesley. Ohne dich wäre mein Bett ziemlich einsam.«
Überrascht hob er den Blick.
»Echt jetzt? Ich soll ... Du willst?«
Willow lachte. Dann schnappte sie sich seinen Arm und zog ihn die Treppe rauf.
»Ich will dich immer, Wesley Dillons. Es sei denn du verhältst dich wie ein Arsch«, stellte Willow klar und wackelte mit den Augenbrauen.
Die Doppeldeutigkeit ihrer Worte entlockte Wesley ein raues Lachen.
Im Schlafzimmer angekommen, packte er Willow und drückte sie an die geschlossene Tür, ehe er sich über sie lehnte und ihre Lippen eroberte.
»Du bist das Beste, was mir im Leben hätte passieren können, Willow Telieve. Weißt du das eigentlich? Wie sehr ich dich brauche? Gott ... so sehr.«
Es war beinahe frustrierend wie sehr.
Aber Willow ging es ganz genauso.
»Und weißt du eigentlich, wie sehr ich es vermisst habe, dass du mich in den Arm nimmst?«, seufzte Willow und lehnte sich an Wesleys Brust. Beinahe sofort schlang er seine Arme um ihren Körper und zog sie an sich.
Erleichtert und glücklich atmete sie auf. Hier gehörte sie hin.
»Trägst du mein T-Shirt?«, fragte Wesley nach einer Weile, in der sie einander hielten und die Nähe genossen.
Willow grinste.
»Du meinst mein Shirt? Ja, das trage ich.«
Wesley begann leise zu lachen.
»Ich bin mir ganz sicher, dass ich es als Erster von uns beiden besaß. Ich habe es ... in Mailand in einer Herrenboutique gekauft. Den Preis behalte ich lieber für mich.«
»Du musst etwas verwechseln. Das hier ist mein Schlafshirt und ich habe es schon vor Ewigkeiten einem ziemlich aufgeblasenen Typen geklaut ... Oh!«, stieß Willow frech hervor und lachte laut auf, als Wesley sie in die Mangel nahm und zu kitzeln begann.
Kichernd schüttelte Willow sich aus seinem Griff und versuchte ihm zu entkommen, doch Wesley ließ sich nicht beirren.
»Das mit dem aufgeblasenen Typen solltest du ersetzen oder zurücknehmen, ansonsten kann ich für nichts garantieren«, drohte er amüsiert und zeigte keine Gnade in der Kitzelattacke.
Willow lachte sich die Seele aus dem Leib, bis ihr die Tränen kamen.
»Niemals!«, keuchte sie, »Ich werde nicht lügen! Und das Shirt bekommst du auch nicht wieder! Ergib dich deinem Schicksal!« Sie schaffte es, Wesley die Zunge rauszustrecken, während seine Finger über ihre Taille kitzelten.
Wesley lächelte.
Einmal mehr verliebte er sich in die Frau vor sich.
Und die Gefühle, die er für sie hatte? Er war sich selten so sicher gewesen, dass sie sich niemals ändern würden.
Von der einen auf die andere Sekunde hatte er Willows Hüfte mit seinen Händen umschlossen und verfrachtete ihren kleinen Körper auf die Matratze, ehe er sich in Rekordschnelle neben sie fallenließ und die Decke über sie beide stülpte.
»Fein. Für heute lasse ich dir die Frechheit durchgehen. Weil ich eine Menge bei dir gut zu machen habe, ich dich liebe und dir das Shirt zudem tausendmal besser steht, als mir. Aber glaube ja nicht, es würde bis in alle Ewigkeit so laufen.«
Obwohl es das sicherlich würde. Aber das musste Willow ja nicht wissen.
»Danke, für dein Erbarmen«, grinste Willow und drehte sich zu Wesley, so dass ihre Gesichter sich nur noch wenige Zentimeter voneinander getrennt hielten.
»So bin ich eben. Gütig und gediegen«, gab sich Wesley zum Besten.
»Du bist arrogant«, entgegnete Willow und quietschte, als er ihr in die Seite kniff.
Wesley schmunzelte.
»Ich nenne es selbstbewusst sein.«
»Ich nenne es abgehoben sein«, erwiderte sie schlagfertig.
»Mutig.«
»Blasiert.«
»Stolz.«
»Hochmütig.«
»Stark.«
»Großspurig, selbstherrlich. Außerdem insolent, vermessen und ...«
Er unterbrach sie, indem er seine Arme um sie schlang, ihren Körper unter der Decke an sich zog und ihre Lippen mit einem Kuss zum Schweigen brachte.
»Okay, du hast gewonnen, Schäfchen. Halt die Klappe«, flüsterte Wesley zwischen ihren Küssen, die Willow beinahe sofort und mit derselben Leidenschaft erwiderte.
Sie hatten sich beide vermisst und nun hatten sie sich beide wieder.
Es galt keine Zeit zu verlieren.
Zeit, wofür auch immer.
»Ich bin der arrogante, selbstverliebte und reiche Anwalt aus der Großstadt und du das hübsche, kluge und nette Bauernmädchen mit Ziege und Hof. Wir sind Kontraste. Himmel und Erde, Feuer und Wasser.
Aber Gegensätze ziehen sich an und so lange wir uns gut fühlen, kann auch das größte Klischee uns nicht mehr trennen. Es zählen nur du und ich. Nicht das, was wir sind.«
Willow schloss die Augen.
Das hatte er schön gesagt.
Und es stimmte.
Es zählten nur sie und so lange sie glücklich waren, war der Rest der Welt, jede Kleinigkeit, irrelevant.
Hauptsache sie fühlten sich wohl.
Hauptsache es ging ihnen gut.
Hauptsache sie hatten einander.
Und das hatten sie.
xxxx
Nur ein paar Straßen weiter schloss Lila gerade die Holztür zu ihrer Wohnung auf.
Sie hatte sich über die Jahre hinweg die Wohnung eines Verstorbenen Jazzmusikers direkt über dem Café ausgebaut und nach ihren Vorstellungen eingerichtet.
Was damals ein recht unbelichtetes, eher dunkles und verhangenes Plätzchen gewesen war, hatte heute bodentiefen Fenster, Wandfarben von Apricot bis hin zu einem hellen Türkis und Mobiliar mit den buntesten Polsterungen, Holztypen und Mustern.
Eine Wendeltreppe führte vom Erdgeschoss hinauf in den ersten Stock direkt über dem Servicebereich des Cafés.
Durch die Tür gelangte man in einen schmalen Flur mit einer kleinen Nische für Jacken und Schuhe.
Direkt rechts und links der Haustür befanden sich Lilas Schlafzimmer, in einem hellen Violett und weißen Möbeln mit Blumenmusterungen, sowie das Badezimmer, welches mit mattgrünen und dunkelblauen Fliesen belegt war und wegen vielerlei Duftkerzen mehr einer Parfümerie glich.
Geradeaus kam man in den offenen Wohnbereich, dessen Front verglast ganz Innerforks durch die Scheiben hereinließ.
Auf ihre Küche im linken Abschnitt war Lila besonders stolz. Die minzfarbene Bauernküche mit originalen Messingtöpfen und Pfannen hatte sie von ihrer Großmutter geerbt und hielt sie in größten Ehren.
Allgemein war sie vernarrt in Essen und Lebensmittel. Seit sie ein kleines Mädchen war liebte sie es zu kochen, zu backen und sich an neuen Rezepten zu versuchen. Lila legte viel Wert auf gutes, gesundes und nachhaltiges, aber auch sündhaftes, süßes Wohlfühlessen und Charles wusste das.
Er betrat Lilas Wohnung mit dem größten Interesse aller Zeiten. Seit er Lilian kennengelernt hatte, brannten ihm Fragen über Fragen in seiner Brust, weil alles in ihm wissen wollte, wer diese umwerfende Frau war. Heute schienen sich ihm endlich ein paar davon zu beantworten und Charles genoss jede Sekunde.
Lila fühlte sich ein wenig unwohl.
Sie hielt ihre Wohnung zwar stets sauber und ordentlich, weil sie es liebte, Dinge zu ordnen und sie fest zu platzieren. Aber Charles Wohnung war eine Luxusloft in einem Goldklotz und so elegant wie Sonja Anderson sich kleidete, konnte Lila erahnen, in was für einem Haus sie lebte.
Im Gegensatz zu ihren Gästen lebte Lila klein und bescheiden, beinahe ärmlich.
Was die anderen wohl über sie denken mochten? Für wen Sonja sie wohl hielt?
Kelly Dillons war von Anfang an herzlich und aufgeschlossen gewesen. Aber Sonja Anderson war ruhiger und schwerer einzuschätzen. Sie machte Lila nervös, wie beinahe alle Menschen, die sie gerade erst kennenlernte.
»I-ich ... ähm ... richte mal das Schlafsofa her«, murmelte Lila, als sie leichte Panik über ihren Rücken kriechen spürte und die Hirngespinste, wie so oft, ihren Kopf durchflochten.
Sonja war im Badezimmer verschwunden, um sich frisch zu machen. Charles geisterte durch die Wohnung besah sich alles so haargenau und ernsthaft, das Lila glaubte, er würde ihr mit seiner Präsenz alle Luft zum Atmen stehlen.
Sich dabei selbst eher wenig über den Weg trauend, huschte sie aus seinem Blickwinkel und machte sich an dem kleinen Ecksofa zu schaffen, das ihr vor Urzeiten einmal, als ausklappbar versichert worden war.
Sie hatte bisher niemanden auf diesem Sofa schlafen lassen. Meist trafen Willow und sie sich zu Übernachtungapartys bei Willow, weil das mit Heaver deutlich einfacher war.
Ansonsten nächtigte bloß manchmal ihre Cousine Rachel hier und für die hatte Lila sich noch nie die Mühe gemacht, ein extra Bett herzurichten. Rachel konnte gut auch auf den schlichten Sitzflächen übernachten.
»Kann wohl nicht so schwer sein«, murmelte Lila zu sich selbst und schob den Couchtisch mit samt des kuschelweichen Fließteppichs aus dem Weg, ehe sie versuchte das Unterteil ihres Sofas vorzuschieben, das wie eine Schublade ausgefahren werden musste.
Nach einigem Ziehen und Hieven bewegten sich die Rollen unter der Couch tatsächlich und erleichterten Lilas Arme. Ein Holzlattenrost kam zum Vorschein, sowie ein dicker Würfel, der verdächtig nach einem extra Polster aussah, das als Matratze fungieren sollte.
Skeptisch hob Lila die Augenbrauen und setzte sich probeweise auf die „Matratze" und deren Gestell, die weder stabil aussahen, noch sich als sonderlich bequem entpuppten. Sie seufzte. Auf diesem Klapperding wollte sie Charles' Mutter unter keinen Umständen schlafen lassen.
Es konnte weder gesund sein, noch sonderlich großen Eindruck schinden.
»Was ziehst du für ein Gesicht, Lia? Passt etwas nicht? Brauchst du Hilfe?«
Ein wenig provokant grinsend lehnte sich Charles in den Türrahmen des Flurs und blickte zu Lila und ihrem Misere hinüber.
Schien, als sei das Schlafsofa doch keine sonderlich gute Idee gewesen. Für eine Person mochte es reichen, doch wer nicht gerade mit Sicherheitsgurten schlief, bekam ein paar Probleme.
Charles lachte innerlich.
Ihr tödlicher Blick hatte es in sich. Aber er hatte es schon immer geliebt, sie zu provozieren und aus den Reserven des eher schüchternen Mädchens zu holen.
Er hatte nie verstehen können, wie eine so bildhübsche Frau, wie Lila es war, unsicher und introvertiert sein konnte. Aber jeder hatte eben sein eigenes Päckchen zu tragen und er war sich sicher, noch nicht den ganzen Kuchen von Lila probiert zu haben.
Das hieß ... vielleicht schon, wenn sie ihnen beiden je eine Chance gegeben hätte.
Aber das hatte sie nicht.
Der Dämpfer traf Charles unvorbereitet. Doch er blinzelte die Schatten so schnell weg, wie sie gekommen waren.
Lila seufzte leise.
»Nein, danke. Ich brauche keine Hilfe. Aber deine Mutter kann unmöglich auf diesem Ding schlafen. Ich beziehe mein Bett frisch«, verkündete sie und hechtete aus dem Zimmer. Charles sah ihr nach. Er wusste, was für ein Spiel sie trieb.
Sie wich ihm aus. Sie hielt es nicht aus, mit ihm in einem Raum zu sein. Sobald er auch nur in ihre Richtung sah, entfloh sie seinem Blick.
Sie hatte keinen Schimmer, was für Stiche sie seinem Herzen dabei versetzte.
War er wirklich so schlimm?
Weshalb rannte sie immerzu vor ihm weg?
Was hatte sich damals und heute geändert?
Und was nicht?
Nicht locker lassen könnend, folgte er ihr. Musterte sie, wie sie in ihrem Schlafzimmer Bettlacken und Kissen abzog und alles frisch auflegte.
Sie war geübt darin, obwohl ihre Hände vor Anspannung zitterten. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte sie alles frisch gemacht. In solchen Dingen war sie schon immer talentiert gewesen. Eigentlich in allem, was ein wenig Fingerfertigkeit benötigte.
»Das Bett ist vielleicht auch ein wenig eng. Du kannst auf dem Sofa schlafen. Ich werde mich mit meinem Campingschlafsack auf den Teppich legen«, ratterte Lila die Worte aus dem Mund und hielt den Blick gesenkt, als sie in lauter Hektik wieder aus dem Zimmer hetzen und die alten Laken in Richtung Waschmaschine tragen wollte.
Charles versperrte ihr den Weg, als sie wieder vor ihm davonrennen wollte.
Was war ihr verdammtes Problem?
Den ganzen Tag über war sie nicht so abweisend und distanziert gewesen.
Vielmehr entspannt waren sie nebeneinander spazieren gegangen und, überhaupt nicht nervös, hatte sie ihm und seiner Mutter, sowie allen anderen die Stadt gezeigt.
Aber jetzt, kaum waren sie allein, zog sie sich zurück, obwohl das Gegenteil der Fall sein sollte.
Er wollte doch nicht, dass sie sich vor ihm fürchtete und ihn mied. Es war das letzte, was er wollte.
»Warum weichst du mir aus? Wieso rennst du immer vor mir davon?«
Sie sah zu Boden.
Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen.
Weshalb war das so?
Was hatte er ihr getan?
Hasste sie ihn so sehr?
»Charles, lass mich vorbei. Ich muss ...«
»Weshalb? Bin ich so unerträglich für dich? Hasst du mich so sehr?«
Beim Wort „hassen" zuckte Lila zusammen.
»Du kannst mir nicht einmal in die Augen sehen«, stellte er verletzt fest und zog sich urplötzlich von ihr zurück.
Lila durchfuhr es eisig, als er ihr ohne weitere Kompromisse den Weg freimachte.
Die Panik, die hätte aufsteigen können, versiegte.
»Zwei Wochen und fünf Jahre und du kannst mir nicht einmal in die Augen sehen ...«, wiederholte sich Charles und machte auf dem Absatz kehrt, um nach seiner Mutter das Badezimmer zu besetzen und sich bettfertig zu machen.
Mit hochgezogenen Augenbrauen warf Sonja einen Blick von der zugeknallten Tür hinüber zu Lila, die sich stocksteif nicht weiter von der Tür bewegt hatte.
Wow, das war schneller eskaliert, als Lila gedacht hatte.
»Welche Laus ist ihm denn über die Leber gelaufen?«, hakte Sonja unscheinbar nach, obwohl sie durchaus Gesprächsfetzen mitbekommen hatte.
Lila zuckte mit den Schultern.
Sie wollte weder darüber sprechen, noch näher erklären, warum sie sich so verhielt, wie sie sich eben verhielt.
Sie war überfordert und müde und wollte eigentlich nicht länger reden.
Der Höflichkeit halber lächelte sie schmal und wechselte das Thema.
»Ich habe Ihnen mein Bett frisch bezogen. Da ich morgens immer früh auf den Beinen bin und mit dem Backen beginne, ist es nur fair, wenn ich Sie schlafen lasse und das können sie am besten hinter geschlossener Tür.«
Glücklicherweise bohrte Sonja nicht länger weiter.
»Oh«, gab sie bloß überrascht von sich. »Das ist ein netter Gedanke.«
Lila hielt ihr Lächeln.
»Ich wollte Sie außerdem fragen, was Sie gerne zum Frühstück essen. Lieber süß oder salzig? Waffeln? Pancakes? Oder lieber Speck und Ei?« Sie biss sich nervös auf die Unterlippe. Ihre Stimme überschlug sich.
Gott, warum war sie bloß immer so unkonzentriert und aufgeregt, wenn sie mit neuen Leuten sprach?
In seltenen Momenten, wie heute Mittag, kickte das Adrenalin in ihrem Körper und ließ sie mutig werden. Aber viel schneller entwich es wieder und ließ sie zu dem Mauerblümchen zurückkehren, das sie eigentlich war.
Es gab nichts an ihr selbst, das Lila mehr störte, als ihr fehlendes Selbstbewusstsein.
»Liebes, zunächst einmal kannst du mich gerne duzen. Ich bin doch keine Autoritätsperson. Und was das Essen angeht, du sollst ja nicht denken, dass du uns hier bedienen müsstest oder so etwas. Ich kann mir meinen Kaffee auch selbst kochen. Mach dir bloß keine Umstände.«
Die Wärme in Sonjas Blick ließ Lila nun doch ein wenig auftauen.
»Ach, das macht mir keine Umstände. Ehrlich gesagt, ist es mein Job und ich mache Ihnen ... äh ... euch gerne Frühstück.«
Sonja lächelte.
»Machen wir einen Kompromiss: Wir frühstücken nur, wenn du mit uns frühstückst. Ich fühle mich nicht wohl dabei, mich von dir bedienen zu lassen. Du sollst dir keinen falschen Eindruck von mir oder gar von Charlie machen. Er mag vielleicht nicht so aussehen, aber er hat in den letzten Jahren auch den ein oder anderen Küchengriff herausbekommen und kann unschlagbare Waffeln backen, die müsstest du echt einmal probieren«, schwärmte Sonja und überhörte, wie Lilas Herz einen Moment stolperte.
Waffeln? Charlie? Küche?
»Wirklich? Er backt?«, brachte sie nicht gerade klug hervor und schlug sich innerlich gegen die Stirn. Doch Sonja lachte bloß.
»Ja, stell sich einer das mal vor. Vor Jahren hat er Töpfe ohne Hitze zu Asche gebrannt und heute backt er Waffeln. Was auch immer passiert ist, ich danke Gott und der Welt dafür!«
Lilas Wangen färbten sich ungewollt ein wenig rot.
Sie erinnerte sich an etwas, von dem sie Sonja lieber nicht erzählen wollte.
Den Grund, warum Charles backte ...
Oder dachte sie hier in eine falsche Richtung?
»Na ja, Kindchen. Ich glaube, wir müssen morgen weiter tratschen. So langsam kriecht mir die Müdigkeit durch alle Glieder. Es ist mir auf jeden Fall eine große Freude dich kennenzulernen und ich danke dir bereits jetzt, dass wir ein Weilchen bei dir bleiben dürfen. Schlaf gut, Liebes.«
Lila trat aus dem Weg.
»Gute Nacht«, wünschte sie und eilte dann in Richtung Wohnzimmer, um sich ihr eigenes Nachtlager aufzubauen.
Der Teppich musste für diese Nacht wohl reichen. Morgen würde sie sich mehr Gedanken darüber machen.
Bevor Charles aus dem Badezimmer kam, schlüpfte Lila in ihre Schlafshorts und das Pyjamashirt und legte sich in den Schlafsack am Boden. Sie kniff die Augen zusammen, als sie die Tür hörte und hoffte, er würde sich einfach hinlegen und das Licht ausmachen.
Leider ließ sich Charles nicht so leicht hinter das Licht führen. Er wusste genau, dass sie noch wach war und bloß so tat, als sei sie eingeschlafen.
Ihr Herz schlug zu schnell.
Sie war niemals am Träumen.
Er seufzte. Dann schmiss er sich auf die Couch und schaltete das Licht aus. Sie wollte nicht reden?
Fein. Vielleicht sollte die Verbindung zwischen ihnen wirklich nicht sein. Vielleicht bildete er sich die Spannung zwischen ihnen nur ein.
Er wollte nicht diskutieren. Nicht mehr in dieser Nacht.
»Wenn ich nur wüsste, was ich dir getan habe, dass du mich so sehr verabscheust«, murmelte Charles und legte sich die bereitgelegten Decken und Kissen zurecht, damit er einigermaßen bequem liegen konnte.
Die Couch bot wirklich nicht sonderlich viel Platz und war ziemlich durchgesessen.
Für eine Nacht erfüllte sie dennoch ihren Zweck und zu Charles' Stimmung passte ihre Bequemlichkeit ebenfalls.
Entnervt schloss er die Augen und versuchte zu ignorieren, dass nur ein paar Meter von ihm entfernt, mit dem Rücken zu ihm gekehrt, die Frau lag und sich schlafend stellte, der er all sein Herz geschenkt hatte.
Sie war Engel und Teufel in derselben Person.
Sehnsucht und Verlust.
Liebe und Hass und ...
»Charlie?«
»Hm?«
»Ich hasse dich nicht.«
... Liebe.
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