KAPITEL 33


»Bitte. Bitte entschuldigen Sie mich. Ich ... ich kann das hier nicht«, stotterte Willow, plötzlich verschreckt von der Zivilisation, den bohrenden Blicken und aller Welt, die sie bemitleidete oder auslöcherte. Unter ihnen ein Augenpaar, dem Willow am wenigsten von allen Stand halten konnte. Ironisch, dass es bis vor ein paar Tagen noch genau dasjenige gewesen war, in dessen Blickfeld sie sich wohler und geschätzter denn je gefühlt hatte.
So schnell drehte sich der Wind ...

In rascher Eile sammelte Willow ihren bodenlangen Rock auf und schob sich von dem Podium.
Urplötzlich standen ihr die Tränen in den Augen und der heftige Drang überfiel sie, sich so wie vor ein paar Tagen heftig in den Handrücken zu beißen. Es war eine wirklich schlechte Angewohnheit, beinahe ekelhaft, und sie hasste sich für den Rückschlag. Doch sie konnte nicht anders. Es brach alles nieder.
Es war alles kaputt.
Wie hatte sie so weit kommen können? Sich so weit aus dem Fenster lehnen können, um jetzt eine Art Abhängigkeit von Wesley zu verspüren?
Sie hatte sich geschworen, nie wieder so tief vom Verhalten eines anderen verletzt zu werden. Einfach, um damit klarzukommen, wenn bedeutungsvolle Menschen ihr Leben verließen.
Sie hatte sich nie wieder mit Herz und Seele auf einen anderen einlassen wollen, weil das Leben praktisch nur aus Enttäuschungen bestand und Glück nur eine Projektion dessen war, was Menschen besser als etwas anderes empfanden.
Glück war spontan und relativ. Immer von etwas abhängig. Aber Willow hatte es nie wieder von etwas abhängig machen wollen.
Es nicht relativieren wollen.
Glück sollte eine praktische Existenz in ihrem Alltag einnehmen.
Jetzt war sie abermals so tief gesunken, dass sie sich fühlte, als könne sie ohne Wesley und sein Dasein nicht wieder lächeln.

Stürmisch verließ sie über den Seiteneingang den Saal und hinterließ eine Welle aus Raunen und Tuschelei.
Willow wollte allein sein.
Sie musste alleine sein. Anderenfalls glaubte sie, vor lauter Tränen und innerer Unruhe nicht mehr Atmen zu können. Schon jetzt fiel es ihr schwer und noch hielt sie sich wacker auf den Beinen.

»Willow!«

Nein.

Das erneute Zuschlagen der Tür hinter sich, ließ Willow erschrocken zusammenzucken und schneller davon laufen.
Wie hatte sie nur so dumm sein können?
Sogar so dumm, dass sie geglaubt hatte, für das Telefonat mit dieser Frau gäbe es eine logische Erklärung, die wenig schmerzhaft war. Sie hatte ihn anhören, ihm verzeihen, ihn küssen wollen.
Mit der Naivität eines Kindes.
Willow ekelte sich vor sich selbst.

»Willow! Warte bitte!«

Sie umarmte sich selbst.
Sie hatte ihm vertraut.
Bei Gott, wie hatte sie ihm so tief vertrauen können?
Sie kannte ihn doch gar nicht! Gar nicht lange!
Gar nicht lange genug!
Trotzdem hatte sie ihn so weit in ihr Leben gelassen, dass er beinahe in jedem Winkel etwas verloren hatte.
Sogar ihre Bücher, ihre Verarbeitung mit der verdammten Realität und damit das Allheilmittel, mit dem es ihr gelang, mit sich selbst und ihrem Leben klarzukommen und nicht in Depressionen, Selbstmordgedanken oder Rauschkonsum zu fallen, sogar das hatte er ihr irgendwie genommen.
Scheiße! Sie wusste nicht mehr, wohin mit sich.
Die Wände kamen immer näher.
Sie hatte keinen Platz.
Sie hatte keinen Platz.
Sie hatte keinen ...
Eine vertraute Hand umfasste ihren nackten Oberarm und stoppten sie, beim Laufen.
Abermals zuckte sie zusammen.
Die Geste war ihr so vertraut. Eine Millionen Mal hatten diese Finger ihre Haut an derselben Stelle liebkost und sie hatte es genossen.
Jetzt fühlte es sich an, wie ein derber Elektroschlag.
Als würde diese Berührung allein, sie umbringen.

»Bitte halt an!«
Seine Stimme war leise.
Gesenkt.
Nah.
Sie hasste sich dafür, dass sie ihr noch immer eine Gänsehaut bescherte. Dass er noch immer eine unermessliche Wirkung auf sie hatte.

Verdammter Mistkerl.

»Fass mich nicht an!«, zischte Willow aus zusammengepressten Zähnen. Bemüht beherrscht.

»Nur wenn du mir versprichst, nicht wegzulaufen und mir zuzuhören.«

Willow rümpfte verächtlich mit der Nase und versuchte, seine Finger abzuschütteln. Doch er hielt sie fest.

»Du glaubst also ernsthaft, du könntest noch irgendwelche Bedingungen stellen? Findest du nicht, ich habe allen Grund, vor dir wegzulaufen?«, zischte sie und ließ mit dem Hass in ihrer Stimme auch Wesley zusammenzucken.
So hatte sie noch nie mit ihm gesprochen.

»Nein, den hast du nicht, solange du nicht die ganze Wahrheit kennst!«
Er sprach zu ihrem Rücken.
Willow weigerte sich, ihn anzusehen.
Eine tückische Stimme bekam Angst, sie könne schwach werden, wenn sie ihn ansähe.
Das wollte sie unter keinen Umständen.

»Und du willst mich damit bekannt machen? Meinst du nicht, dass es dafür ein wenig zu spät ist? Ein wenig zu spät, um mir zu sagen, dass sich ganz Amerika seit Wochen das Maul über mich zerreißt und darüber spekuliert, ob die Nacktbilder im Internet darauf schließen, dass ich deine Freundin bin oder deine gottverdammte Hure? Meinst du diese Wahrheit, Wesley?«
Willows Stimme hob sich brennend. Sie war wie ein Lauffeuer, das sich durch Wesleys Nervenbahnen biss und ihn am Schluss heftig zurückstieß. Angeekelt von sich selbst, ließ er sie los.
Willow atmete aus. Doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Sie wartete, ohne zu wissen, worauf.

»Ich wollte es dir sagen. Wirklich. Sofort. Aber Charlie hat mich angefleht es bleiben zu lassen, sogar mein Telefon im Büro kaputt gemacht und ...«

»Und du tust seit Neuestem alles, was Charlie dir sagt? Mal ernsthaft, Wesley, das ist eine lächerliche Begründung, um mir so etwas zu verschweigen!«

Willow war geladen. Impulsiv. Wütend.
Wesley konnte es mit jeder Faser seines Körpers spüren, dass sie alles, was sie hörte, gegen ihn stellte.
Eine unfassbar hohe Mauer hatte sich zwischen ihnen errichtet und er wusste, dass er zum größten Teil für ihre Existenz und Unüberwindbarkeit verantwortlich war.

»Ich weiß. Es tut mir leid. Ich kann mir selbst nicht verzeihen, dass ich nichts gesagt habe. Aber ich kann mir auch nicht verzeihen, dass es jemals zu diesen Fotos gekommen ist. Ich weiß, du wolltest nie in dieses Rampenlicht. Und ich wollte nicht, dass sie sich über dich das Maul zerreißen. Dann war dort plötzlich dieser Artikel, der dich in so ein schlechtes Licht gestellt hat.
Glaubst du, es hat mich nicht beschäftigt? Ich habe alles versucht, um zu verhindern, dass diese Fotos Publik machen. Habe Anzeigen erstattet, bin sofort rechtlich gegen die Journalisten vorgegangen. Ich habe die letzten Tage nichts anderes gemacht, als Schäden zu begrenzen, deshalb bin ich sogar nach New York geflogen ...!«

Willow drehte sich plötzlich doch um. Wesleys Augen vergrößerten sich, als er ihre nahezu schwarzen Augen der Abscheu erblickte.

»Dann hast du deswegen also auch gelogen? Diesen Mandanten dort, den gab es gar nicht! Die Reise diente keinem Kunden, sondern deinem Ruf, stimmt's? Du wolltest Schäden innerhalb deiner Kanzlei begrenzen, um deine Mandanten und dein Gesicht und deinen Ruhm nicht zu verlieren! Habe ich recht? Hierbei ging es nicht um mich. Nicht um meinen Schutz. Es ging ganz allein um dich selbst!«

Ihre Stimme schoss mitten durch sein Herz.
Einige Sekunden herrschte Stille.

»Das stimmt nicht! Es gab dort auch diesen Mandanten. Und es ging mir immer um dich. Alles in meinem Leben, dreht sich um dich, Willow! Du bist nicht fair!«

Sie schnaubte verächtlich.
Nickte ironisch.
»Stimmt. Aber seit wann verstehst du schon etwas von Fairness, Wesley? Meinst du nicht, du hättest mit mir über diesen Artikel sprechen müssen? Findest du nicht, ich hätte selbst entscheiden sollen, inwieweit du für mich Partei ergreifst? Ich bin kein kleines Kind mehr, das du bevormunden musst! Ich bin eine erwachsene Frau. Und weißt du was? Ich bin nicht dämlich! Ich verstehe schon, was die Frau an deinem Handy mir sagen wollte. Ich habe alles verstanden, als du begonnen hast, mich zu ignorieren. Heute hat sich das Puzzle aus deinen Lügen bloß vervollständigt.«

Aus dem Netz aus Verständnis für ihren Zorn, baute sich plötzliche Verwirrung.
Welche Frau?
Von welcher Frau an seinem Handy, sprach sie?
Und wer hatte hier bitte, wen ignoriert?
»Was für ein Puzzle aus Lügen? Und von wem, zum Teufel, sprichst du bitte?«, fragte Wesley. »Ich habe keine Frau an mein Telefon gehen lassen! Überhaupt, ich habe dich jeden Tag gleich mehrmals angerufen. Ich wollte immer mit dir reden, aber du hast nie abgenommen!«

»Jetzt willst du den Spieß also wieder umdrehen und dich herausreden? Willst du mich verarschen, Wesley? Ich weiß, dass ich mit einer Frau telefoniert habe, die offensichtlich an dein Handy gegangen ist und mir mehr als verständlich klar gemacht hat, dass du nicht mit mir reden willst und ich dich in Ruhe lassen soll. Wer war das? Vielleicht eine weitere geheime Freundin über die du nicht öffentlich aussagen willst? Ich meine, weshalb sonst, verschweigst du ständig irgendwelche Dinge und ruhst dich auf deinem Status aus? Du bist ein heuchlerischer Lügner!«

Nun wurde Willow wirklich laut. Aber auch Wesley packte jetzt ein Schwall an Wut. Glaubte sie ernsthaft, er habe eine Affäre?
Hatte sich ihr kleiner Kopf diese Art von Wahrheit zusammengereimt, damit sie gerechtfertigt an ihm zweifeln konnte?
Ganz ehrlich, wer führte denn hier ein fadenscheiniges Leben?
Und was wusste er schon, was sie ihm alles verschwieg!

»Du nennst mich einen Lügner? Bezeichnest mich als jemanden, der ständig Tatsachen verdreht und Geheimnisse hat? Ganz ehrlich, was bist du dann? Du, die nie ein Wort  über sich selbst Preis gibt! Die keine einzige Silbe über ihre Vergangenheit, ihre Familie oder ihre Herkunft verliert! Nein! Stattdessen rennst du bloß ständig von deinen Problemen davon und kommst mir mit fadenscheinigen Erklärungen daher! Du gehst mit der Wahrheit mindestens genauso schludrig um, wie ich!«, warf Wesley Willow an den Kopf und feuerte damit genau das ab, von dem Willow innigst gehofft hatte, er würde es niemals gegen sie verwenden.
Doch mit einem Mal schien ihr der Mann, den sie geglaubt hatte, zu lieben, vollkommen fremd.
Er war genau die Person, die in diese tiefe Wunde hineingriff und sie wieder aufriss.
Doch komischerweise fühlte sich die Vergangenheit, gemischt mit aufgeladener Wut, gar nicht mehr so wortlos an. Im Gegenteil. Plötzlich schien es Willow an keinen Worten mehr zu fehlen. Sie war es leid. So leid.

»Es stört dich also, dass ich ungern über alte Narben spreche? Du willst die Wahrheit wissen?«, fragte sie laut und sah Wesley kaltblütig in die Augen, als würde er sich damit höchstpersönlich den letzten Todesschlag verpassen. Doch er nickte. Er nickte selbstbewusst.
Ungeahnt dessen, was er hören sollte.

»Fein. Dann spann die Lauscher auf. Und sag mir, ob du dich noch an die Geschichte des armen, kleinen Mädchens aus CDA erinnerst, das dich angeblich dazu inspiriert hat, Anwalt zu werden. Erinnerst du dich? Minderjährig, im Hause ihrer Eltern eingesperrt, von Kunden sexuell belästigt, von den drogensüchtigen Eltern verprügelt und ausgenutzt? Klingelt es? Ja? Schön! Denn das bin ich gewesen.
Ich war dieses Mädchen bei CNN, das der ganzen Erde urplötzlich so leid getan hat. Für deren Wohlergehen die ganze Welt betete und sich angeblich sorgte! Aber soll ich dir mal was sagen? Diese Welt ist ein Schandfleck besiedelt von Lügnern und Betrügern, Ehebrechern, Egoisten, Terroristen, Verbrechern, Hassern und Heuchlern. Und soll ich dir noch etwas sagen? Auf dieser Welt ist niemand ernsthaft am Schutz und dem Wohlergehen eines anderen interessiert! In erster Linie denkt ein jeder Mensch an sich, kümmert sich um sich selbst, um seine eigene Familie. Und die, die niemanden mehr haben? Die, die niemanden haben, der sich um sie kümmert? Das sind Systemfehler, Wesley! Die werden aussortiert, weggesperrt, herumgeschoben, ausgenutzt. Kleine, hilflose Kinder, deren Eltern ihre Verantwortung nicht tragen konnten, die stecken sie irgendwo ins Heim und lassen sie dort verrotten, während nebenher das schöne Leben für alle anderen weitergeht. Habe ich nicht recht?
Hast du nicht ein wundervolles Leben bis hierhin geführt? Mit liebevollen Eltern, Freunden, die für dich ins Feuer springen würden und einem Job, der dich zum König für Recht und Ordnung macht?
Hast du dir jemals Angst, um finanziellen Notstand, um Hunger, um Gewalt oder sexuellen Missbrauch, gar Einsamkeit gemacht? Oder hast du dir jemals die Mühe gemacht, dich in die Lage derer hineinzuversetzen, die tagtäglich mit diesem Mist zu kämpfen haben?
Das kleine Mädchen, das dir angeblich das Herz gerührt hat? Hm? Was hast du für dieses Kind getan? Was hast du für Millionen Kinder getan? Hat dich das Leid eines anderen jemals zur Sanktion deines eigenen Wohlstands und Glücks gebracht? Haben dich siebenjährige Kinder aus dem Kongo, die täglich mehr als acht Stunden in irgendwelchen Minen arbeiten, davon abgehalten, dir ein schickes neues Handy oder ein teures Auto zu kaufen? Haben dich Jäger auf Kühe, Pferde und Büffel aufgehalten, dir deine Lederstiefel für zweitausend Dollar zu kaufen? Hm? Hat dich das kleine Mädchen, dessen Eltern sich einen Dreck um sie geschert haben und ihr auch nach der Zeit im Gefängnis nachgejagt haben, um sie ihre bloße Existenz jeden Tag aufs Neue bereuen zu lassen, sensibilisiert und dir deutlich gemacht, dass es vielleicht Menschen gibt, die Dinge aus bestimmten Gründen verschweigen? Weil sie Angst vor der Wahrheit und vor der Vergangenheit haben, die leider immer noch ihre Realität ist. Weil sie noch immer nicht verarbeiten konnten, was für einer Dunkelheit sie in Kindertagen begegnen mussten. Weil sie vielleicht Angst vor sich selbst haben und davor, jemand unschuldigen auch in dieses Loch zu ziehen, das ihnen jeden Tag größer und gefährlicher erscheint. Hast du irgendwas gelernt, Wesley? Vielleicht erkannt, dass du nicht der Mittelpunkt der Erde bist und es Menschen mit so harten Vergangenheiten gibt, dass es für sie einfach mehr braucht, als ein paar Monate Floskeln schieben, um ihre Lebensgeschichte zu offenbaren und sich auf andere Menschen einzulassen? Hast du dir jemals ernsthaft Gedanken, um meine Handlungsweisen gemacht? Ich meine, es ist nicht typisch, dass man ständig davon läuft oder Gesprächsthemen rund um seine Familie vermeidet. Vielleicht ist es sogar feige, aber war das alles, an das du denken konntest? Hast du dir nie mehr Gedanken darüber gemacht, als das Offensichtlichste? Denkst du, ich war glücklich, als ich mich heulend für meine Flucht bei dir entschuldigt habe?
Denn nein, das war ich nicht! Ich war überfordert! Weil mir deine Welt einfach nur fremd vorkommt und weil ich nicht so schnell mit Veränderungen klarkomme, wie du vielleicht. Ich bin ein komplizierter Mensch. Das weiß ich selbst. Aber ich gebe mir Mühe, das zu ändern. Ich arbeite und kämpfe mit mir selbst und ich bin froh um den Menschen, der ich trotz aller Umstände werden durfte.
Ich hätte abrutschen können, ich hätte sterben können, ich hätte krank werden können.
Aber ich bin hier und ich dachte, ich wäre es mit dir.
Aber jetzt stelle ich fest, dass das alles nicht wahr ist.
Plötzlich sehe ich wieder einen dieser Schattenmenschen vor mir stehen, die mich in meinem eigenen Leben an der Nase herumführen wollen und mir weismachen, ich sei nicht genug und bloß eine Schachfigur, die sie nach ihrem Belieben hin und her schieben können. Aber das bin ich nicht mehr! Ich bin nicht mehr das kleine, dumme Kind, das sie ins Waisenhaus stecken, es dort bis auf die letzte Träne ausheulen lassen und irgendwann wieder hinauswerfen. Ich habe mich allein in dieses Leben gekämpft und ich trage eine unermessliche Würde, die weder meine Eltern, noch der Staat, noch du mir nehmen können.
Es war ein steiniger Weg und es hat lange gedauert. Aber heute stehe ich auf festen zwei Beinen und kann mich selbst lieben, wo niemand zuvor es jemals getan hat.
Ich liebe mein eigenes Herz.
Es tut bloß weh, dass ich deines auch lieben konnte, obwohl es mich so hintergangen hat.«
Willow schluckte den bitteren Geschmack auf ihrer Zunge hinunter.
Wesleys Mund war staubtrocken, seine Stimme vergangen, sein Körper einige Schritte zurückgetaumelt.
Es war plötzlich, als sähe er sich selbst von seinem eigenen Körper getrennt. Als wären sein physisches Dasein und sein dummer, dummer Kopf einander nicht mehr zugehörig und der Fehler, Willow in eine solche Enge zu drängen und sie dort hilflos liegen zu lassen, nur der Fehler von einem von beiden.
Wesley hatte sich noch nie so miserabel gefühlt.
War noch nie so hasserfüllt, angeekelt und todeswütend auf sich selbst gewesen.
Was hatte er nur getan?
Willow weinte. Weinte sich urplötzlich die Überlastung von Schmerz, Betrug, Vertrauensbruch und ewigem Pein von der Seele, von der Haut, vom Herzen und von den Augen und Wesley hatte nichts Besseres zu tun, als dafür verantwortlich zu sein.
Er hatte sie beschützen wollen.
Sie lieben und ehren wollen. Das alles war echt gewesen. Noch nie war etwas in seinem Leben so echt gewesen! Aber er hatte sie übersehen. Er hatte sie komplett ignoriert, ihr Wesen viel zu oberflächlich umgarnt.
Willow war komplex, deshalb mochte er sie so sehr. Doch jetzt hatte er es mit seinem vorlauten Mundwerk zu weit getrieben.
Er hatte alles falsch gemacht, was er hätte falsch machen können und diesen Preis, den bezahlte er jetzt.

»Sie haben mich immer belogen. Alle. Weißt du? Die ganze Welt.
Ich bin immer ungenügend gewesen. Das kleine Mädchen mit dem großen Herzen voller Hoffnung. Nutzt es ruhig aus, sie kann sich nicht wehren! Das stimmt. Ich habe das nie gelernt. Ich werde immer leicht zu beeinflussen sein, weil ich schnell zu begeistern und zu faszinieren bin.
Für mich ist diese Welt ein noch viel zu unbekannter Ort.
Ich kenne nichts von ihr. Keine anderen Sprachen, keine anderen Länder oder Kulturen. Sieh mich an. Nicht einmal Weihnachten habe ich je gefeiert. Mit wem auch? Und weshalb? Ich bin neugierig und unerfahren. Ich weiß manchmal nicht, was richtig und was falsch ist und ich zweifle oft an mir selbst, weil ich keine Ahnung habe, was ich sonst tun soll und weil ich es einfach nicht abstellen kann.
Ich habe gelernt, mit mir selbst umzugehen. Denn es ist nicht einfach mit mir.
Aber ich weiß, dass Menschen, die es mit mir ernst meinen, sich Mühe geben. Und ich weiß, dass ich Menschen gehen lassen muss. Niemand bleibt bei mir für immer.
Diesen Punkt zu realisieren, ist mir immer am schwersten gefallen. Den Punkt der Unterscheidung, zwischen dem, was ich will und dem was ich brauche.«

Sie machte eine Pause.
Und Wesley ahnte es nicht, er wusste es. Er wusste es ganz genau und er konnte es nicht aufhalten
Es war der Todesstoß, den sie angekündigt hatte.
Und er traf ihn heftiger, als jemals etwas zuvor.

»Ich will dich Wesley. Jede Erinnerung der vergangenen Wochen mit dir lässt mein Herz wild schlagen und mich in den verträumten Moment wünschen, in dem du und ich wunschlos glücklich miteinander waren. Aber sind wir ehrlich miteinander, abgesehen von all dem, was seit heute zwischen uns steht: Dein Leben war schon immer hier. In der großen Stadt, mit den großen Menschen, den großen Möglichkeiten und dem Ruhm. Du bist eingebunden in deinen Job und fest verankert in die Kultur und deine Familie hier. Du trägst viel Verantwortung.
Und ich bin Meilen von dir entfernt. In einem kleinen Ort, mit kleinen Menschen und kleinen Häusern.
Unsere Beziehung ist eine Sackgasse. Und das immer, wenn wir sie uns auf längere Dauer denken. Wie soll das alles funktionieren? Sind wir immer nur über das Telefon und ein, zwei Wochenenden im Jahr füreinander verfügbar? Glaubst du wirklich, dass könnte funktionieren?
Ich glaube es nicht. Und ich will es nicht. Ich bin für Distanz einfach nicht geschaffen. Ebensowenig wie für die Liebe. Denn mal im Ernst. Ich weiß gar nicht, wie das geht. Ich habe noch nie Liebe erfahren. Nur von Heaver und sie zählt nicht. Ich kann dir mit Sicherheit niemals geben, was du willst.
Und noch weniger das, was du brauchst.«

»Machst du ... machst du gerade Schluss mit mir?«, fragte Wesley fassungslos.
Doch er wusste es schon.
Noch bevor sie nickte.
Schmerzerfüllt.
Dumpf.

»Es ist besser so, Wes. Das weißt du. Unsere Welten waren schon immer viel zu verschieden. Wir beide in ihnen erst recht. Es ist, wie ich es gesagt habe: Vielleicht wollen wir einander. Für jetzt. Aber wir sind niemals das, was wir beide brauchen. Für immer
Willow lächelte trostlos.
Wesley schluckte schmerzerfüllt, ausgeleert, verkrampft in seinem Schmerz. Er stimmte Willow nicht zu. In keiner Weise. Sie war alles, was er wollte und alles, was er brauchte. Aber er war nicht das, was sie brauchte.
Er war nicht gut genug für diesen Wirbelwind. Sondern viel zu ungestüm und unsensibel.
Er war schuld, dass sie weinte.
Das konnte er sich nicht verzeihen und darum musste er sie gehen lassen. Es erschien ihm wie der einzige Ausweg, obwohl er schon jetzt daran zerbrach.
In Milliarden kleine Splitter.

»Leb wohl, Wesley.«

Lass sie ziehen.
Lass sie frei.

»Leb wohl, Schäfchen.«

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