KAPITEL 28


Kelly und John Dillons hatten sich vor genau 34 Jahren auf einer Gala in San Francisco kennengelernt.
Ihre erste Begegnung war etwas ganz für sich gewesen. Sie war das Fundament des Lebens, das sie heute führten.

Kelly erinnerte sich gerne an den Abend zurück.
Sie hatte sich nie zuvor so spannungsgeladen und lebendig gefühlt, als unter dem Blick des stattlichen, hübschen und jungen Mannes, der sich in eine schwarz-weiß Montur geworfen hatte und zum Caterer-Personal gehörte.
Aber das hatte für sie nie eine Rolle gespielt.
Sie hatte sowieso alles vergessen, als sie John das erste Mal in die grauen Augen gesehen und sich auf der Stelle von ihm durchschaut gefühlt hatte.
Er hatte diesen strahlenden Blick schon immer gehabt. Nur einige Sekunden und John war fähig seine Gegenüber in Gespräche zu verwickeln, die sie sich tief innerlich immer gewünscht, aber sich ihnen gar nicht bewusst gewesen waren.
Er war ein hervorragender Redner, ein noch besserer Zuhörer und bei weitem der aufmerksamste Mann, dem Kelly jemals begegnet war.

Sie konnte bis heute nicht ganz glauben, was damals geschehen war.
Auf der Gala war sie nur aus Liebe ihrer Eltern erschienen.
Als Personen der amerikanischen Oberschicht war Kelly öfter zu den langweiligen Business-Treffen oder irgendwelcher Wohltätigkeitsveranstaltungen, gefüllt mit Floskeln und Förmlichkeiten, ihrer Eltern geschleppt worden. Aber sie hatte sich den Damen und Herren der hochnäsigen Aristokratie nie zugehörig gefühlt, war mehr das schwarze Schaf der Formellen gewesen, weil sie nicht glauben konnte, dass das Leben nur aus Partys, Businessdeals, Villen und Luxusyachten bestehen sollte.
Sie hatte sich immer mehr des Lebens gewünscht, das die Kassierer an Supermarktskassen, Verkäuferinnen in Kleidungsgeschäften oder Kellner in einem Restaurant führten.
Ein Leben ohne Glitzer und Glamour war ihr nicht bekannt gewesen, aber es hatte sie schon immer ein wenig angezogen.
Einfach, weil es so leicht zu sein schien.

Leicht, wenn man ohne Bodyguards das Haus verlassen konnte.
Leicht, wenn man sich seine Termine selbst aussuchen konnte.
Leicht, wenn man essen konnte, was man wollte und sich seine Speisen nach Gelüsten zubereitete, nicht nach seinem Diätplan.

Kelly Dillons hatte immer ein kleinbürgerliches Leben führen wollen.
Vielleicht war sie deshalb so magisch von John angezogen gewesen, als er sie an der Bar bedient hatte. Er mit seinem dichten braunen Haar, das heute leicht ergraut war.
Er mit der schief sitzenden Krawatte und dem zerknitterten Hemd.
Er mit dem Grübchenlachen, das jedes Herz zum Schmelzen brachte.

Er war normal gewesen.
Niemand herausragendes, keine große Hollywoodpersönlichkeit. Nur ein einfacher Caterer mit einer ganzen Reihe Flachwitze im Kopf und den besten Menschenkenntnissen auf diesem Planeten.

Kelly wusste ganz genau, dass sie noch nie für einen Jungen geschwärmt hatte.
Sie hatte sich stets gefragt, wie sich dieses erste Verliebtheitsgefühl anfühlte, wenn es in Romanen beschrieben wurde. War deshalb umso neugieriger auf die Zeit an der Highschool gewesen, als ihre Eltern ihr endlich versprochen hatten, den Hausunterricht aufgeben zu dürfen und Kontakte mit Gleichaltrigen zu schließen.
Doch sie hatte nie einen Mann kennengelernt, der sie annähernd Schmetterlinge hatte fühlen lassen.
Das war erst an diesem Abend gekommen.
Und es war so natürlich gewesen, als hätte das Leben einfach nur auf die richtige Person und den perfekten Zeitpunkt gewartet.
Er war gekommen.
John war gekommen.
Und die Schmetterlinge mit ihm, als er Kelly mit seinem typischen Ich-weiß-genau-was-du-willst-Liebling-Blick angesehen und gesagt hatte:
»Lass mich raten. Mittelalter Chardonnay mit einer herb fruchtigen Note und einem kleinen Schuss Himbeersirup?«

Ohne Frage, war er der Richtige gewesen.
Und er würde es immer bleiben.

xxxx

Willows Puls stieg in die Höhe. Ihre Fingerspitzen kribbelten und ihr Bein zitterte nervös auf und ab.
Sie konnte nicht stillhalten.
Sie war aufgeregt.

»Was ist, wenn sie vorgestern nur höflich war? Und sie mich eigentlich doch nicht mag? Ich meine ... ich bin nicht gerade das Gelbe vom Ei, vielmehr das waschechte Landei, das am liebsten in Gartenerde wühlt, als irgendwelchen Hochwohlgeborenen den Hof zu machen.«

Sie senkte den Kopf, während Wesley sich so fest wie möglich auf die Lippe bis, um nicht lautstark in Gelächter auszubrechen.
Leider klappte das nur mäßig gut und ihm entwich ein amüsiertes Prusten, das ihm einen sauren Blick von Willow einfing.

»Du machst dich lustig, aber für mich ist das wirklich ernst. Ich kenne deinen Vater noch gar nicht! Was, wenn er sich irgendeine Frau mit Titel für dich gewünscht hat? Ich meine, wollen Eltern nicht immer das Beste für ihr Kind?
Irgendwelche Superpartner, die ihnen gleichgestellt sind? Ich kann und werde den Frauen von solchen Galen niemals das Wasser reichen!«

Willow entwich ein aufgeregter Quietschlaut, als das Auto plötzlich einen scharfen Zug nach links machte und auf den Hinterreifen driftete, bevor es zum Stehen kam.
Beinahe sofort zog Wesley die Handbremse an und drehte seinen Kopf in Willows Richtung.
Plötzliche Stille entstand.

»Schäfchen, ich werde dir das hier jetzt nur einmal sagen und danach will ich nie wieder Fragen darüber gestellt bekommen, ob du für irgendwen oder irgendwas gut genug bist!«

Er fasste unter ihr Kinn und zog Willows Gesicht in seine Richtung, damit sie sehen konnte, wie erzürnt er war und wie ernst er meinte, was er sagte.

»Du bist die bezauberndste Frau, der ich jemals begegnet bin. Du bist intelligent, zielstrebig und kreativ. Du hast immer einen Spruch auf Lager, weißt ganz genau, wie du mir eine Lektion erteilen kannst und was es braucht, um Leute zum Lächeln zu bringen. Ich liebe es, dass du deinen Garten liebst, dass du dich so rührend um Heaver kümmerst, dass du immer aussprichst, was dir gerade im Kopf herumschwirrt, dass du dir um so viele Dinge gleichzeitig Gedanken machst, dass du nie deinen Sinn für Humor verlierst, obwohl alles düster erscheint, dass du dich für nichts an deinem Körper schämst, dass du dich auch ohne Schminke schön fühlst, weil du einfach verdammt schön bist, und du niemals aufgibst.
Ich liebe es, wie du lächelst, wie du dir auf die Lippe beißt, bevor du lachst, wie du deine Augen verdrehst, wenn ich dich nerve und deine Nase kraus legst, während du nachdenkst. Alles an dir hat eine Wirkung auf mich und alles an dir gefällt mir, weil es dich zu der Person macht, die du bist und von der ich mir wünsche, dass du sie immer bleibst.
Sei niemals jemand anderes oder wünsche dir, ein anderer zu sein. Denn du bist perfekt so, wie du bist. Und alle Welt sieht das, außer dir selbst.
Nur du zweifelst an dir, obwohl du absolut keinen Grund dazu hast. Denn Menschen lieben dich.
Sie sehen, wie bodenständig und einfühlsam, wie lustig und nachdenklich du bist. Sie fühlen sich ganz automatisch wohl in deiner Nähe, weil du die mit Abstand emphatischste Person bist, die ich kenne.
Meine Mutter wünscht sich seit Jahren, dass ich jemanden finde, bei dem ich ich sein kann und der mich dennoch am Schlips packt, wenn ich wieder zu einem idiotischen Schnösel mutiere. Sie mag dich. Sie spielt niemandem ihre Gunst vor. Alles was sie vorgestern gesagt hat, entspricht ihrer wirklichen Meinung.
Und mein Dad? Mein Dad hat nicht einmal selbst einen Titel. Er ist weder mit Luxus aufgewachsen, noch hat er sich jemals daran gewöhnt, dass Mom aus einer Familie der Highsociety entstammt.
Er hasst Anzüge und Geld, also glaube niemals, dass er sich daran stören würde, dass du vom Land kommst und dich ungern in irgendwelche Kleidchen zwängen lässt. Er ist die letzte Person, die irgendwelche Menschen nach ihrem Stand oder ihrem Aussehen beurteilt. Er gibt jedem eine Chance und er verurteilt niemanden.
Deshalb, Willow Telieve, glaube niemals, dass sie dich nicht lieben könnten und du nicht genau die Person bist, die sie sich immer für mich gewünscht haben.
Denn erstens bist du das. Du bist das Beste, das sie sich für mich hätten wünschen können.
Und zweitens liegt es am Ende des Tages bei mir, mit wem ich glücklich werden möchte. Und da ich nur in deiner Nähe wirklich glücklich bin, ist diese Entscheidung die einfachste, die ich in meinem Leben jemals getroffen habe. Du bist es. Du wirst es immer sein, Schäfchen.«

Wesley wischte Willow eine Träne der Rührung aus dem Augenwinkel. Dann lächelte er, als sie sich abschnallte und unbeholfen über den Bremshebel beugte, um ihn zu umarmen.

»Danke«, hauchte Willow leise und schloss die Augen, während sie die Dunkelheit aus ihrem Augenwinkel blinzelte und alles Schlechte in ihrem Kopf mit den guten Dingen austauschte, die Wesley gesagt hatte.
Er hatte keine Ahnung wie gut es tat, solche Worte einmal von jemandem zu hören.
Worte, die Willow noch niemals mit sich in Verbindung hatte bringen können.
Worte, die ihr Herz flickten, das so lange Jahre mit blutigen Kratzern hatte leben müssen, die nun endlich – nach Jahrzehnten – zu heilen begannen.
Und das nur wegen diesem Mann.

»Du bist auch das Beste, das mit jemals passiert ist«, gab Willow zurück und zog sich geräuschvoll die Nase hoch.
Wesley lächelte selig – glücklich, zufrieden.
Dann löste er sich von seiner Freundin und strich ihr liebevoll über die Wange, ehe er ihr einen Kuss auf die Stirn hauchte, der für Willow beinahe noch intimer war, als ein Kuss auf die Lippen.

»Ich liebe dich, Willow Telieve«, gestand Wesley leise, während er sie betrachtete und fühlte sich befreiter denn je, als er sich seiner Worte selbst bewusst wurde.
Er liebte dieses Mädchen.
Er liebte diese Frau.
In allen Facetten, die sie besaß, mit allen Macken und Makeln, die sie haben konnte und die sie noch schöner machten, als nur ihre Perfektionen.

Willow war von allem genau die richtige Portion.
Genau die richtige Portion Ernst, die richtige Portion Humor, die richtige Portion Intelligenz und die richtige Portion Sarkasmus.
Sie war wie das perfekt ausgeklüngelte Keksrezept in einem Backbuch. Die ultimative Mischung für ein glückliches Leben.
Und er führte ein glückliches Leben, seit es sie gab.
Solange sie in seiner Nähe war.

»Ich liebe dich mit Haut und Haar«, wiederholte er sich flüsternd und strich über eine kleine Narbe an ihrer Stirn, die ihm erst jetzt auffiel.
Jeden Tag überraschte sie ihn mit etwas Neuem.
Und er wusste, er würde sie sich jeden Tag von Neuem erkämpfen, sich bis in alle Ewigkeit wiederholen, wenn das nötig war, um diese Frau von sich zu überzeugen.

Willows Lippe bebte.
Diesmal mit einer Mischung aus Bitterkeit und Rührung.
Vor ihren Augen bahnte sich ein Konflikt an.
Ein Konflikt, der aus ihrem Inneren kam und sich mit Wesleys Äußerem anlegte.
Ein Konflikt zwischen Liebe und Hass, den sie noch nie gehabt hatte, denn es hatte sie noch nie zuvor jemand geliebt.
Es hatte ihr noch nie ein Mann gesagt, dass er sie liebte, dass er mit ihr glücklich war und dass sie die eine war, mit der er sein Leben verbringen wollte.
Es hatte keinen Mann zuvor gegeben, der ihr überhaupt je so begegnet war, wie Wesley.

Wesley schien die gekippte Stimmung zu spüren.
Ein letztes Mal strich er Willow mit dem Daumen über die Wange, ehe er ihr Gesicht aus seinen Fängen ließ – ihr ihren Freiraum lies.
Auch wenn sie spürte, dass ihre Verkrampftheit ihm einen Dämpfer verpasst hatte, nach so einem Geständnis, war sein Lächeln echt.

Als sie sich ebenfalls zurück auf ihren Sitz sinken ließ, startete er das Auto neu und legte seine große Hand ausgebreitet auf ihren Oberschenkel, nur um dann ein wenig Druck auf ihre Schenkel auszuüben und Willow scharf die Luft einziehen zu lassen.
Was machte dieser Mann bloß mit ihr?
Wusste er, was er tat?

Sich auf die Lippe beißend, sah sie in seine Richtung.
Wesley konzentrierte sich auf die Straße.
War er sauer?
Weil sie seine Worte nicht erwidert hatte?
Bei Gott, das wollte sie.
Sie liebte Wesley. Sie hatte ihn schon geliebt, als er ihren Zaun repariert hatte, als er das erste Mal mit Heaver im Garten gespielt hatte, als er sie ausgeführt hatte, als sie die Wasserschlacht veranstaltet hatten oder als sie bis zum Meer gefahren waren nur um dann im Sand zu sitzen und über Gott und die Welt zu reden.
Sie hatte ihn geliebt, als er ihr ihre tiefsten Ängste aus dem Herzen gequetscht hatte, als er sie vor Ricky bewahrt und sie das erste Mal Schäfchen genannt hatte.
Es waren die kleinen Begegnungen und Worte zwischen den Zeilen gewesen, unbedeutend scheinende Details, Wesen des Lebens, die sich jetzt wie ein Puzzle zusammensetzen und das große Ganze ausmachten, in dem es für Willow keine andere Option mehr als Wesley gab.
Kein anderer Mann konnte ihr diese Art von Liebe geben – wenn sie echt war – wenn nicht Wesley Dillons.
Der arrogant scheinende Staranwalt, dem niemand vernünftig in die Augen blickte, wenn er nicht sah, dass Wesley noch so viel mehr als das war.
Er war fabelhaft.
Er war heil.

Aber sie war es nicht.
Willow verfolgte eine vergangene Zeit, die sich bis heute auf alles auswirkte, was ihr im Leben geschah.
Und es gab da etwas, das sie Wesley verschwieg und ihre Gegenwart drastisch ändern konnte.
Es gab etwas, das sie zerstörte, wenn sie es laut aussprach. Etwas, das sie schon einmal zerstört hatte und von dem sie nicht wollte, dass es auf Wesley stieß, denn er sollte sich nicht mit dem Bösen in ihrer Welt vermischen.
Sie wollte Himmel und Hölle getrennt halten, die guten und die schlechten Momente ihres Lebens nicht mixen.
Denn sie hatte es schon einmal gesagt, sie lebte nur in Momenten.
Nur in kleinen Abschnitten des Großen. Damit sie nicht zerbrach, wenn einer dieser Abschnitte dunkel war.

Es war wie ein Spiel.
Eine Art Hangeln durch das Leben.
Eine Art Hüpfkästchen-Spiel, in dem sie mit beiden Beinen von rot zu grün, von dunkel zu hell, von Hölle zu Himmel sprang und sich das Schlechte mit etwas Gutem wieder zurecht redete, um am nächsten Tag weitermachen zu können.

Vielleicht klang das drastisch, vielleicht perplex. Aber Willow funktionierte schon lange nicht mehr wie ein normaler Mensch, der einfach nur atmete. Für sie klappte das nicht. Sie musste sich eine andere Routine im Leben finden, hatte ihre strikten Gewohnheiten und Pläne, für Momente, in denen es ihr schlecht ging.
Sie brauchte das.
Sie brauchte das dringend.
Denn wann immer sie ihren Fokus verlor, zurück in ein Loch fiel, das viel tiefer war, als es schien, und sie nicht mehr klar denken konnte, musste es da etwas geben, an das sie sich halten konnte, etwas, das sie leitete, wie ein Leuchtturm ein verlorenes Schiff auf offener See.
Genau das war sie.
Sie trieb umher, wie ein kaputtes Floß, an das sich ein einsamer Seemann klammerte.
Und das war sie schon seit Jahrzehnten.
Früher war der Sturm bloß stärker gewesen, der Wind heftiger.
Langsam schien sich alles zu beruhigen.
Es war Licht am Horizont.
Aber sie wollte sich nicht täuschen lassen.
Wollte nicht auf den Schein hereinfallen.
Denn sie wusste eines sicher:
Wenn sie sich zu sehr treiben lassen würde, dann würde sie ertrinken.
Wenn sie sich Wesley zu sehr hingeben, alle Kontrolle abgeben, Geständnisse machen und er ihr das Herz brechen würde, dann hatte sie den Tiefpunkt ein weiteres Mal erreicht – aber dieses Mal für immer.

»Wir sind da«, riss Wesleys Stimme sie aus ihren Gedanken und eine plötzliche Leere entstand, als er seine Hand von ihrem Oberschenkel entfernte.
Willow hob den Kopf und blickte aus dem Fenster. Ihr stockte der Atem, als sie das Herrenhaus der Dillons sah.
In ihrem Mund wurde es trocken.

Hier lebten Wesleys Eltern?
Hier war ihr Freund aufgewachsen?

Das Haus war nicht riesig, aber durchaus größer als das übliche Stadthaus einer vierköpfigen Familie.
Eine einladende Fassade aus Sandstein, die zur Hälfte mit Efeu bewachsen war, zwischen dessen Stränge sich rechteckige Fenster stahlen, erstreckte sich vor Willow.
Das Auto hatte Wesley geradewegs vor dem Treppenaufgang zu einer Haustür mit doppelten Flügeln geparkt, durch deren Fensterscheiben einladend gelbes Licht auf die große Einfahrt für bestimmt fünf Autos leuchtete.
Alles rund um das Haus war akkurat gestaltet.
Das Anwesen wurde von einer hohen Mauer umgeben und musste durch ein Tor passiert werden, das sich gerade hinter einem tiefschwarzen Mercedes, der hinter ihnen anfuhr, wieder schloss.
Willow entdeckte Blumenbeete in den verschiedensten Farben am Rande der Auffahrt, wegen der Scheinwerfer des Autos, das zwei Sekunden später neben ihnen parkte.
Zeitgleich mit dem Ausgehen des Motors öffnete sich plötzlich die Beifahrertür und Wesley beugte sich mit ausgestreckter Hand zu ihr hinunter.

»Mylady!«, hauchte er galant und lächelte sie verrucht an, als sie ihn mit geöffneten Lippen ansah, noch ganz überwältigt von dem Territorium, das sie soeben betreten hatte.
Zögerlich nahm Willow Wesleys Hand entgegen.
Hatte er sie vor einer Viertelstunde beruhigt und ihr seine Liebe gestanden, schlug ihr Herz nun wieder bis zum Hals.
Aber das musste wohl normal sein, wenn man seinen potentiellen Schwiegereltern begegnete, die in einer verdammten Villa lebten!

»Du brauchst keine Angst haben. Ich gehe nirgendwo hin und meine Eltern werden dich lieben. Vertrau mir.«

Das wollte sie.
Das tat sie.
Aber seine Worte prallten dennoch wie Luft an ihr ab, während sie sich aus dem Auto helfen ließ und ein wenig klapprig auf ihren neuen Sneakern zu Stehen kam.
Urplötzlich fühlte sie sich unwohl.
Wesley war so schick gekleidet. Trug einen eng anliegenden Rollkragenpullover und eine kariert-graue Chinohose, die ihm hervorragend stand.
Er sah so elegant und sexy aus wie immer, während sie eine einfache blaue Jeans trug und sich ein weißes Basic-Shirt übergeworfen hatte. Sie sah weder elegant, noch feierlich, noch sonderlich passend aus – ob nun zu gegebenem Anlass oder zu Wesley.
Vielmehr war sie deplatziert.
Mal wieder.

»Willow! Freut mich dich wiederzusehen!«

Mindestens so gestylt wie Wesley stieg niemand geringeres als Charles Anderson aus dem Mercedes, der hinter ihnen angekommen war und umarmte Willow, als kenne er sie schon seit Ewigkeiten.
Kläglich setzte sie ein Lächeln auf, als sie seine Geste mit einem »Hi« erwiderte.
»Charlie«, begrüßte Wesley seinen Freund ebenfalls und klopfte besagtem in einem grauen Jackett mit passender Hose und weißem Hemd auf die Schultern, ehe er seinen Arm besitzergreifend um Willow legte und sie an seine Seite zog.

Charles lächelte zufrieden.

»Wie ich sehe, habt ihr beiden wieder zueinander gefunden. Freut mich ungemein, obwohl ich zu gerne das Gesicht von Kelly gesehen hätte, wenn du ihr hättest gestehen müssen, das ihr Streit hattet und Willow nicht kommen würde. Ich glaube, sie hätte dir Hausarrest gegeben und dich auf dein Zimmer gepaukt«, lachte Charles und entlockte Wesley ein amüsiertes Grinsen, während er die Augen rollte.

»Mach mich nicht lächerlich. Wir hatten gar keinen Streit«, stritt Wesley ab und verfestigte seinen Griff an Willows Taille.
Sie legte beruhigend ihre Hand auf seine.

»Ach nein? Das sah aber anders aus, als sie vor dir weggerannt ist«, zog Charlie seinen Freund auf. Willow biss sich auf die Lippen. Dieses Detail hatte Wesley gewiss verletzt und es war eine selten dämliche Aktion von ihr gewesen.

»Das hatte andere Gründe. Alles, was du wissen musst, Anderson, ist, dass wir anschließend Sex bis zum Umfallen hatten und sich alles wieder eingerenkt hat.
Und wie war deine Nacht so?«, konterte Willow lieblich und schmiegte sich aufreizend an Wesley, der sie überrascht musterte.
Charles brach in lautes Gelächter aus.
Dann setzten sie sich in Bewegung.

»Scheiße, Mann! Ich weiß, warum du dich in sie verknallt hast, Wes. Jetzt will ich auch eine Freundin!«, schmollte Charles gespielt und musterte Wesley und Willow. Sie waren ein tolles Paar. Passten hervorragend zusammen. Und wer konnte das besser beurteilen, als Wesleys Sandkastenfreund?

»Warum? Um deine Jungfräulichkeit endlich zu verlieren?«, fragte Willow ungehalten weiter und hatte plötzlich unglaublichen Spaß daran, Wesleys besten Freund ein wenig zu piesaken.

»Hey!« Charles stieg die Treppenstufen zur Haustür hinauf. Oben angekommen schob er die Unterlippe vor.
»Wesley, deine Frau mobbt mich! Sag, dass sie aufhören soll!«, meckerte er gespielt und ließ die Seite an Humor hervorlugen, die Willow auch schon auf dem Ball kennengelernt hatte.

Es stellte sich keine Frage, weshalb sie Charles mochte.
Er war witzig und kindisch, ebenso wie intelligent und starrsinnig.
Die beiden Männer ergänzten sich, deshalb verwundete Willow die Freundschaft nicht.
Sie war bloß fasziniert davon, wie viel mehr hinter der Fassade eines bloßen Anzugträgers steckte, wenn man ihn einmal näher kennenlernte.

Wesley hatte sich noch immer nicht von Willows Kommentaren erholt.
Er lachte sich kringelig darüber, wie seine Willow den Mann zusammenfaltete, der ihm schon ein halbes Leben auf die Nerven ging.
Es geschah Charlie ganz recht auch einmal von dieser Frau in die Mangel genommen zu werden.

»Ach sei nicht traurig, Charlie. Irgendwann kommt auch für dich die Richtige«, behauptete Willow versöhnlich und lehnte sich so vertraut gegen Wesley, das diesem wärmer und wärmer ums Herz wurde.
Wusste sie eigentlich, wie glücklich es ihn machte, wenn sie sich an ihn kuschelte, seinen Schutz suchte, ihn wie selbstverständlich hinter sich stehen wusste?
Was es in ihm auslöste, dass sie seine Nähe suchte?

Nein. Sie konnte es nicht einmal erahnen.
Ebensowenig wie sie erahnen konnte, wie recht sie mit ihrer letzten Aussage hatte ...

»Zur Not kannst du dir eine Ziege adoptieren. Tolle Tiere, gute Zuhörer und wenn du Scheiße baust, dann fressen sie deine Schuhe. Stimmt's, Wesley?«, fragte Willow weiter und stieß ihrem Freund in die Seite.
Nun verging Wesley das Lachen und Charles grinste wieder.

»Ha! Jetzt mobbt sie uns beide! Darauf trinke ich ein Bier! Und von der Story mit den Schuhen müsst ihr mir alles erzählen!«, verkündete Charlie amüsiert und drückte endlich auf den Klingelknopf des Hauses, durch das Millisekunden später ein beruhigendes Bimmeln drang und sie als Gäste ankündigte.

Willows Herz begann wieder schneller zu schlagen.
Verwickelt in Gespräche konnte sie ihre Nervosität verdrängen, aber nun ging es darum, dem Eindruck der Eltern ihres Freundes gerecht zu werden und sich ihnen als würdig zu erweisen. Das war nicht nur neu für sie, sondern auch in Teilen erschreckend.
Sie tat sich einfach nicht gut darin, neue Kontakte zu knüpfen.
Auf der Straße oder auf dem Markt war das kein Problem.
Dort erwartete niemand etwas von ihr.
Doch hier lagen alle Augen auf sie gerichtet.
Das machte es ihr schwerer, als sie es gewöhnt war.

Sie wollte einfach einen guten Eindruck hinterlassen.
Wollte gemocht werden.
Besonders von Wesleys Eltern.
Sie trugen eine Wichtigkeit in Willows Leben, der sie und Wesley sich gar nicht bewusst waren.

Die Doppeltür schwang mit einer Eleganz auf, die Willow kurz den Atem anhalten ließ.
Mit strahlendem Gesicht und so wunderschön wie am Vortag stand Kelly Dillons in der kuppelartigen Eingangshalle mit einer erstaunlich schön verzierten Wendeltreppe ins Obergeschoss. Sie trug ein hellblaues Kleid mit langen Ärmeln und einem ausladenden Rock. Am Hals eine Perlenkette, die Lippen mit einem violetten Lippenstift bemalt.
Sie sah entzückend aus.
Jung und erfrischend und sie fixierte Willow mit einem Lächeln, das dieser eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

»Hallo Kinder! Willow, meine Liebe!«, begrüßte sie die drei und machte einen Schritt nach vorn, um erst ihren Sohn, dann Willow und zuletzt Charles wie selbstverständlich in die Arme zu ziehen.
»Ihr habt euch Zeit gelassen, aber zu eurem Glück hat Mary mit dem Essen heute länger gebraucht. Willow, ich hoffe du magst Schweinebraten mit Rotkohl.
Als ich Wesley anrief und ihn danach fragte, konnte er mir nichts über irgendwelche Abneigungen sagen, bloß, dass du ungern Auberginen isst, umso lieber aber Apple-Pie.«

Ganz wie von selbst hakte sich Kelly unter Willows Arm und zog sie vor den Männern her ins Innere des Hauses.
Sie plapperte ohne Punkt und Komma, ließ Willow aber überrascht die Augenbraue in die Höhe ziehen, als sie den Anruf erwähnte.
Wann war das passiert? Und woher wusste Wesely, dass sie Apple-Pie mochte?
Hatte sie das mal erwähnt?
Vermutlich ...

»Jedenfalls, haben wir Mary beauftragt so viel wie möglich zu machen. Such dir also das aus, was du am liebsten isst. Du wirst bestimmt etwas finden.«

Willow wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Misses Dillons ... ich weiß nicht, was ich ... Das wäre nicht nötig gewesen. Ich esse eigentlich alles ...«

Kelly lächelte.
»Ah. Ah. Ah, Kindchen. Nenn mich Kelly. Außerdem will ich, dass du dich hier wie zuhause fühlst. Du bist jetzt ein Teil unserer Familie. Da achtet man auch darauf, dass das Essen schmeckt.«

»Mom! Wirf sie doch nicht gleich so über den Haufen!«, mischte sich Wesley schützend ein, während Willow die Worte im Hals stecken bleiben.

Sie gehörte jetzt zur Familie?
Sie war Teil einer ... Familie?
So sah Kelly das?
War das das Resultat davon, wenn man sich verliebte?
Wurde man Teil einer Einheit, einer Generation, eines Clans?
Durfte sie sich so fühlen?
Obwohl sie kein verwandtes Blut in sich trug?
Sah Wesley das auch so?

»Mache ich doch gar nicht. Ich will nur, dass sie sich wohl fühlt und willkommen«, rechtfertigte sich Kelly bei Wesley und schüttelte dann den Kopf, ehe sie Willow weiter mit sich zog.
»Entschuldige. Ich bin bloß aufgeregt. Wesley hat schließlich noch nie eine Frau mit nach Hause gebracht. Heute verstehe ich, wieso.
Aber fangen wir erstmal bei der Vorstellung an. Schließlich musst du noch den Mann kennenlernen, von dem Wesley all seine schlechten Eigenschaften geerbt hat.«
Kelly zwinkerte feixend dann bog sie um eine Ecke und betrat ein geräumiges Esszimmer, in dessen Mitte ein Glastisch vollgefüllt mit Köstlichkeiten stand.
Feinstes Silberbesteck lag neben den schneeweißen Tellern und den Servierten, gefaltet zu kleinen Rosen.
Willow war entzückt und erschrocken zugleich. Entzückt, denn alles sah so schön angerichtet aus.
Aber mehr erschrocken, als sie plötzlich das warme Lachen eines Mannes hörte, der durch eine zweite Tür ebenfalls in den Speiseraum trat und den sie mit seinen Grübchen sofort wiedererkannte.

»Glaube ihr kein Wort. Ich habe Wesley nur das Beste vererbt. Er missrät durch seine Mutter.«

Willow versteifte sich.
Das konnte nicht sein.
Das konnte doch nicht wahr sein!
Das war er!
Der Mann, mit dem sie gestern auf der Bank im Park gesessen hatte.
Der, der ihr geraten hatte, Wesley eine Chance zu geben und für eine Welt zu kämpfen, die aus ihr und ihm bestand, aus ihnen.

Willows Wangen erhitzten sich augenblicklich.
Oh Gott!
Sie hatte John Dillons gestern alles erzählt, was ihr auf der Seele lastete.
Hatte ihm gestanden, wie unwohl sie sich fühlte, gestanden, dass sie vor Wesley weggerannt war.
Was sollte er nur von ihr denken?

John war nicht wirklich davon überrascht, dass er heute demselben Mädchen gegenüberstand, wie gestern.
Die Beschreibungen und Geständnisse, die sie gemacht hatte, hatten sich bestens mit den Erzählungen – oder vielmehr Schwärmereien – seiner Frau abgeglichen.
Und hier stand sie nun. Willow, das Mädchen, an dem sein Sohn einen Narren gefressen hatte. John konnte es gut verstehen.

Willow war eine wahre Schönheit.
Sogar in den leichten Klamotten, die sie trug, strahlte sie einen Sonnenschein aus, der sich auf den gesamten Raum übertrug.
Sie war natürlich schön. Trug ihr braunes Haar ungeformt offen, hatte kein MakeUp aufgelegt oder sich mit Schmuck verziert und dennoch war sie schöner als eine Frau mit all diesen Dingen.

John konnte Willow gut leiden.
Es machte sie sympathisch, dass sie ihre Schwächen nicht vertuschte, sondern sie offen vor sich legte und bereit war, sie zu forcieren.
Sie war eine reife und mutige Frau und sie passte hervorragend zu seinem Sohn, der nun mit Charles im Schlepptau ebenfalls das Zimmer betrat.

»Dad!«, grinste Wes und trat auf seinen Vater hinzu.
Er hatte ihn vor zwei Tagen nur flüchtig gesehen.
Umso mehr freute er sich, seinen alten Herrn kurz in die Arme zu schließen.
Als er ihn wieder losließ, drehte Wesley sich stolz zu Willow um.
Sein Lächeln an sie ließ ihr das Herz flattrig werden.

»Darf ich dir meine Freundin Willow Telieve vorstellen? Und Willow, das hier ist John, mein Vater.«

Die Brünette nickte zaghaft.
John sah sofort, dass sie sich nicht sicher war, wie sie reagieren konnte und sollte.
Er machte freundlich den ersten Schritt.

»Ich glaube, eine Vorstellung ist hier nicht mehr nötig. Willow und ich kennen uns bereits. Dennoch ... es ist mir eine außerordentliche Freude dich nun auch offiziell vorgestellt zu bekommen.«

John streckte professionell die Hand aus und schüttelte Willows wesentlich kleinere galant. Entzückend.

»Es ist mir auch eine Freude«, gab Willow ehrlich zurück und brach das Eis.
Wesley hob eine Augenbraue.
Sie kannten sich?

»Wann ist das denn passiert?«, fragte Charles das, was auch Kelly ausgesprochen hätte.
John grinste. Dann schaute er zu Willow, die sich verlegen auf die Lippen biss und entschied: »Ich glaube, das behalten wir für uns.«
Willow fiel ein Stein vom Herzen. Man ersparte ihr eine Menge Unannehmlichkeiten.
Kelly spitzte die Lippen.
Sie wollte etwas sagen, doch dann ließ sie es bleiben, denn sie kannte ihren John.
Er würde mit diesem Geheimnis ins Grab gehen.
Er gehörte zu dieser Art von loyalem Mann.

xxxx

Das Familiendinner nahm seinen Lauf und nach und nach fiel alle Anspannung von Willow ab.
Kelly war mit Abstand die netteste und herzlichste Frau, der sie jemals begegnet war, John mit Abstand der rücksichtsvollste Mann, Charles mit Abstand die witzigste Person und Wesley die beste Mischung aus allem.

Zu fünft hatten sie es sich an dem schön gedeckten Tisch in dem hellgelben Raum mit dem Kronleuchter aus Glas, der imposant von der Decke hin, gemütlich gemacht. John saß am Kopf des Tisches. Rechts von ihm saßen seine Frau und Charles.
Links von ihm hatte Willow und neben ihr wiederum Wesley Platz genommen.

Es war eine entspannte Runde.
Kelly erzählte die besten Kindheits– und Urlaubsgeschichten der letzten Jahrzehnte, Charles fügte an alles einen lustigen Kommentar hinzu, John lenkte das Gespräch immer wieder in eine vernünftige Richtung, wenn es komplett seinen Sinn verlor und Wesley lachte bloß, seit er Willows Stuhl bis dicht neben seinen gezogen und einen Arm um ihre Schultern gelegt hatte, um jetzt mit dem Zeigefinger Kreise auf ihren Oberarm zu malen.

Willow selbst konnte nur zuhören und lachen.
Ihre Sorgen und Ängste waren verpufft und jede weitere verstreichende Sekunde ließ sie willkommen, angekommen und angenommen fühlen.

Sie hatte noch nie ein solch lebhaftes Dinner gehabt.
War noch nie so herzlichen Menschen – außer ihrer wundervollen Lila – begegnet.
Es hatte noch niemals jemand auf ihre Essensvorlieben Rücksicht genommen, hatte sie so selbstverständlich umarmt und in Gespräche verwickelt, bis sie Bauchschmerzen wegen einer Überdosis an Gelächter hatte.

Dinge, die sie nicht kannte, hatte sie auch nicht vermisst. Das war es, was die Angelegenheit so toxisch machte.
Denn an diesem Tisch kam sie in den Genuss einer Familie, die Spieleabende veranstaltete, sich gegenseitig neckte, die Urlaube machte und abends gemeinsam auf dem Sofa Filme guckte.

Kelly hatte lang und breit über die Thanksgiving-Routine der Familie Dillons berichtet, bei der jeder Tag eine Besonderheit barg.
Willow hatte noch nie Thanksgiving gefeiert. Ebenso wie andere Feiertage, die ihr überhaupt erst seit ein paar Jahren richtig bekannt waren.

Ihre ehemalige Realität war verzerrt.
Das wusste sie.
Aber sie hatte Angst, dass die jetzige Realität, die sie sich selbst aufgebaut hatte, hier ebenfalls verzerrte.
Gewiss tat sie es längst.
Seit sie Wesley kannte war ihre Realität eine andere.
Eine bessere.
Aber für wie lange?

»Du musst uns entschuldigen, Willow. Wir sind es nicht gewöhnt, jemanden neues in der Familie begrüßen zu dürfen. Das ist bei unseren Söhnen«, dabei hielt sie auf Wesley und Charles, der auch als Sohn gelten konnte, »eine absolute Premiere. Aber erzähl doch mal, Liebes. Woher kommst du? Was machst du beruflich? Und vor allem, wie kommt es, dass du unseren hoffnungslosen Fall zu Fall gebracht hast?«, fragte Kelly neckisch und lächelte ihren Sohn liebevoll an.
Willows Augen bekamen einen gerührten Schimmer. Es war unglaublich, zu was für einer Gewalt an Liebe eine echte Mutter fähig war.
Wesley konnte sich wirklich glücklich schätzen. Wirklich.

»Nun«, räusperte sie sich, um eine angemessene Antwort zu geben. »Ich komme ursprünglich aus einer Kleinstadt in Idaho, ziemlich weit nördlich. Mittlerweile lebe ich eine knappe Stunde von hier in einem kleinen Ort  namens Innerforks, den Wesley gerne auch als letzten Punkt der Welt bezeichnet.«

»Touché«, grinste Wesley und kniff Willow verspielt in die Seite, während sie amüsiert lächelte.

»Beruflich«, fuhr Willow fort, »schreibe ich Bücher. Ich bin Kinderbuchautorin für einen Verlag im Nachbarstädtchen und nebenbei hobbymäßig gerne im Garten oder mit meiner Ziege Heaver unterwegs.«

Letztere Aussage erweckte Neugierde am Tisch.
»Eine Ziege?«, fragte John.
Willow nickte.
Kelly klatschte erfreut in die Hände.
»Wie originell!«
Sie hatte offensichtlich eine Schwäche für Dinge, die anders waren.
So zumindest erklärte sich Willow, warum Kelly an diesem Abend schon zum mindestens siebten Mal "originell" sagte und im Regal hinter ihr eine beträchtliche Ansammlung an verbogenen Nutzgegenständen feinsäuberlich angereiht waren. Außerdem hatte jedes Möbelstück entweder Hufe oder Pfoten aus Messing, anstelle von üblichen Beinen, und die Kommoden des Hauses hatten allesamt ein Karo-, Kreuz- oder Pik-Muster.
Alles Dinge, die Willow noch nie zuvor gesehen, aber selbst als originell bezeichnen würde.

»Wie kam es dazu? Schafft man sich nicht üblicherweise einen Hund an?«, fragte John, schien aber auch angetan von einer Abweichung zu sein, obwohl es für alle Herrschaften am Tisch – bis auf Wesley und Willow – schwer vorzustellen war, wie man mit einer Ziege lebte.

»Ja, viele machen das. Aber Heaver ist mir als kleines Zicklein vor die Füße gefallen, so wie Wesley damals, als sein Auto eine Panne hatte.
Sie war abgemagert und krank, offensichtlich ausgesetzt worden, da habe ich sie mitgenommen, gesund gepflegt und mich mit ihr angefreundet.«

»Genauso wie Wesley?«, hakte Charles nach und sah in der Story wieder einmal gefundenes Fressen, um seinen guten Freund aufzuziehen.

»Nein. Ich war weder abgemagert, noch krank«, stritt Wesley ab.
Willow lächelte.
»Stimmt, aber du warst vollgesaut mit Kuhscheiße«, flötete sie und ließ am Tisch das Gelächter ausbrechen, während Wesley ihr einen bösen Blick zuwarf.

Halb amüsiert über Willows Freude, halb verärgert, weil Charles schon jetzt neue neue Gerüchte in seinem Kopf produzierte, beugte Wesley sich zu Willow hinunter.

»Was soll das, Schäfchen? Willst du mich ärgern?«, fragte er dicht an ihrem Ohr und ließ unauffällig seine Hand wieder auf ihren Oberschenkel gleiten.
Willow zog scharf die Luft ein.

»Ich sage nur die Wahrheit«, flüsterte sie zurück und kam seinen stürmischen grünen Augen mit ihren weichen braunen entgegen.
Wesley seufzte innerlich.
Er war verloren.
Nur ein Blick von ihr genügte und er gab haltlos seine Waffen auf. Sie konnte alles mit ihm machen, alles über ihn sagen. Solange sie damit glücklich war und diesen Funken in ihren Pupillen nicht verlor, wollte er immer auf seine Kosten ihrer Unterhaltung dienen.

»Und was ist dann passiert? Wesley, wieso erzählst du uns erst jetzt, dass du eine Panne hattest?«

»Ja, Wesley, wieso?«, fragte Charles gespielt geschockt, obwohl er wusste, was Wesley zugestoßen war.
Wesley rollte mit den Augen.
Kelly schlug Charles ärgerlich gegen die Schulter. Sie wusste genau, dass die beiden Herren sich mal wieder gegen ihre Mütter verschworen hatten.
Sie wussten immer, wo der jeweils andere steckte.
Sie hielten es bloß nicht für nötig, auch andere in die Informationen einzuweihen, selbst, wenn man sich Sorgen machte.

»Weil es keine große Sache war. Ich hatte einen Motorschaden und bin vollkommen unversehrt geblieben. Willow hat mich gefunden und mir einen Abschleppdienst besorgt.
Es brauchte ein paar Tage, bis das Auto repariert war. So lange habe ich bei Willow gewohnt und sie näher kennengelernt. Dann ist das eine zum anderen gekommen.«

Nun schlug Willow Wesley auf die Schulter. Er grinste frech, als sie rote Wangen bekam.
Das klang ja mal gar nicht nach Sex, der da vom einen zum anderen gekommen war!

»Du meinst, ich habe dich mal gehörig hinter den Ohren gewaschen und du hast mir beim Reparieren meines Gartenzauns geholfen, mein Lieber. Bring hier niemanden am Tisch auf falsche Gedanken.«

»Welche Gedanken denn?«, fragte Wesley provozierend und ließ seine Hand auf Willows Bein höher wandern.
Sie riss unauffällig die Augen auf.

Köstlich.

Weil sie nichts besseres zu sagen wusste, behauptete sie bloß, um die knisternde Starre zwischen ihnen zu lösen: »Du weißt schon, was ich meine« und wandte sich ab.

»Du hast also deinen eigenen Garten?«, fragte Kelly aus purer Neugierde, denn sie hatte es bisher nicht geschafft, auch nur eine Zierpflanze in die Höhe zu bekommen.
Vor Jahren hatte sie probiert ein Hochbeet anzulegen, zwischenzeitlich sogar bei Wesley auf dem Balkon, weil dort mehr Sonne war, aber sie musste sich wohl eingestehen, keinen grünen Daumen zu haben. Das bedauerte sie sehr.

»Oh, ja. Willow hat einen riesigen Garten mit Gemüse- und Blumenbeeten und einer Menge Obstbäume. Sie lebt auf einem kleinen Bauernhof, Mom. Ich glaube, es würde dir dort gefallen«, meinte Wesley.

Kelly bekam schwärmerische Augen.
Wie sehr hatte sie sich schon einmal aufs Land gewünscht.
Aber dann war das Leben dazwischen gekommen und eigentlich war sie für das Stadtleben geschaffen. Dennoch ... für einen Urlaub musste es fabelhaft sein.

»Ich nehme dich beim Wort, mein Sohn. Nachdem all meine Versuche beim Gärtnern gescheitert sind, kann ich mir von dir bestimmt ein paar Tipps geben lassen, oder Willow?«

Willow nickte.
In Sachen Garten kannte sie sich aus. Das war das einzige Fachgebiet, in dem sie sich nichts nachsagen ließ.

»Gerne«, bestätigte sie und war weniger überrascht, als Kelly sich plötzlich erhob.
»Wieso nicht sofort? Ich hätte da diese Orchidee in meinem Arbeitszimmer ...«, begann sie und war schneller im Flur verschwunden, als Willow ihr hinterher eilen konnte.

Wesley sah Willow einen Moment verträumt nach, als sie seiner Mutter folgte.
Er freute sich, dass sie das ohne Hemmungen tat und die anfängliche Angst überwunden zu haben schien.
Willow hatte aus eigener Hand verstanden, dass seine Eltern sie ausgesprochen gerne hatten und sie hier mehr als willkommen war.
Sein Vater bestätigte seine Vermutung ein paar Sekunden später, als Wesley seinem Lächeln begegnete.

Er hatte einen zufriedenen Schimmer auf den Lippen und musterte ihn stolz.
Wesley freute sich. Obwohl er sich noch immer fragte, woher sein Vater Willow kannte. Das musste er sie später unbedingt noch fragen.
Ebenso, weshalb sie ihm noch nie gesagt hatte, dass sie aus Idaho stammte. Das war ja tausende von Meilen entfernt.
Lebten ihre Eltern noch immer dort? Oder ihre Großeltern? Geschwister?

»Sie ist eine tolle Frau, Wesley. Mach keine Dummheiten. Eine wie sie wirst du nur einmal im Leben treffen. Und ich weiß, wovon ich spreche«, prophezeite John und nippte an seinem Glas Rotwein, das er sich zur Feier des Tages eingegossen hatte.
Wesley nickte.

»Ich weiß. Ich werde gut auf sie Acht geben.«
Das war ein Versprechen.
Ein Versprechen an seinen Vater.
Ein Versprechen an Willow.
Und ein Versprechen an sich selbst.

John zuckte mit den Schultern.

»Ich schätze, das wirst du müssen. Anderenfalls sehe ich mich dazu gezwungen, dir Beine zu machen.
Willow scheint mir eine sehr fröhliche, neugierige und beständige Person zu sein. Aber sie muss auch sehr viel durchgemacht haben, wenn sie so schnell verunsichert ist und noch nie einem Familiendinner beigewohnt hat. Ich weiß nicht, was es ist, aber es lauert in ihr und es verlangt ihr eine Menge ab. Du trägst eine große Verantwortung, Wesley. Aber sie wird sich lohnen, glaube mir.«

Wesley wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
Woher glaubte sein Vater so viel über Willow zu wissen?
Er durchschaute Menschen stets sehr schnell, es war sein Hobby, sie auszulesen, aber so schnell? Und warum schien er so besorgt zu sein?

Wesley wusste selbst, dass Willow ihm etwas verschwieg. Offensichtlich tat sie das, denn sie hatte bis heute kein Wort über ihre eigene Familie verloren. Er ahnte schon, dass sie zerstritten waren oder sie ihre Eltern verloren hatte. Aber gerade deswegen drängte er ihr dieses Gespräch nicht auf. Es ging ihn letztendlich auch nichts an.

»Dad, woher willst du wissen, dass sie ...«

Ein lauter Schrei ließ seine Worte im Keim ersticken.
War das seine Mom gewesen?
Auch John fuhr am Tisch zusammen.

»Wie bitte?«, kreischte Kelly aus einem Hinterzimmer im Erdgeschoss, ehe lautes Fußgetrappel zu hören war und Wesleys Mom mit einem überaus geschockten, sprachlosen und unmöglichen Gesichtsausdruck im Türrahmen des Esszimmers stand und so blank und blass in die Runde sah, dass Wesley schon glaubte, sie hätten eine Leiche im Arbeitszimmer gefunden.

Nun ... für jemanden wie Kelly Dillons war die Erkenntnis, die sie von Willow erhalten hatte, womöglich auch genau das: Leichenhaft. Schaurig. Mörderisch.

»Was ist passiert, Kelly?«, fragte Charlie, der bis vor zwei Minuten mit seinem Handy beschäftigt gewesen war und dem Gespräch von Vater und Sohn nur halb zugehört hatte.
Kelly musterte ihn, dann ihren Mann und zuletzt Wesley.

Gerade als Willow – zu Wesleys Erleichterung vollkommen unversehrt – neben ihr auftauchte, hauchte Kelly, so leise, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen:
»Willow hat noch nie Weihnachten gefeiert!«

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