KAPITEL 35


Es konnte nur Zufall, nicht tatsächliches Schicksal sein.
Oder? Vielleicht war es doch das Schicksal, das nach etlichen Jahren die Schnauze voll von Unglück und Missmut hatte.
Vielleicht gelangte diese Welt selbst an ihre Grenzen.
Vielleicht fühlte sie mehr, als Menschen zu wissen glaubten.
Vielleicht war alles auf ihr Lebende bloß ein Teil ihres Organismus und Menschen gar nicht so frei, wie sie glaubten.
Vielleicht war jedes Individuum bloß so wichtig wie eine einzelne Zelle des Körpers, die irgendwann abstarb und durch neue ersetzt wurde.
Vielleicht auch nicht.
Vielleicht hatte Gott seine Finger im Spiel.
Vielleicht noch jemand ganz anderes.

Was auch immer es war, es musste Dinge ein für alle Mal erledigen wollen. Anderenfalls wäre es Lila quasi unmöglich gewesen, auf den kleinen Vorschuss in einer der Wohnzimmerwände zu stoßen und den lockeren roten Backstein aus der Wand zu ziehen, um die versteckte Kammer dahinter zu entdecken.
Sie hatte Willow die gesamte Woche über zur Seite gestanden. Die Zweisamkeit war für sie beide eine Art der Notwendigkeit gewesen, obwohl Lila es noch immer nicht über sich gebracht hatte, ihr allergrößtes Geheimnis mit Willow zu teilen.

Was ihrer Freundin in Kindertagen passiert war, versetzte Lila in Angst und Schrecken.
Sie konnte sich gar nicht ausmalen, wie unermesslich Willows Leid sein musste und wie schwer es war, auf so eine Kindheit ein neues Leben zu bauen, um nach vorne zu sehen. Umso mehr beeindruckte sie Willows Umgang mit Dingen, die ihr Alpträume bereiteten. Sie war eine starke Frau und sie war so weit gekommen.
Trotzdem waren nach etlichen Jahren des Unheils die Energiereserven ausgeschöpft. Und Lila spürte es in all ihren Zellen, dass es an der Zeit war, Willow unter die Arme zu greifen.
Die junge Brünette hatte ihr schon so oft aus irgendwelchen schwarzen Löchern geholfen und sie nächtelang getröstet, ohne dass sie recht wusste, weshalb Lila so viel weinte.
Jetzt war es an der Zeit, diesen Spieß umzudrehen und Willow glücklich zu machen oder sie zumindest zu verteidigen.
Deshalb machte Lila an diesem Samstagmorgen einen waghalsigen Schritt.

Einen Schritt, den sie sich fünf Jahre lang nicht getraut hatte, zu machen.
Einen Schritt, den sie nie hatte machen wollen.
Aber hier ging es schließlich nicht um sie. Sie machte das für Willow und nur für Willow, oder? Ja. Keine Hintergedanken.
Oder machte sie sich damit selbst etwas vor? Der Stich in ihrem Herzen, das Kribbeln in ihren Fingern lehrte sie eines besseren.
Sie tat das hier für sie beide.

xxxx

Charles' Wohnung war nach einer Woche der reinste Saustall. Sie war das Ergebnis zweier Männer, die eng befreundet waren, die unglücklich waren und eine ziemlich große Schwäche für Pizza hatten, wenn es hart auf hart kam.
Wesley hatte diese Woche jede Nacht auf Charles' Couch gepennt. In seine Wohnung konnte er nicht zurück, denn dort war Willow und die Sehnsucht nach ihr und den Nächten, die sie in seinen Armen geschlummert hatte, ertrug Wesley nicht.
Charles hatte nichts gegen die Gesellschaft. Er war vielmehr froh, seinem Freund beistehen zu können, der sich nur mäßig berappelte.
Nach etlichen Jahren, in denen Wesley ihn stets aufgebaut hatte, wenn er unten gewesen war, fühlte sich Charles nun dafür verantwortlich, Wesley denselben Dienst zu erweisen. Und Schritt für Schritt machten sie Sprünge in Richtung Ausgang des dunklen Tunnels.
Man konnte sich schließlich auch nicht Ewigkeiten selbst bemitleiden. Es galt eine Kanzlei zu führen, die Presse zu füttern und die nächsten Schlagzeilen abzuwimmeln, die durch Willows hektischen Abgang in der Bibliothek nur angefacht worden waren.
Indirekt hatten sich die Spekulationen, die Charles hatte verhindern wollen, bestätigt. Aber was wollte diese Stadt denn nicht mehr, als eine offizielle Stellungnahme?

An diesem Morgen klingelte es an der Wohnungstür exakt zweimal und das in einem Abstand von circa fünf Minuten.
Charles stöhnte, als er durch das Guckloch seiner Wohnung die Gestalten von Kelly Dillons und Sonja Anderson höchstpersönlich erblickte.
Eigentlich hatten er und Wesley die gesamte Woche nur darauf gewartet, dass die beiden auf ihrer Matte stehen würden, denn wenn sie es im Leben mal wieder gründlichst versauten, dann taten sich ihre Mütter immer zusammen und zündeten ihnen den Hintern an.

Wesley sah gequält von der Couch zur Haustür.
Ihre Blicke sprachen Bände.
»Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden verschwinden, wenn ich nach dem dritten Klingen noch immer nicht geöffnet habe?«, fragte Charlie seinen Freund und legte den Kopf schief. Wesley schüttelte den Kopf.
»Da brauch man gar nicht rechnen. Sie werden niemals einfach weggehen«, seufzte Wesley und versuchte sich emotional auf den Dämpfer seiner Mutter gefasst zu machen.

Ja, er hatte es vergeigt.
Ja, er verdiente ihre Wut.
Ja, er war ein bodenloser Vollidiot.

Es klingelte ein zweites Mal.
Charles atmete tief durch.
Sonja klopfte energisch gegen die Holztür.

»Charles Anderson! Ich weiß ganz genau, dass du und Wesley da drinnen sind! Mach mich nicht noch wütender und lass uns zu der Motorsäge greifen, die wir im Kofferraum liegen haben!«

Selbst durch die schallgeschützte Tür drang die Stimme seiner Mutter laut und deutlich und dass sie eine Motorsäge dabei hatte, war gar nicht abwegig. Charles ergab sich seinem Schicksal und öffnete die Tür.

»Sorry, Kumpel«, formte er mit den Lippen, als sich Kelly Dillons als erste durch die Tür drängte und sofort ins Wohnzimmer weiterlief. Sie hatte, wie alle anderen der Stadt, mitbekommen, dass Wesley und Willow ins Auge der Mediengewalt gerückt waren und sie war entsetzt, wie kampflos und ungerissen ihr Sohn diese Situation handelte.

Mit feuerroten Wangen starrte sie ihn nieder. Beinahe peinlich berührt von ihm und seiner jämmerlichen Gestalt.
Kelly musterte ihn gnadenlos.
Ihr Sohn war ein Sturkopf und ein Holzbub, wenn es um Frauen ging. Sie wusste nicht, hatte es sich nie erklären können, weshalb er beim Umgang mit einem weiblichen Wesen jedes Mal in ein Fettnäpfchen trat und sich dann nicht selbst heraushalf, obwohl er sonst so selbstständig und ungehalten war. Er hatte sich früh vom Elternhaus gelöst und sein eigenes Ding gemacht. Er hatte Träume gehabt und war gewollt gewesen, sich diese zu erfüllen.
Jetzt hatte er sie sich erfüllt und blieb dennoch unglücklich darauf liegen. Und was machte er dagegen?
Gar nichts.

»Wo ist sie? Wo ist Willow?«, fragte Kelly und stemmte die Hände in die Hüften.
Wesley musterte sie. Sie sah so souverän aus, wie immer. Er hatte seine Mutter noch nie in einem schwachen Moment gesehen. Es sei denn, es ging um Hundewelpen, aber das war eine unbedeutende Ausnahme.

»Bei sich zu Hause. In Innerforks«, murmelte Wesley und fügte in Gedanken ein leider hinzu.
Kelly nickte.
»Und weshalb bist du hier? Wenn ich mich recht entsinne, dann hast du deiner Freundin erstens eine Menge zu erklären, zweitens dich bei ihr zu entschuldigen und drittens vor allem endlich diesen Medienfluss zu unterbrechen. Ich bin schockiert, dass du noch nichts gegen diese Aasfresser unternommen hast und ihnen täglich neuen Stoff zum Zerreißen überlässt!«

Wesley wandte sich ab. Das konnte er sich nicht mit offenen Augen anhören.
»Sie hat Schluss gemacht.«
Kelly zog die Augenbrauen zusammen. »Was?!«
Sie biss sich auf die Lippen. Das hatte sie nicht erwartet.
»Lass es mich nicht noch einmal aussprechen!«, murrte Wesley mit üblem Magen.
Er war also nicht sonderlich glücklich darüber. Immerhin bestätigte Kelly das, dass ihr Sohn endlich das richtige Mädchen gefunden hatte, mit dem er sich vorstellen konnte, den Rest seines Lebens zu verbringen.

»Wieso hat sie Schluss gemacht? Weil du ihr verschwiegen hast, was in der Stadt vor sich geht?«
Wesley nickte träge. Dann wollte er den Rest der Wahrheit hinzufügen, obwohl ihn das Aufrollen dieses Gesprächs noch miserabler stimmte. Zu einer Antwort kam er allerdings nie.
Stattdessen klingelte es abermals an der Tür und Charles, der sich mit seiner Mutter in die Küche zurückgezogen hatte, lief zurück in den Flur.

»Welcher Gott dort oben, will mich an diesem Samstagmorgen eigentlich ärgern? Habe ich vergessen das letzte Foto von Justin Bieber zu liken? Ich verstehe das Prinzip von Karma einfach-!« Er riss die Tür auf und erstarrte, als er die Gestalt auf der Fußmatte seiner Wohnungstür stehen sah. »-nicht«, stotterte Charles den Schluss, wesentlich leiser und abwesender, viel zu abgelenkt von dem Mädchen, das ihn mit feurigen Augen ansah.

»Hallo, Charlie«, grüßte sie und erwiderte seinen Blick mit einer Härte, die ihm mehr als nur Angst bereitete.
Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Hatte sie ihn gerade bei seinem Spitznamen genannt? Und dazu diesen Blick draufgehabt? Charles war hin und hergerissen. Aber während er noch gar nicht realisieren konnte, was vor sich ging, schlüpfte sie bereits unter seinem Arm hindurch, der noch immer die Tür offenhielt, und verschaffte sich Zugang zu seinem Apartment, das sie durchquerte, als wäre sie schon eine Millionen Mal hier gewesen. Aber das war ein Irrtum. Sie war noch nie bei ihm zu Hause gewesen. Hatte noch nie dort gestanden, wo sie jetzt stand. Dennoch schien es, als würde sie genau hierhin gehören. Als wäre alles, was eigentlich ihm gehörte, das, was ihr gehörte. Einschließlich ihm selbst.

Lila hatte sich die Entscheidung, nach Washington zu fahren, nicht leicht gemacht. Sie schwankte zwischen ihrer Vergangenheit und der Zukunft. Aber sie hatte diesen Schritt für sich selbst und vor allem für Willow tun wollen und als beste Freundin sah sie sich in der absoluten Pflicht, dem Kerl, der Willow das Herz gebrochen hatte, Beine zu machen.
Dass sie dazu ausgerechnet die Wohnung des Mannes zu betreten hatte, der alles mit ihr machen konnte, wenn er nur wollte, war bloß ein bitterer Beigeschmack.
Sie hatte eine Mission. Hatte sich die Worte bereits zurechtgelegt und ihren Abgang geübt. Fehlten nur noch das Feuer und der Mut. Und beides war gekommen, als sie Charles gesehen hatte.
Er machte sie furchtbar wütend.

»Komm ruhig rein«, rief er ihr sarkastisch hinterher, doch sie hatte ein anderes Ziel vor Augen. Im Wohnzimmer hockte ein schwarzer Lockenkopf, den sie nur allzu gut kannte.
Wesleys Augen weiteten sich, als er Lila näher kommen sah. Die hübsche Blondine war ihm ähnlich vertraut, wie die Brünette, die üblicherweise an ihrer Seite strahlte. Doch heute hatte Lila ihr Gesicht zornig verzogen und ihre wütend funkelnden Augen begegneten ihm zum ersten Mal.

»Du!«, zischte Lila wütend und deutete mit dem Finger auf Wesley.
»Was fällt dir ein, meiner Freundin das Herz zu brechen und sie vor der gesamten Welt wie eine Prostituierte vorzuführen, ohne dabei etwas zu unternehmen? Ist sie dir so wenig wert? War das alles so gut inszeniert von dir? In den Medien haben sie dich ja immer als arroganten Schnösel aufgezogen, aber dass du tatsächlich so ignorant sein würdest habe ich dir nach den Tagen, in denen ich dich kennengelernt habe, nicht mehr zugetraut. Ganz ehrlich, Wesley, ich dachte wirklich du bist besser, als das, was das Klischee hergibt. Aber hier sitzt du nun, jämmerlicher als je zuvor und bist wirklich kein Stück besser, als jeder andere gottverdammte Fremdgeher auf diesem Planeten! Ich bin nicht nur angeekelt, sondern ehrlich enttäuscht!«, feuerte Lila los und gestikulierte wild mit den Armen.
»Willow so dreist zu hintergehen und dann nicht einmal den Mumm dazu zu haben, es ihr ehrlich ins Gesicht zu sagen. Von solchen Männern kann man wirklich nur das Geringste erwarten. Und dann versucht ihr mit euren lächerlichen Lügenspielen auch fortzufahren, wenn die Wahrheit endlich ans Licht getreten ist. Ihr seid erbärmlich und ihr widert mich an!«

Es tat gut, diese Worte loszuwerden. Sie hatten in Lila geschlummert, seit sie Willows ganze Geschichte gehört hatte und es fühlte sich befreiend an, endlich einmal einen Ton von sich zu geben.

»Willow ist die stärkste Frau, der ich jemals begegnet bin, und dass obwohl ihr Anfang auf dieser Erde beschissen war und sie mit nichts, als Steinen zurechtkommen musste. Sie hat gekämpft und geweint und geliebt und gehofft und jetzt, wo sie es endlich komplett geschafft zu haben schien, ihr Glück auszuleben, kommst du daher und machst sie wieder und wieder kaputt. Ich will wissen, wieso? Ich will wissen, ob es dir Spaß gemacht hat und ob du jetzt zufrieden bist? Dass du sie ausgespielt, ausgetrickst und belogen hast. Dreist betrogen!«

Im Raum war es totenstill.
Lila fuhr in der Ruhe aus ihrer Haut.

»Nun sag schon, du verdammter Mistkerl!«, fluchte sie und starrte Wesley nieder, der ihre Streitlustigkeit bis zu diesem Punkt stumm hingenommen hatte, weil er wusste, wie verdient ihr Zorn auf ihn war.
Dennoch störte ihn, was nach Willow nun auch Lila ihm unterstellte. Nämlich die Tatsache, dass sie ihn als Fremdgeher bezeichnete.
Dieser Begriff machte ihn mehr als nur rasend, traf ihn schmerzhaft im Herzen.
Wie konnten sie nur so gering von ihm denken? Er wäre Willow nicht einmal betrunken und vollgekifft fremd gegangen. Niemals würde er es tun. Denn er hatte keinen Grund dazu. Willow war alles, was er wollte. Alles, was er liebte. Schon der Gedanke, an eine andere Frau zu denken, ekelte ihn und fühlte sich falsch an. Er wollte nur Willow.

»Du hast was getan?«, kam es fassungslos von zwei Seiten des Raumes. Zunächst von Kelly Dillons, die von Lila bis jetzt ungeachtet neben der Couch gestanden hatte und mit hochrotem Kopf auf ihren Sohn starrte, als hätte sie einen Geist gesehen, und hinter Lila war es Sonja, die sich ebenfalls ins Wohnzimmer begeben hatte, nachdem Charles – hypnotisiert von Lila – nicht mehr zu ihr zurückgekommen war. Auch jetzt stand er angespannt und nur auf Lila fokussiert verloren im Raum und erweckte Sonjas Aufmerksamkeit.

Wer war die junge Frau? War sie mit Charles auf den Fotos in der Zeitung gewesen? Wieso nannte sie ihren Sohn »Charlie«? In welcher Beziehung standen sie zueinander?

Lilas Wangen begannen zu glühen, als sie Kelly und Sonja im Raum bemerkte. Die beiden Damen sahen ihren Söhnen so ähnlich, dass sie sofort wusste, mit wem sie es zu tun hatte. Allerdings bestand für sie keine Gefahr. Kelly wirkte nicht, als würde sie ihren Sohn in diesen Angelegenheiten verteidigen wollen. Sie waren sich alle einig, dass er großen Mist gebaut hatte für den es geradezustehen galt. Wesley noch mehr als Charles – obwohl sich Lila auch noch ein paar aufbrausende Worte für ihn zurechtgelegt hatte. Sie hatte heute einige Hähnchen zu rupfen, aber mit Wesley wollte sie beginnen.
Angesprochener erhob sich nach einigen Sekunden der Stille aus seiner Sitzhaltung, um sich den anderen nicht unterlegen zu fühlen. Es gefiel Wesley nicht, wie die engsten seiner Familienmitglieder auf ihn herabsahen und er langsam sein Gesicht verlor. Er hasste, wie enttäuscht und wütend sie auf ihn waren. Dabei unterstellten sie ihm Lügen.
Denn er war kein Betrüger!
Er würde es niemals sein!

»Wovon zum Teufel sprecht ihr da immer? Willow hat mir, kurz bevor sie mich verlassen hat, genau dasselbe unterstellt. Aber ich habe sie niemals betrogen, bin ihr niemals fremd gegangen. Zum Himmel, ich würde es nicht wagen, sie zu hintergehen. Ich liebe diese starrsinnige Frau!«, platzte es auf Wesley und auch er merkte jetzt, wie er dem Frust Platz ließ. Die Situation stresste ihn. Sie stresste ihn mehr, als jede Arbeitswoche.

»Ich weiß, dass ich Scheiße gebaut habe. Ich hätte Willow diese Fotos niemals verschweigen dürfen. Aber dass ich nichts dagegen unternommen hätte, ist nicht wahr. Ich habe die letzten Wochen nichts anderes zutun gehabt, als Journalisten und Publizisten zu bestechen oder sie auf ihren schlechten Rechtsschutz hinzuweisen. Und dabei ging es mir nicht vorsätzlich um meinen eigenen Ruf! Bei Gott, Willows Ruf ist mein Ruf und sie hat für mich oberste Priorität. Wie könnte ich sie also freiwillig als Hure im Internet stehen lassen? Ich bin doch kein vorsätzlicher Mistkerl! Und noch weniger bin ich ein Fremdgeher. Ich weiß nicht einmal, woher dieser Gedanke stammt. Über meine Leiche würde ich dieser Frau oder irgendeiner anderen fremdgehen. Ich bin Anwalt. Ich kenne Männer und Frauen, die mit ihren Geschichten und den Scheidungspapieren an meiner Tür klopfen. Und ihr glaubt, ich würde es wagen, auch zu so jemandem zu werden? Ganz sicher nicht. Wenn ich jemanden liebe, dann liebe ich ihn korrekt. Also unterstellt mir nicht, ich hätte in fremden Betten gehaust. Denn das wird niemals passieren!«

Blanke Stille legte sich über das Wohnzimmer.
Wesley starrte zu Lila.
Lila starrte zu Wesley.
Charles starrte zu Lila.
Kelly starrte zu Wesley.
Und Sonja starrte zu Charles.
Es schien, als traute sich niemand mehr zu atmen. Wesleys laute Stimme war ein Donnerwetter und es war endgültig.

Lila schnaubte irgendwann verächtlich. Charles musterte sie und staunte. Sie war nicht mehr die junge Frau, die sie vor fünf Jahren gewesen war.
Diese Frau war selbstbewusster, schärfer und mutiger. Vom Leben gezeichnet, schien sie endlich den Absprung geschafft zu haben, der ihr damals zu schwer erschienen war.
Es war ihm ein schwacher Trost, sie heute so zu sehen.

»Ich bitte dich, Dillons. Wen sollte Willow dann am Telefon gehabt haben, nach etlichen Versuchen, dich zu erreichen?
Denkst du, sie würde sich irgendeine Frau ausdenken, mit der sie geredet hat und die ihr gedroht hat, wenn sie noch einmal versucht, mit dir in Kontakt zu treten. Feige wie du bist, hast du irgendeine Fremde deine Angelegenheiten aus dem Weg räumen lassen. Wie nobel von dir!«

»Welche Frau verdammt nochmal? Und was für Anrufe? Ich habe Willow den ganzen Tag versucht anzurufen. Frag Charles! Es war sie, die nie abgenommen hat!«

Damit stand es Wort gegen Wort. Wieder fehlte der Sauerstoff in der Luft.
Wesley kramte demonstrativ sein Handy hervor und warf Lila das Gerät zu, damit sie sich seine Anruferliste anschauen konnte. Sie war blank. Nirgendwo war Willows Name als verpasst angeheftet. Es waren tatsächlich nur verpasste Anrufe an Willow verzeichnet.

Lila zog die Augenbrauen zusammen.
Dieses Bild stimmte überhaupt nicht mit dem überein, was sie auf Willows Handy gesehen hatte.
Denn dort war es genau umgekehrt gewesen.

Hatte einer von ihnen die Anrufe des anderen absichtlich gelöscht?
Wesley konnte ihr sonst etwas erzählen. Aber die Anrufe, die an Willow gegangen sein sollten ...

»Glaubst du mir jetzt?«, fragte Wesley.
Verzweifelt, frustriert und vollkommen müde. Er konnte nicht mehr schlafen, er konnte nichts mehr essen und auch nicht mehr klar denken. Er wollte Willow zurück ...
Lila antwortete nicht. Stattdessen klickte sie prüfend auf den Kontakt, den Wesley als Schäfchen in seinem Smartphone eingespeichert hatte.
Verbissen kniff sie die Augen zusammen, als sie die Nummer auf dem Display laß.

»Das ist nicht Willows Handynummer!«, brachte sie nach einigen Sekunden hervor. Die Vorwahl war die gleiche, aber die Zahlen in der Mitte waren verdreht.
Die Nummer war ähnlich, aber sie gehörte nicht zu Willow.
Wesley verschlug es die Sprache.
»Was? Das kann nicht sein. Ich habe ihren Kontakt niemals geändert!«
Er entriss ihr das Gerät aus ihren Fingern, um selbst nachzusehen.
Lila zog eine Grimasse.
Langsam ahnte sie, was für ein Spiel hier gespielt wurde. Und so fern es ihr auch schien, aber je länger sie Wesley dabei beobachtete, wie er sein Handy durchforstete, desto eher glaubte sie an seine Ehrlichkeit.

So verloren, wie er schien, glich er viel eher dem Mann, der er bis vor kurzem schon immer für sie gewesen war.
War er wirklich ein so guter Schauspieler? Aber wofür die Mühe? Nur um Willow ins Bett zu bekommen? Dafür war der Hintergrund ihrer Beziehung doch viel zu wackelig und weshalb hätte er sich dann sogar die Mühe gemacht und Willow seinen Eltern vorgestellt?

»Es ist die falsche Nummer. Sie ist ihr ähnlich, aber Willow hat die Zahlenfolge sieben sechs drei fünf und nicht sieben drei fünf sechs.«
Zum Vergleich zeigte Lila Wesley ihr eigenes Handy und wählte demonstrativ die Nummer auf ihrem Handy, um zwanzig Sekunden später auf die melodische Mobilbox von Willow weitergeleitet zu werden. Die Sprachdatei, die Wesley die ganzen Wochen über gemisst hatte.

Er raufte sich die Haare.
Die Nummer war falsch gewesen. Deshalb hatte er sie nie erreicht.
Aber warum hatte sie ihn dann nie erreicht?
Und warum war seine Nummer falsch? Wer?

»Wartet mal!« Charles meldete sich urplötzlich zu Wort und kam mit bedachten Schritten ein Stückchen näher.
Er schien geschäftig. Nachdenklich. Als wäre ihm ein Gedanke zur Lösung des Problems gekommen.

»Wann genau hat Willow versucht, Wesley zu erreichen? Und Wesley, seit wann konntest du Willow nicht mehr anrufen?«

Die Antworten kamen sowohl von Lila als auch Wesley wie aus der Pistole geschossen.
»Seit New York.«

»Und mit wem genau hat Willow gesprochen, als du in New York warst.«

»Mit einer Frau, die ihr gedroht hat, nie wieder diese Nummer zu wählen«, wiederholte sich Lila stumpf.
Charles nickte.
»Und mit wem genau warst du in New York, Wes?«
Wesley zog die Nase kraus.
»Mit ... Ach du Scheiße!«
Ihm klappte der Mund auf und siedend heiß überfiel ihn die Erkenntnis.

Das konnte doch wohl nicht wahr sein!

»Diese Schlange!«, zischte Wesley wütend und ballte die Hand zur Faust, ehe sie ihm ausrutschte und er eins der Sofakissen vor die nächste Wand pfefferte.
Was fiel ihr ein? Und wie konnte sie es wagen?
Das überschritt all seine Fantasien.

»Das hätte ich ihr gar nicht zugetraut! Wie kommt sie auf diesen kranken Mist?«

»Wer?«, fragten die Frauen unisono. Noch alle im Dunkeln tappend.

»Malia Ulrich. Unsere Sekretärin und Assistentin«, offenbarte Wesley mit zusammengebissenen Zähnen und angespanntem Kiefer.
Oder sollte er sagen, Ex-Sekretärin? Denn wenn sich Charles' Vermutung bestätigte, dann würde diese Frau nicht mehr lange zu Leben haben.

»Sie muss sich Zugriff zu deinem Smartphone verschafft und die Nummer von Willow ausgewechselt haben. Außerdem hat sie deine Anruferliste gelöscht und die Nummer von Willow blockiert. So sind ihre Anrufe verloren gegangen und deine wurden ins Nirwana geleitet«, riet Charles und ahnte gar nicht, wie richtig er in seiner Vermutung lag.
Wesley setzte sich. Das waren ihm zu viele kranke Informationen. Er raufte sich das Haar.

»Und sie muss mit Willow über mein Telefon gesprochen haben. Ihr gedroht haben!«

»Und weil sie dein Handy benutzt hat, war es für Willow eindeutig zu denken, dass du sie hintergehst. Malia hat ihr gar nichts anderes übrig gelassen«, sponn Charles das Netz zu Ende.

Kelly keuchte. Was für einen Missbrauch die Technik der heutigen Zeit verursachen konnte, wurde ihr an diesem Beispiel einmal mehr vor Augen geführt. Früher wäre all das gar nicht möglich gewesen. Heute ruinierte man mit wenigen Eingriffen auf dem Privateigentum des anderen, dessen Beziehung oder sein ganzes Leben.
Sie war nahezu verstört.

»Aber wieso? Was will diese Frau von dir, Wesley?«, fragte sie ihren Sohn. Dieses Mal feinfühliger, schuldig.
Wesley drehte sich zu ihr um. Sein Blick leer und verschlossen.
»Offensichtlich mehr, als ich ihr zugetraut hätte oder ihr jemals bereit wäre, zu geben«, grummelte er, wütend, weil er nicht eher darüber nachgedacht hatte.

Malia arbeitete schon seit Ewigkeiten in der Kanzlei.
Sie waren quasi zu einem Dreigespann zusammengewachsen in den Jahren der Kanzlei.
In eines ihrer Lächeln oder ihre knappen Berührungen hatte er nie sonderlich viel hineininterpretiert. Aber wenn er es recht betrachtete und sich ihre lange Umarmung nach seiner Rückkehr von Innerforks oder ihre abwertenden Gespräche über Willow in seinem Büro, nachdem Willow vor ihm weggerannt war, vor Augen führte ... Es hatte Anzeichen für Malias Frust und ihre Ablehnung gegeben. Er hatte ihr bloß nie unterstellt, dass sie zu solchen Mitteln greifen und damit alles auf Spiel setzen würde, was sie sich erarbeitet hatte.
Denn eines war klar: Wenn diese Geschichte sich bewahrheitete, dann konnte Malia Ulrich ihre Sachen packen und das Land verlassen. Wesley wollte ihr nie wieder begegnen.

Charles biss sich auf die Lippen.
»Es würde alles seinen Sinn ergeben. Dass sie deinen Code auf dem Handy herausgefunden hat, kann leicht im Flugzeug oder so passiert sein. Und in einer ruhigen Minute, in der du abgelenkt warst, hat sie die Fäden gesponnen, um einen Keil zwischen dich und Willow zu treiben.
Wenn man es recht überlegt, hätte man aber auch schon am Tag des Balls darauf schließen lassen können. Immerhin ist Willows Name das ein oder andere Mal in unseren Gesprächen gefallen, sodass überhaupt nichts rechtfertigt, warum Malia Willow sofort hinauswerfen wollte, als sie zu deiner Überraschung doch noch kam. Wir hätten viel mehr darauf achten sollen.«

Wesley nickte. Er gab seinem Freund recht. Das hätten sie.
Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen. In seinem Blut herrschte Verwirrung und sein Kopf brummte. Er konnte nicht glauben, dass er tatsächlich in eine Falle gelockt war, die aus Eifersucht einer anderen Frau für ihn ausgelegt worden war.
Und jetzt war er allein. Er hatte das Mädchen verloren, für das er bereit gewesen war, sein Leben auf den Kopf zu stellen. Er hatte alles kaputt gemacht und behielt nur die Scherben ein paar glücklicher Tage.

»Ja, das hätten wir. Aber jetzt ist es zu spät. Willow will kein Wort mehr mit mir wechseln. Ich habe mehr als nur das mit den Anrufen verbockt. Viel schlimmer ist der Verrat, den sie fühlt, weil ich ihr diese Bilder verschwiegen und nicht mit ihr kommuniziert habe. Sie hat in ihrer Kindheit viel Missbrauch erfahren. Von jemandem belogen und betrogen zu werden, den sie in ihr Herz gelassen hat, ist das Schlimmste, was ich ihr hätte antun können. Es ist ihr gutes Recht, sich jetzt wieder auf sich selbst zu konzentrieren. Ihre Schutzmauern sind einfach nicht für etwas anderes erbaut worden.«

Wesley zuckte mit den Schultern. Seine Augen brannten.
Lila biss sich auf die Zunge. Das war der Moment, in dem sie entscheiden konnte, ob sie Wesley vertraute oder ob sie ihm weitere Vorwürfe machte. Aber wenn sie in sich ging und an die Tage zurückdachte, an denen sie Wesley und Willow im Zusammenspiel beobachtet hatte. Wie sehr konnten Willow, Heaver und sie selbst sich in ihm getäuscht haben? Und würde er es wirklich wagen, auch vor seiner Mutter nur eine Show abzuziehen? Wenn sie Wesley betrachtete, dann konnte sie spontan sagen, dass er am Boden zerstört war. Und sie sah Willow in genau derselben Lage. Vielleicht musste man es mit dem Glück doch noch einmal probieren.

Kelly und Sonja warfen sich zwei besorgte Blicke zu. So niedergeschlagen hatten sie Wesley noch nie erlebt.
Doch wovon sprach er bitte? Was hatte man dem armen Mädchen angetan?

»Genau damit liegst du falsch, Wesley Dillons«, unterbrach Lila das unangenehme Schweigen und kramte aus ihrer Handtasche die Papiere heraus, die sie in Willows Versteck im Wohnzimmer gefunden hatte.

»Der Großteil von Willows Schutzmauern kämpft noch immer mit Dämonen aus der Vergangenheit. Oder sollte ich eher sagen: Gegenwart

Mit verbissenem Blick überreichte Lila Wesley das Bündel an Briefen, das sich in den letzten Jahren bei Willow angestaut hatte.
Der Absender auf dem Briefumschlag war ohne Namen genannt, aber einige vergilbte Notizen mit "deine Mutter" unterzeichnet, was selbst verbal wie eine Ohrfeige erschien.

Wesley umfasste die Briefe mit angespannten Händedruck. Schon beim Lesen der ersten Papiere verkrampfte sich sein Herz und ein ohrenbetäubender Zorn baute sich in seinem Inneren auf.

Hallo Leo,
na hast du mich vermisst?
Nach all den Jahren?
Ich weiß, es ist lange her, aber ich bin sicher, du bist noch immer dasselbe kleine Mädchen wie damals.
Hilflos, allein, verloren.
So sahst du an dem Tag aus, als sie dich geholt haben. Als sie unser Haus gestürmt, deinen Vater auf den Boden geprügelt und mich sofort festgenommen haben.
Und du hast mir mit blankem Gesicht in die Augen gesehen, als sie mich von dir wegtrugen. In diesem Moment wusste ich, dass du mit mir abgeschlossen hattest. Dass du bereit warst, für etwas Neues. Dass du etwas Anderes wolltest.
Du undankbare Göre wolltest immer mehr, als wir dir geben konnten. Du war gierig, überstürzt und selbstorientiert und wir dir niemals genug. Deine eigenen Eltern. Aber du hast mit uns abgerechnet. Herzlichen Glückwunsch, du hast mir mein Leben weggenommen, mich niedergemacht und zerstört. Aber ab heute sehen wir uns wieder. Denn so naiv du auch geglaubt haben musst, die Geschichte hätte hiermit ihr Ende, so sehr irrst du dich. Nichts ist je vorbei, ehe ich das sage und dass du mit uns abgeschlossen hast, heißt noch lange nicht, dass es von meiner Seite auch so wäre. Ganz im Gegenteil, mein Mädchen. Ab heute schreiben wir eine neue Geschichte und ich kann dir vorwegnehmen, dass sie dir alles andere als gefallen wird. Aber was stört mich dein Wohlbefinden? Es hat mich nie sonderlich interessiert. So wie du dich nie für uns interessiert hast.
Du hast uns nie zugehört, hattest deinen eigenen Dickschädel. Aber heute erhoffe ich mir deine Aufmerksamkeit, denn sie ist wichtig. Hüte dich, Kind. Hüte dich gut. Denn ich betrachte dich aus dem Hinterhalt und irgendwann werde ich wieder vor dir stehen. Und dann sehen wir, wer wirklich zuletzt lacht.
Auf Bald, Leonora Willow Zekolo

Hallo Leo,
ich sehe gerade, dass du das Klingelschild deiner Wohnung geändert hast. Wie niedlich.
Soll ich nun auch anfangen, dich bei deinem zweiten Vornamen zu nennen? Willow? Willst du lieber so genannt werden? Und dann auch noch mit dem bescheuerten neuen Nachnahmen, den sie sich ausgedacht haben. Soll mir das irgendetwas sagen? Schämst du dich etwa für deine Herkunft? Deine Familie? Es sieht dir so ähnlich, dass du davonrennst und die Wahrheit verschweigst. Du bist immer so still und zurückgezogen gewesen. Hinterhältig, wenn man es recht betrachtet. Denn du hast dein eigenes Blut verraten. Damals. Und ich bin für dich in den Knast gewandert. Dass alles warst du. Ich hoffe du bist heute zufrieden und kannst mit Stolz betrachten, was du miese Schlange mir und uns allen angetan hast. Glaube ja nicht, ich hätte es vergessen. Gar den Tag, an dem du mir mein Leben zur Hölle hast werden lassen. Aber man sieht sich immer zweimal im Leben und ab heute ist es wieder so weit. Denn ich bin frei. Und ich kann sehen, wo du dich versteckt hältst.  Dich lächerlich verweichtes Wesen mit den hässlichen Sommersprossen und der ekelhaften Nostalgie für Pflanzen. Ich weiß gar nicht, von wem du diese ekelhaften Vorlieben geerbt hast.  Aber eigentlich interessiert es mich auch gar nicht. Denn du bist nie wirklich meine Tochter gewesen und hätte es für dich keinen besonderen Verwendungszweck gegeben, dann hätte ich eine Missgeburt wir dich nicht einmal auf diese Erde gelassen.  Nun gut. Jetzt bist du hier. Aber das lässt sich ja auch nachträglich noch ändern? Oder?
Fürchte meinen Namen!
Deine, dich über alles liebende, Mutter

Willow,
wie lebt es sich mit deiner neuen Gefährtin?
Fühlst du dich wohl mit dem weißen Ungetüm? Ich muss sagen, es passt zu dir, dass du dir so ein hässliches Haustier angeschafft hast. Es stinkt, es ist schmutzig und es passt nicht in dieses Leben. So in etwa könnte man dich selbst beschreiben. Du bist mindestens genauso ungeliebt, wie dieses nichtsnutzige Tier. Mögen euch die Ratten und Mäuse fressen. Oder lieber doch nicht. Denn ich habe noch viel mehr mit dir vor, als dir ein qualvolles Ende zu setzen.
Besonders jetzt in Zeiten wie diesen, in denen es mir schwerfällt, den Stift gerade zu halten, weil mich die Neuigkeit in so einen Zorn versetzt. Denn hast du es schon mitbekommen?
Dein Vater ist tot. Hast du mich gehört? Sie haben ihn vor sechs Tagen aufgehängt in seiner Zelle gefunden. Ich frage mich, ob du jetzt zufrieden bist. Denn dass er gestorben ist, ist ganz offensichtlich deine Schuld. Hättest du ihn nicht verraten und den Bullen ausgeliefert, wäre es niemals so weit gekommen und ich hätte ihn nicht gehen lassen müssen.
Ich hoffe wirklich, dass dir das Lächeln auf den Lippen zergeht, denn ab heute wirst du mich von einer Seite kennenlernen, die selbst mir Furcht einflößt. Ab heute werde ich dich jagen, Willow. Ich will dich am Boden und auf Knien flehen sehen, wie leid dir dein Verrat tut. Denn du hast mir das Kostbarste im Leben weggenommen und jetzt wirst du dafür büßen, du kleine Missgeburt.
Ich werde dich verfolgen. Ich will dich zerbrechen sehen, Willow. Ich will dich tot. Für deinen Vater, für diese Welt und besonders für mich. Nichts anderes hast du verdient ...

Wesley entfuhr ein knurrender Laut, der Lila für eine Millisekunde zusammenzucken ließ. Charles ballte die Hand zur Faust. Er hasste es, wie schreckhaft sie war. Auch nach all den Jahren hatte sich das nicht geändert. Das bedauerte er sehr.

»Woher hast du diese Briefe, Lila? Die sind teilweise schon zehn Jahre alt! Aber die neue Notiz erst ein paar Wochen! Hat Willow noch mehr davon bekommen?«

»Ich habe sie heute morgen gefunden. Sie sind hinter einem Backstein in Willows Wohnzimmer versteckt gewesen. Es sind alles Briefe ihrer Mutter und sie wiederholen sich seit ein paar Jahren. Sie kommen immer im
Oktober. Ich hatte keine Ahnung, dass sie von ihr bedroht wird. Ich weiß erst seit Anfang der Woche die ganze Geschichte. Aber nun ergibt alles einen Sinn. Weshalb sie nie über ihre Familie spricht, warum sie kein einziges Kinderfoto besitzt und auch weshalb sie vollkommen allein und ohne Rückbezüge nach Innerforks gezogen ist, um einen Neuanfang zu wagen.
Sie war immer allein und selbst, als die Hölle ein Ende finden sollte, tat sie es nicht.«

Wesley sackte in sich zusammen. Die Papiere in seinen Händen schienen zu glühen und er ließ sie fallen, als er Lila reden hörte.
Er war unendlich müde. Aber auch unendlich traurig und zerstört. Außerdem machte er sich Sorgen. Die letzte Notiz war vor circa drei Wochen versendet worden. Wieder handelte es sich dabei um eine Drohung und Wesley nahm sie sehr ernst. Willows Mutter schien eine unfassbar rücksichtslose Persönlichkeit zu sein und Wesley traute ihr alles zu. Die Notizen waren Drohungen über Jahre. Offensichtlich waren sie bis dato leer gewesen, doch wer wusste schon, wann der Geduldsfaden dieser Frau riss und sie Willow womöglich wirklich attackierte? Offensichtlich wusste sie, wo sich Willow aufhielt. Es konnte jeden Moment ...

Oh, Gott! Willow war vollkommen allein mit all diesen Dingen gewesen, hatte sich niemandem anvertraut – nicht einmal ihrer besten Freundin! Sie war vollkommen schutzlos und ausgeliefert.
Wesley wurde übel. Sehr, sehr übel. Jeder Moment, jeder vergangene Moment der letzten Monate mit Willow hätte ihr letzter gemeinsamer sein können ...
Er schloss gequält die Augen.

Willow war das Mädchen, wegen dem er begonnen hatte, seinen Traum zu leben. Sie war der Ursprung des Menschen, der er heute war.
Aller Erfolg, aller Ruhm, alles Aufsehen war auf einen Menschen gepfändet, der sein gesamtes Leben lang durch die Hölle gelaufen war, der ständig Todesangst hatte empfinden müssen!
Und es war wie Lila es sagte:
Mit diesen Briefen und Willows Geständnis klärte sich endlich, was in den letzten Monaten immer im Dunkeln gestanden hatte.
Es klärte sich, warum kein einziges Foto von ihren Eltern in ihrem Treppenhaus aufgehängt war. Einfach weil ihre Eltern Monster waren.
Es klärte sich, wen Willow an dem Morgen, als sie über Ängste gesprochen hatte, mit Schattenmensch betitelt hatte. Damit waren ebenfalls ihre Eltern gemeint und all jene, die durch Drogenkonsum und Alkoholmissbrauch nicht mehr sie selbst gewesen und sich an ihr vergriffen hatten. Schatten guter Seelen von Menschen.
Es klärte sich, warum Willow oftmals sehr unsicher und zurückhaltender war. Sie war so oft von Menschen hintergangen worden, dass sie Schwierigkeiten in Sachen Vertrauen hatte. Sie war viel zu oft vom Vertrauen hintergangen worden.
In ihrer Welt hatte es den Anschein, dass sie besser dran war, wenn sie auf sich selbst vertraute. Das hielt auch die Enttäuschung in Grenzen.
Aber Wesley war noch mehr klar, als das.
Ihm war jetzt klar, warum Willow Bücher und Gedichte für junge Menschen schrieb und in ihren Zeilen Hoffnung auf die Erfüllung aller Träume machte. Sie wollte sich darin selbst verwirklichen und Kindern und Erwachsenen Mut machen, die in ihrem Leben vielleicht Ähnliches erfahren hatten, wie sie.
Sie waren nicht allein, sie waren wertvoll und sie verdienten es, zu träumen. Das war, was Willow immer hatte sagen wollen.
Ebenso wie sie Wesley selbst immer hatte sagen wollen, dass er besser wertschätzen musste, was er besaß. Denn wie viel Glück und wie viel mehr Chancen er auf dieser Erde hatte als andere, dass war Willow viel eher und viel bewusster gewesen, als Wesley selbst.
Für ihn waren seine Eltern, Geld und Träume immer etwas Selbstverständliches gewesen.
Es war da gewesen. Es war realistisch gewesen. Hätte er nur gewusst, wie fern Willow selbst diese Dinge waren.
Er hätte sie von Anfang an in seinen Armen gehalten, hätte sie fester umarmt, ihr lauter gesagt, wie sehr er sie liebte und verehrte und brauchte.
Er würde alles anders machen, wenn sie ihm noch eine Chance dazu geben würde.

»Kann mich mal bitte einer aufklären, worum es hier geht? Von wem sind diese Briefe?«, meldete sich Charles zu Wort und erhielt einen scharfen Blick von Sonja und Lila. Abwehrend hob er die Arme.

»Hey! Ich will nur helfen. Mit diesem Trauerkloß ist es langsam nicht mehr auszuhalten!«, rechtfertigte er sich, deutete abwertend auf Wesley und trat dann näher ans Sofa, um sich die Papiere selbst einmal durchzulesen.
Während er das tat, setzte sich Kelly bedauerlich neben ihren Sohn und legte ihre Arme um seine Schultern.
Zum ersten Mal seit Jahren ließ Wesley diese Geste zu und erwiderte sie sogar.
Fest drückte er seine Mutter an sich. Für Willow. Für sich. Für Kelly. Weil man den Menschen, die einen liebten und die man selbst liebte, nicht oft genug sagen konnte, wie sehr man sie brauchte.
Und weil die Zeit knapper war, als man immer glaubte.

Lila senkte den Kopf. Der Moment zwischen Mutter und Sohn war intim und sie fühlte sich nach ihrem Auftritt sowieso ein wenig verkorkst.
Was Mrs. Dillons und Mrs. Anderson von ihr denken mochten, wollte sie gar nicht wissen. Vor allem vor letzterer schämte sie sich entsetzlich.
Dabei hatte sie gar keinen Grund dazu. Denn Sonja Anderson war eine mächtige und extrovertierte Frau und sie war neugierig geworden, um wen es sich bei der hübschen Blondine in der Wohnung ihres Sohnes handelte.
Dass dieser ganz von ihr angetan war, hatte sie auf den ersten Blick erkannt.
Charles verlor nämlich niemals seine Stimme. Aber dieses Mädchen hatte ihn aus den Socken gehauen und das ließ Sonja sogar ein wenig schmunzeln.
Sie wollte Charles bis auf den letzten Zentimeter über Lila ausfragen.

»Was für ein kranker Mist!«, hauchte Charles nach wenigen Minuten, in denen er sich die Briefe von Willows Mutter durchgelesen hatte.
Damit lenkte er die Konversation zurück auf ihren Fokus.

»Und noch dazu strafbar. Diese Frau verfolgt, stalkt und bedroht Willow ja mit Mord. Dafür kann sie geradewegs zurück in ihre Zelle wandern!«, brummte Charles angesäuert und sah in die Runde. Sonja und Kelly, die noch unwissend waren, zogen jetzt scharf die Luft ein und ließen sich die Papiere reichen. Beide kannten sie Willow noch nicht gut, Sonja nur vom Sehen und Hören auf dem Ball. Aber was sie heute für eine Geschichte erfuhren, weckte in ihnen alle Sinne.

Wesley nickte Charles zu. Ihm war die Rechtslage durchaus bewusst.
Er fragte sich bloß, warum noch nicht längst etwas geschehen war.
»Sag mir nicht, dass Willow damit nie zur Polizei gegangen ist. Ihre Mutter muss doch eines Wahnsinns leiden. Und basierend auf ihrer Vergangenheit wäre jeder Richter sofort auf Willows Seite. Darüber müsste sie sich keine Gedanken machen!«, sagte er zu Lila und schaute sie beinahe flehentlich an, obwohl er wusste, dass er enttäuscht würde.

Lila zuckte mit den Schultern.
Sie kannte sich im Rechtswesen nicht aus. Aber sie wusste, wie müde Willow davon war und es nicht über sich gebracht hatte, zur Polizei zu gehen. Sie strafte sich damit selbst.

»Es wäre dennoch ein ewiger Prozess, in dem ihr sonst was zustoßen könnte. Bis vor ein paar Wochen hatte sie niemanden an ihrer Seite und alleine scheint sie sich nicht getraut zu haben. Ich will euch Hornochsen mal sehen, wenn ihr euer Leben lang misshandelt und bedroht werdet. Als ob ihr euch wieder und wieder mit euren Dämonen anlegen würdet!Außerdem glaube ich, dass sie durchaus Mut gefasst hat, sich diesen Briefen endlich zu stellen. Warum sonst wollte sie dich so dringend erreichen, als du in New York warst, Wesley? Sie brauchte deine Hilfe!«, verteidigte Lila ihre Freundin und behauptete sich damit vor den Männern.
Sonja bewunderte sie immer mehr.

»Aber dann sind andere Dinge dazwischen gekommen. Dinge, die sich jetzt als fiese Täuschung entpuppen, wenn ihr mit euren Annahmen richtig liegen solltet.  Aber wahr oder nicht wahr, schuldig oder unschuldig, Arschlöcher oder bloß Dummköpfe. Ich will, dass ihr ihr helft! Ich bin in meinem Leben keiner Person begegnet, die mir so viel Glück und Freude bereitet hat, wie diese junge Frau. Sie verdient meine Hilfe, meine Unterstützung und meine kläglichen Versuche, ihr all das Gute, das sie mir gegeben hat, zurückzugeben.
Darum stehe ich hier und packe euch nötigenfalls am Kragen, wenn ihr nicht bald eure Hintern in die Hand nehmt und ein für alle mal diesen Terror stoppt!«

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