KAPITEL 34


Lila roch das Unheil bereits, als der kleine MINI Cooper mit quietschenden Reifen und viel zu früh zurück auf den Hof fuhr und mitten auf der Rasenfläche vor dem Haus, auf der Willow sich hütete, niemals auch nur versehentlich drüber zu fahren, parkte.
Weil der Tag sonnig und für Anfang November ausgesprochen windstill und trocken gewesen war, hatte sie sich dazu entschlossen, Willow zu entlasten und ihr ein wenig der Äpfel und Birnen abzuzwacken, die über Monate hinweg an den Obstbäumen in ihrem Garten gereift waren.
Als die Haustür auf und lautstark wieder zufiel und Heaver ein unzufriedenes Meckern von sich gab, weil man ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen und sie nicht hineingelassen hatte, stellte Lila die halbvollen Körbe mit dem frischen Obst auf der Rasenfläche ab und zog besorgt die Augenbrauen zusammen, ehe sie sich aufmachte, um Heaver ins Haus zu bugsieren und einen Blick auf Willow zu werfen.

Eigentlich war ihre Freundin heute morgen mit einem frohen Gemüt aufgebrochen.
Das Angebot der Washingtoner Library war ein Goldfang und erbrachte eine Menge Aufsehen, das Willow für ihre Bücher und auch als Repräsentantin ihres Verlages gut gebrauchen konnte.
Außerdem war es die Möglichkeit gewesen, um sich mit Wesley zu treffen, den sie länger nicht mehr gesprochen und unglaublich vermisst hatte.
Lila konnte spontan nichts finden, dass Willow die Laune dermaßen hätte vermiesen können, doch als sie Willow nirgends im Erdgeschoss sehen, dafür aber ein lautes Schluchzen aus dem Obergeschoss vernehmen und eine Heaver mit eingezogenem Kopf entdecken konnte, wusste sie, dass sie besser gleich mit einer Tasse Kakao und Süßigkeiten aller Art die Treppe hinaufgehen sollte.

Willow hatte sich so schnell das doofe Kleid vom Körper gerissen und sich unter ihrer Bettdecke versteckt, dass sie gar keinen Gedanken daran verschwenden konnte, wie unfair sie sich Heaver gegenüber verhielt, die sie auf der langen Autofahrt zurück mehr oder wenig zu Tode ignoriert hatte. Sie konnte sich nicht einmal um ihren Besuch kümmern.
Alles, was ihr Denken umkreiste, waren Wesley, ihre Auseinandersetzung, die Wut und die Tatsache, dass sie ihn vermutlich nie wieder sehen würde, was sie ungewollt tief traf.
Eigentlich hatte dieser Tag ganz anders aussehen sollen.
Nach ungemein vielen Selbstzweifeln und Gedanken über das Telefongespräch mit der fremden Frau war Willow zu dem lächerlich naiven Entschluss gekommen, Wesley zur Rede zu stellen und sich eine ganz logische Erklärung für dieses Missverständnis geben zu lassen.
Sie hatte ihm verzeihen wollen! Wie blöd musste man sein? So etwas zu denken und sogar jetzt, jetzt noch darauf zu hoffen, dass das alles nur ein böser Traum war, aus dem man sie aufwecken würde.
Willow vergrub ihren Kopf tief in ihrem Kopfkissen.
Fünf Sekunden später schmiss sie das Kissen quer durch den Raum und stöhnte frustriert auf, als sie den sanften Geruch darauf wahrnahm. Wesleys Geruch.
Der Geruch, den sie bis vor ein paar Tagen noch am meisten gemocht, als beruhigend und wärmend empfunden hatte. Vertraut.
Er war ihr so vertraut gewesen. Sogar heute noch, als er direkt vor ihr gestanden hatte.
Aber dann war er wütend geworden und sie war wütend geworden und zuletzt hatten sie sich beide angegiftet und angeschrien und Geheimnisse offenbart, die sie letztendlich getrennte Wege hatten gehen lassen.
Willow konnte den Schmerz, den sie empfand, nicht beschreiben.
In ihrem kurzen Leben war sie schon Millionen Male verletzt worden, doch kein Schmerz schien es mit dieser Trennung aufzunehmen, dem Verrat von dem Mann, dem sie ihr Herz geschenkt hatte. Sie war von ihren eigenen Eltern, jahrelang, bis aufs Letzte missbraucht und ausgenutzt worden, hatte in einem Zimmer im Keller mit schimmeligen Wänden und krabbelndem Ungeziefer gewohnt, stillgehalten, wenn ihr Vater sie verprügelt hatte, geschwiegen, wenn ihre Mutter sie in Grund und Boden beleidigte. Sie war das kleine und schmutzige Geheimnis ihrer Erzeuger gewesen. Hatte mit ihrem süßen Aussehen und einem aufgesetzten, glücklichen Lächeln jede Art des Verdachts von den Gesichten ihrer Nachbarn gewischt, sogar die Polizei von hinten bis vorne belogen, damit niemand hinter die dunklen und gefährlichen Mauern ihres Zuhauses hatte blicken können.
Ihr halbes Leben war ein Alptraum gewesen und sie hatte eine Unmenge durchgemacht. Trotzdem schien das alles in keinem würdigen Vergleich zu Wesley zu stehen.
Vielleicht, weil er zu Anfang das reinlich Gute verkörpert hatte.
Willows Eltern waren niemals eine Hoffnung wert gewesen.
Sie hatten sie nie zum Lachen gebracht, sie nie im Herzen getroffen oder sie beschützt.
Sie hatte keine Erwartungen an diese Menschen gestellt, hatte immer gewusst, an welcher Stelle sie für sie stand.
Wesley war ein einziger Kontrast dazu.
Er hatte Willow über dem Boden schweben lassen, hatte ihr den Himmel versprochen und ihr gesagt, dass er sie liebte.
Er war nicht von Anfang an der böse Wolf gewesen, so wie ihre Eltern. Nein. Er war das verkleidete Unheil gewesen. Deshalb tat ihr jetzt nicht nur das Herz weh, das er gebrochen hatte, als er entschied, zu schweigen und sie zu betrügen. Sondern ihr tat alles weh. Das Leben tat ihr weh und Willow wusste nicht, wie sie das ändern konnte.
Sie fühlte eine unendliche Hilflosigkeit.

Lilas leises Klopfen an der Schlafzimmertür nahm Willow gar nicht wahr. Sie war zu sehr auf ihre Tränen fokussiert, die ihr die Sicht raubten. So war es ihre Nase, die den warmen Kakao erkannte, das erste ihrer Sinnesorgane, das eine Veränderung der Einsamkeit wahrnahm. Schniefend richtete Willow sich auf, drehte sich herum und sah geradewegs in das wehleidige Gesicht ihrer Freundin, das sie womöglich noch emotionaler machte, als sie zuvor gewesen war.

Gott, wie schrecklich war doch das Mitleid anderer Menschen!
Wie ätzend!
Wie kräftezehrend!
Aber niemand konnte es abstellen, konnte seine Empfindungen verbergen. Vielleicht war das auch gar nichts Schlechtes.
Vielleicht verdiene ich das Mitleid eines Menschen, dachte Willow.
Vielleicht hatte sie es sich wirklich einmal verdient.
»Ich hab einen Suppentopf Kakao gekocht!«, flüsterte Lila, als Willow sich mit geröteten Augen aufrichtete.
Sie musste aussehen, wie eine betrunkene Heuschrecke, aber dass Lila von ihrem Anblick erschrocken war, ließ sich ihre liebe Freundin nicht anmerken. Sie setzte sich bloß an die Bettkante und reichte Willow ihre Tasse.
»Danke«, wimmerte Willow.
»Außerdem habe ich noch Waffelteig, den ich holen könnte, und genau die richtige Bratpfanne gefunden, um deinem Peiniger den Schädel um die Ohren zu hauen. Sag nur Bescheid und ich löse das Problem für dich«, erklärte Lila entschlossen und entlockte Willow einen Ton, der Lachen, Weinen oder Schluckauf in einem sein konnte.
Lila lächelte zaghaft.
Es tat ihr weh, wenn Willow unglücklich war. Die Tränen standen ihrer Freundin ganz und gar nicht. Aber für all die Stärke, die sie sonst immer bewies, durfte sie jetzt auch mal einen Moment der Schwäche haben.
Außerdem gehörte Liebeskummer zum Leben wohl dazu und wie schrecklich verloren man sich dabei fühlte, wusste Lila nur allzu gut.
Doch man kam auch mit diesem Schmerz klar. Selbst wenn er niemals verging und selbst, wenn man allein für ihn verantwortlich war.
Sie war damals abgehauen.
Sie hatte beschlossen, zu gehen, denn sie hatte Entscheidungen für ihr Leben getroffen, die auch mit dem Leben anderer zusammenhingen. Manchmal musste man das. An sich und sein eigenes Wohl denken.
Genau das schien auch Willow getan zu haben. Sie hatte eine Entscheidung getroffen.
Doch Lila war sich nicht sicher, ob es die richtige gewesen war.
Auch ihre eigene Wahl hinterfragte sie bis heute. Seit sie Charles' wiedergesehen hatte, sogar noch mehr.
Doch an diesem Abend sollte es nicht um sie gehen.
Es ging um Willow.
Und ganz allein um sie, als sie sich schniefend in Lilas Arme schmiss und irgendwann – nach endlosen Stunden, des stummen Beisammenseins – von einem kleinen Mädchen zu reden anfing, über das sie seit Jahren, und niemals zuvor in Lilas Nähe, ein Wort verloren hatte ...

xxxx

Für Charles gab es genau zwei Indikatoren darauf, dass die Welt kurz vor ihrem Untergang stand – oder womöglich schon längst untergegangen war.

Erstens hämmerte es mitten in der Nacht so aggressiv an seiner Wohnungstür, das es nicht verwerflich war, daran zu denken, dass sie bei jedem nächsten Schlag durchbrochen werden könnte.
Zweitens stand Wesley Dillons höchst persönlich, aber taumelnd und mit gesenktem Kopf, vor seiner Haustür. Sein Besuch allein war ein Indiz für sich, denn eigentlich fand Wes sich nur selten und ungern in dem etwas weiter vom Stadtkern entfernten Teil D.Cs wieder.
Sein Auftritt musste also einen besonderen Grund haben und Charles wusste, dass dieser ihm ganz und gar nicht gefallen würde.
Wesley schoss sich nämlich niemals einfach so ab und trug seine Fahne durch die Stadt, als wäre er einer der Junkies, die in irgendwelchen Gassen ihren Stoff zogen.
Wesley Dillons war ein feiner Kerl. Er war vornehm und elegant und hatte stets eine gut sitzende Frisur. Er war der vorzeige Ehemann, den sich jede Mutter für ihre Tochter wünschte.
Aber heute glich er einem Schatten von diesem Mann, der sich in den letzten Tagen für das Mädchen abgerackert hatte, an das er sein armseliges Herz verloren hatte.

Okay, ein mordsmäßiger Schatten von diesem Mann, wie Charles zu beurteilen wusste, als er seinen Freund in die Wohnung taumeln ließ und dieser es nur sehr, sehr mühselig schaffte, kopfüber auf das Sofa im Wohnzimmer zu purzeln ohne sich dabei den Schädel am Wohnzimmertisch einzuschlagen. Reglos blieb er auf der Stoffcouch liegen.
Die Schnürsenkel seiner Schuhe ungebunden, das Hemd vollkommen zerknittert und die sonst immer so herausragend gebundene Krawatte auf seinen Rücken gedreht.
Er sah ... grauenhaft und apokalyptisch aus. So grauenhaft und apokalyptisch, dass es Charles eine Gänsehaut verschaffte und das sollte schon etwas bedeuten.
»Scheiße, Wes«, fluchte er, »Was ist passiert? Du riechst, als hättest du in einem Fass voller Schnaps gebadet und dich mit Wodka eingeseift! Solltest du jetzt nicht glorreichen Sex mit deinem Mädchen haben?«
Einen endlosen Moment schien es, als würde Charles mit sich selbst reden.
Wesleys Gesicht war in der Couch vergraben und sein Körper lag leblos herum.
Es brauchte seine Zeit bis er sich in soweit bewegte, um die verständlichen Worte: »Sie hat mit mir Schluss gemacht!« über die Lippen brachte.

Charles glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.
Willow und Wesley hatten was?Schluss gemacht?
Das konnte nicht sein.
Das war unmöglich!
Er hatte die beiden Turteltauben gesehen. Hatte Wesley gesehen und bei Gott, niemand kannte Wesley Dillons' Gesicht besser, wenn er restlos und wunschlos glücklich war. In Willows Nähe war er genau das gewesen. Unglaublich glücklich.
Das konnte nicht vorbei sein.
»Willst du mich verarschen? Wieso sollte sie das tun? Ihr beide seid Hals über Kopf ineinander verknallt! Ihr seid quasi das ekelhaft perfekte Beispiel für Ying und Yang. Warum solltet ihr das wegwerfen? Wieso sollte sie das tun?«
Charles war geschockt.
Er war schockiert.
Noch nie war er so schockiert gewesen – bis auf das eine Mal eventuell, als er allein in seinem Apartment aufgewacht war und nie wieder ein Wort von der Frau gehört hatte, die ihm in genau zwei Wochen das Herz und seine Seele gestohlen hatte.

»Weil ich ein verdammter Vollidiot bin. Weil ich alles verbockt habe, was ich hätte verbocken können.«
Ein Laut des maßlosen Frusts fuhr über Wesleys Lippen und aus lauter Wut hatte er die Kraft, um sich ein wenig aufzurichten und seinen besten Freunden aus müden und tatsächlich verweinten Augen anzustarren.
Er fühlte sich erbärmlich. Unglaublich erbärmlich, als er Charles, so schick und souverän wie immer, ansah. Den Mann, den er seit Ewigkeiten kannte und der niemals einen schwachen Tag zu haben schien. Wie auch immer er das schaffte, aber er behielt immer irgendwie seine Fassung. Charles war der Inbegriff von Stärke. Das machte ihn bewundernswert und ätzend zugleich.
»Sie weiß es«, hauchte Wesley und hielt sich die Hand vor den Mund, als ihm tatsächlich die Galle aufzusteigen schien.
Der Gedanke allein, an die Situation von vor Stunden, drehte ihm den Magen um.
Alles, was sie ihm offenbart hatte. Jede Wunde, jede Narbe und jeden Tropfen Blut.
All der Schmerz, ihre Tränen, ihre Worte.
Er war noch nie so zerstört worden.
War noch nie so tief durchbohrt und von etwas konfrontiert worden.
Er war zerfressen, wie ein Lumpen, besessen von Motten.
Durch und durch zerfressen.
»Sie weiß alles von mir. Und ... und ich weiß alles von ihr«, keuchte er und starrte apathisch auf einen Punkt in der Ferne.
Wahrlich ... jetzt wusste er alles von ihr. Er hasste sich mehr, als jemals zuvor. Willow hatte ihm nicht mehr in die Augen blicken können. Wesley wusste, sie würde ihm den absoluten Missbrauch ihres Vertrauens niemals verzeihen.
Und er konnte sich ihre Qualen, ihre Schmerzen, ihre aufgerissenen Pupillen nicht verzeihen.
Deshalb standen sie jetzt hier. Sie war zurück in ihre Welt geflohen.
Und er war wieder in seiner gefangen.
Jeden Schritt auf der Treppe zu einer gemeinsamen Zukunft hatten sie heute wieder zurückgenommen, um sich dann am Treppenansatz voneinander zu verabschieden.
Weil sie vielleicht das waren, was sie wollten.
Aber sie waren nicht das, was sie brauchten.
Weil sie vielleicht eine Zeit lang in Illusionen hatten träumen können.
Aber sie waren nicht für die Realität geschaffen.
Waren es womöglich nie gewesen ...

»Fuck!«, fluchte Charles und sah in Millisekunden sein eigenes Leben an sich vorbeiziehen.
Wenn Willow es weiß, dann weiß Lilian es auch, seufzte er und schmiss sich, nun ebenfalls frustriert, neben Wesley auf die Couch.
Er fühlte sich grauenhaft.
Denn es war seine Schuld gewesen, dass Willow nicht früher über die Fotos Bescheid gewusst hatte.
Hätte es ihn nicht gegeben und wäre da nicht diese absolut dumme Entschlossenheit gewesen, Lilian etwas zu beweisen, von dem sie niemals hätte erfahren sollen, dann wäre zumindest Wesley noch mit seinem Mädchen glücklich.

Dann hätte wenigstens er die Frau behalten können, für die es sich tausende Male lohnte, eine Kugel einzufangen.
Die Frau behalten können, die diesem Leben einen Sinn gab.

»Das ist alles meine Schuld. Es tut mir so leid, Wes. Ich ... was kann ich tun, um sie zurückzuholen?«

»Nichts. Denn sie sollte nicht zurückkommen. Ich bin nicht, was sie braucht. Das zu wissen tut verdammt weh, aber es tut weniger weh, als der Gedanke, dass ich sie nicht rundum glücklich machen kann. Sie hat etwas Besseres verdient.«

Charles schloss die Augen.
Er fühlte das Déjà-vu durch seine Venen hasten, seine Blutbahnen vergiften und sich schmerzhaft um sein Herz zusammenziehen.
Genau diese Phrasen redete er sich schon ein halbes Jahrzehnt ein, wenn er den Tiefpunkt seiner Laune erreichte.
Jedes Mal, wenn er kurz davor war, zusammenzubrechen, besann er sich darauf.

Darauf, dass sie glücklicher war, wenn er sie nur aus der Ferne liebte.

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