KAPITEL 23


Willow starrte auf den Tacho des Autos, als sei er ein positiver Schwangerschaftstest und sie absolut nicht darauf vorbereitet, ein Kind großzuziehen.

»Ähm ... dir ist schon klar, dass wir lebend an unserem Ziel ankommen und nicht als zwei Skelette für die nächste Museumsausstellung, die da heißt: "Hätt'ste nicht auf's Gas gedrückt, wärst du jetzt net mit 'nem Schild bestückt!" enden wollen, oder?«

Lila grinste.

»Was für ein bescheuerter Name! Wieso nicht:"Damals war's das Gas, heute steck'ste im Glas!"?«

Sie lachte. Willow wimmerte, als sie rasend eine Reihe Autos überholten und ihre beste Freundin sich dabei auf den Oberschenkel klopfte. Die Frau ... war lebensmüde!

»Verstehst du? Weil Sachen im Museum doch immer in Schaukästen stecken!«

Willow nickte.
»Ja, ha-ha, guck auf die Straße verdammt!«, fluchte sie dann und hielt sich am Griff über der Tür fest.

Lila lachte nur noch mehr.

»Hey, entspann dich! Heaver hat sich bis jetzt auch noch nicht über meine Fahrkünste beschwert. Sie sieht eben den Zweck, und der besteht darin, früher anzukommen, um nicht noch den vollen Abend zu verpassen. Du willst doch deinen Lover sehen. Ich ermögliche dir das. Du solltest dankbar sein.«

»Ich bin erst dann dankbar, wenn ich aus diesem
Höllen-Auto aussteigen darf und nie wieder einsteigen muss!«

»Auch gut! Das Auto nehme ich gerne, wenn du es nicht mehr brauchst. Meine Rostlaube hätte es durch die nächste Untersuchung sowieso nicht mehr geschafft.
Und wenn du ihn mir so billig anbietest.«

»Ich biete dir gleich eine Tracht Prügel, wenn du jetzt nicht bremst! Der da vorne will die Spur wechseln!«

Lila tat nicht wie ihr geheißen.
Selbstsicher und unbeirrt fuhr sie fort.

»Die Fäuste will ich sehen. Du hast doch sogar Angst vor'm Laufen, weil du eine Ameise am Boden dadurch zufällig zu Tode trampeln könntest. Du würdest mich niemals schlagen.«

»Glaub mir, ich bin erfrischend anders. Ich kann alles, wenn ich es will. Und gerade will ich dich umbringen.«

Lila grinste.

»Ach ja, Willi, ich liebe dich auch.«

Knapp zwanzig Minuten später ragten in der Ferne Hochhäuser und Lichter in der Dunkelheit empor.
Washington, eindrucksvoller wie eh und je, rückte immer näher und damit breitete sich auch Willows Aufregung in ihrem Körper aus. Ihre Glieder zitterten ein wenig und ihr Magen rebellierte – obwohl das auch an ihrer rasanten Fahrerin liegen konnte – und wegen ihres rasenden Herzens wusste sie gar nicht mehr, wo oben und unten war.

Leicht benommen und sich darauf vorbereitend, wen sie gleich vorhatte zu treffen, schloss Willow die Augen und sprach sich Mut zu.
Du siehst toll aus.
Er hat dich vermisst.
Er wird sich freuen.
Du wirst dich freuen.
Alles wird super.

»Da wären wir! Schickes Plätzchen für diese reichen Anzugträger und ihre Partys!«, kommentierte Lila und hielt den Wagen an.
Willow öffnete die Augen.
Ein Hochhaus ragte neben ihr auf. Davor ausgerollt war ein roter Teppich, der bis ins Innere vor eine weitere Flügeltür verlief, hinter der sich vermutlich der gesamte Ball abspielte.
Ihre Finger wurden schwitzig.

»Lila, ich kann das nicht! Siehst du die Türsteher und diesen Kronleuchter da im Eingang! Das ist doch verrückt!«

Lila schüttelte den Kopf.

»Das Einzige, was hier verrückt ist, bin ich. Du bist einfach nur verliebt und willst deinen Mann überraschen. Das ist süß und es wird ihn sehr freuen. Außerdem bist du hier, um Spaß zu haben. Feier ein bisschen, trink und iss und lerne neue Leute kennen. Das wird super! Sei ein bisschen optimistisch.«

»Und du meinst, meine Robe ist auch okay?«

Lila musterte sie.

»Natürlich ist sie das! Du trägst das schönste Kleid, das ich jemals gesehen habe. Wenn ihm dabei nicht die Augen ausfallen, dann weiß ich auch nicht weiter.«

Willow sah selbst an sich herunter.
Sie trug ein nachtblaues Cocktailkleid, das mit goldfarbenen Pailletten versehen war.
Der Stoff schmiegte sich eng um ihre Oberweite und betonte den herzförmigen Ausschnitt, ehe sich das Kleid am Rock, der bis zu den Knien ging, ausweitete und bei jeder Bewegung umherwirbelte.
Sie selbst hatte sich in dieses Kleid verliebt.
Mit einer goldenen Kette, ein paar Ringen an den Fingern und ihren Haaren zu einem lockeren Dutt sah sie elegant und frech zugleich aus. Ihr gefiel dieser Style, doch sie wusste nicht, ob sie wirklich angebracht genug für einen Ball angezogen war.
Sie wusste nicht, ob sie reichte. Und das machte sie unfassbar nervös.

»Na, los! Raus mit dir! Dieser Abend geht nicht bis in alle Ewigkeit und ich bin jetzt nicht umsonst hierher gefahren, damit du kneifen kannst. Heaver, jag deine Besitzerin mal aus diesem Auto!«

Heaver tat nichts dergleichen. Sie schwenkte ihren Kopf bloß abwechselnd von Willow zu Lila und wieder zurück zu Willow.

»Okay, okay, ich mach ja schon!«

Abwehrend hob Willow die Arme, küsste Heaver zum Abschied, atmete noch einmal tief durch und stieg dann aus dem Auto.
Lila fuhr mit rasender Geschwindigkeit davon und Willow war ihr dankbar, denn damit zwang sie sie zu einer Tat.

Nervös strich sie ihr Kleid glatt, reckte dann das Kinn und stöckelte langsam über den roten Teppich auf die beiden Riesen am Eingang zu.
Ihr Herz raste, doch die Gorillas musterten sie bloß.

»Guten Abend«, wünschte Willow und lächelte leicht. Einer der beiden hob überrascht die Augenbraue.
Er schien im Alter zwischen vierzig und fünfzig zu sein. An seiner linken Pranke glänzte ein Ehering und er sah, wenn man ihn näher musterte, gar nicht so furchteinflößend aus, wie man zunächst dachte.

»Terrance und Fergus«, hieß es auf den Namensschildern der beiden und Willow streckte letzterem im Anzug ihre Hand entgegen.
»Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Fergus musterte sie mit überraschtem Blick.
Seine Miene wirkte starr, doch in seine Augen trat ein gerührter Schein.

Er wechselte einen Blick mit Terrance, ehe er Willows Hand tatsächlich entgegen nahm.

»Miss«, grüßte er zurück. Ein wenig verwundert, das ein Gast dieser Gala sich dazu hinabließ, ihn zu begrüßen. Obwohl ... das Mädchen wirkte nicht wie eine gebürtige Frau der Washingtoner Oberschicht. Frauen dieser Art bewegten sich anders und hatten einen kühleren, arroganteren Schimmer. Dieses Exemplar einer Schönheit strahlte durch und durch von Freundlichkeit und Willows nächsten Worte bestätigten das, unbeirrt:
»Willow reicht vollkommen«, entgegnete sie mit abwinkender Hand und bedankte sich höflich, als beide ihr die gläsernen Flügeltüren zum Foyer des Eingangs aufhielten. Fergus und Terrance tauschten einen erstaunten, aber beeindruckten Blick.
Willow atmete die angestaute Luft aus.

»Dann wünschen wir einen angenehmen Abend, Miss Willow«, erhob Terrance rau das Wort.
Willow bedankte sich abermals.
»Und ich wünsche Ihnen einen schnellen Feierabend«, lächelte sie.
Dann durchschritt sie zögerlich die hohen Türen und trat in das klimatisierte Foyer, das ihr sofort die Gänsehaut von den Armen fegte.

Der Eingang bestand aus hellem Marmor.
Ein Kronleuchter aus Glas hing von der Decke auf sie hinab.
Die Wände waren schlicht weiß, doch auf der Mitte des Bodens war ein kunstvolles Mosaik gesteckt, das einen Moment an Willows Aufmerksamkeit zerrte.
Es sah wunderschön aus! Eine Seerose.

»Entschuldigen Sie, Madame, wie lautet ihr Name?«

Eine streng aussehende Dame in einem türkisfarbenen Jumpsuit trat wie aus dem Nichts hervor und hielt ein Klemmbrett mit einer Unzahl an Papieren in den Händen.

»Willow. Willow Telieve«, sagte Willow wahrheitsgemäß und sah dann nachdenklich der jungen Dame beim Durchblättern der Papiere zu. Sie schien ebenfalls zum Personal zu hören. Malia Vision stand auf ihrem Namensschild.

»Sie stehen gar nicht auf der Gästeliste. Dann kann ich Sie leider nicht in den Saal lassen.«
Die kleine Brünette hob bedauernd den Kopf und musterte Willow dann einen Moment abfällig.

Diese versuchte das zu überspielen.
Gästeliste? Daran hatte sie gar nicht gedacht! Aber natürlich gab es so etwas. Die Highsociety Washingtons wollte sich ja auch nicht mit jedem Hochstapler herumschlagen.

So ein Mist!

»Ja, wissen Sie, das ist eine lustige Geschichte! Ich wurde von jemandem höchstpersönlich eingeladen. Er heißt Wesley. Aber ich habe ihm gesagt, dass ich keine Zeit habe, weil ich ihn überraschen–«, begann sie das Missverständnis aufzuklären. Malia würde das sicher verstehen ...
»Hören Sie. Ihre Märchen können Sie jemand anderem erzählen. Sie stehen nicht auf der Gästeliste, darum bitte ich Sie jetzt freundlich, zu gehen. Andernfalls muss ich den Sicherheitsdienst rufen.«
...oder auch nicht.

Wie bitte? Willow schluckte. Die Security da draußen etwa? Sie war doch keine Lügnerin!

»Ich schätze, das können wir auch anders klären. Wenn Sie Wesley holen würden,
dann ...«

»Sicherheitsdienst!«, schrie Malia und ließ Willow erschrocken zusammenfahren.
Die Türen hinter ihr gingen auf und wie nicht anders zu erwarten traten Terrance und Ferguson durch die Tür und hinter sie.

»Malia«, nickten sie.

Sie blieb hart im Gesicht. Kein Funken Sympathie.
Diese Frau nahm ihren Job mit vollem Ernst.

»Schaffen Sie mir diese Lügnerin aus den Augen! Sie ist kein geladener Gast!«, stellte Malia klar und bekam ein beinahe teuflisches Grinsen, als Terrance und Ferguson hinter Willow traten.

»Miss Willow, ist das wahr?«

Willow nickte zögernd.
»Ja, aber–«
Wieder wurde sie unterbrochen.

»Dann müssen wir Sie unter diesen Umständen bitten, mit uns zu kommen.«

Die beiden Bodyguards schienen unbehaglich. Sie versuchten höflichst und ohne Willow dabei anzufassen, die nette Dame mit sich zu nehmen.
Doch das war gar nicht nötig. Denn wieder aus dem Irgendwo trat ein großer blonder Kerl in einem maßgeschneiderten dunkelblauen Anzug zu ihnen und sah fragend in die Runde.

»Was geht denn hier vor sich?«, fragte er an Malia gewandt und wartete auf ihre Antwort. Sie sah selbstgefällig und gehässig in Willows Richtung.
»Diese Frau dort behauptet, von Mister Dillons persönlich eingeladen worden zu sein. Aber sie steht nicht auf der Gästeliste! Darum wird sie jetzt sofort des Geländes verwiesen!«

Ohne Frage, Malia war eine sehr verletzte Frau.
Niemand war grundlos so kaltblütig und taub, wie sie in diesem Moment.
Willow tat sie unglaublich leid. Irgendwo sah sie sich selbst in den kalten Augen der Dame im Jumpsuit.

Der große Kerl, der in Willows Alter zu sein schien, hob eine Augenbraue und trat näher an Willow heran.
Sie musterte ihn eingängig. Er sah mächtig aus.
Breite Schultern, gerade Haltung, ein kantiges Gesicht, aber freundliche und verspielte Augen.

Einen Moment schien jeder im Raum die Luft anzuhalten.
Willow insbesondere, die diesen Abend schon jetzt für einen kompletten Reinfall hielt und bereute, jemals hergekommen zu sein.
Wieso hatte sie Wesley auch angelogen?
Oder ... zumindest nicht die Überraschung platzen lassen, als sie selbst davon gewusst hatte?
Dann hätte er sie ganz bequem auf die Gästeliste gesetzt und dieselbe Freude gehabt – oder auch nicht.

Was wenn er für diesen Abend doch noch eine Begleitung gefunden hatte?
Wie unangemessen wäre es, wenn sie nun auftauchte!

In dieser einen Sekunde überdachte sie all ihre Handlungen und wurde von panischer Unsicherheit überfallen, die wie eine Blase zerplatzte, als dem blonden Mann im Anzug plötzlich ihr Name über die Lippen rutschte.

»Du bist Willow! Willow Telieve!«, stellte er fest und ein überdimensionales Lächeln malte sich auf seine Lippen.
Willow blinzelte perplex.
»Ja, woher-?«
»Woher ich das weiß? Na ja, mir ist nur ein Name einer Dame bekannt, die Wesley auf eine solche Veranstaltung einladen würde und die bist anscheinend du.
Charles Anderson! Es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen!«

Ehrlich anteilhaft streckte er ihr die Hand entgegen.
Willow nahm sie mit kräftigem Handdruck an.
Das war also der berühmt berüchtigte Charlie. Wesleys bester Freund und Anwalts Partner. Willow musterte ihn einige Sekunden perplex, vor allem aber beeindruckt. Was hatten diese Washingtoner Anwälte nur in sich, dass sie so gut aussahen. Das dunkelblonde Haar, die stechenden grünen Augen und dann diese statischen, breitschultrigen Oberkörper, hinter denen sich eine Frau wie sie gleich zweimal verstecken konnte, ohne gesehen zu werden. Charles war groß, sexy und intelligent genug, um zu wissen, dass er sich genau so selbstbewusst aufführen konnte, wie er es gerade tat. Willow war beeindruckt. Vor allem, da er trotz allem einfach nur unheimlich sympathisch erschien.

»Die Freude liegt ganz auf meiner Seite!«

Sie lächelten einander an.

»Mensch. Das ist aufregend. Ich hatte gehofft, dich bald kennenzulernen, aber Wesley behauptete stets, du würdest nicht kommen. Na ja, anscheinend hat er gelogen!«

»Nein. Hat er nicht. Ich wollte ihn überraschen. Aber anscheinend fällt das ins Wasser, denn das unfeine Landei in mir hat von sowas wie Gästelisten noch nie gehört.«

Charles winkte lachend ab.
Ihm gefiel diese Frau. Sie hatte Mut, Kraft und Humor.
Sie passte perfekt zu Wesley.

»Ach, was. Ist doch nur Papier. Natürlich kommst du mit herein. Du bist ein VIP-Gast. Malia, schreib dir das hinter die Ohren!«, wies Charles die junge Frau an, die leicht rot um die Wangen geworden war.

Willow glaubte Zorn in ihren Augen zu sehen. Aber sie wusste nicht, weshalb.
Was hatte sie diesem Mädchen getan?

»Aber natürlich, Sir. Wird sofort gemacht. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt.«

Sie log.
Aber Charles schien ihr das Lächeln abzukaufen.
Willow schluckte ihr Unwohlsein und ihre Fragen hinunter und bedankte sich. Sie war nicht wegen Malia gekommen, sondern wegen Wesley und genau den war Charles gewollt zu finden, als er ihr die Tür zum Ballsaal aufhielt.

»Dann mal hinein ins Getümmel!«

Charles ließ sie vorgehen.
Ein riesiger Saal in elegantem rot-gold Ambiente beugte sich vor ihr.
Links und rechts waren lange Tafeln für das Dinner gedeckt, in der Mitte war eine Schenke aufgestellt und rundherum standen aberhunderte Menschen in vornehmen Kleidern und Anzügen, unterhielten sich, tranken Champagner und Wein oder tanzten auf einer dafür vorgesehenen Fläche.

Willow blieb die Spucke weg, als sie die goldenen Ornamente an den Fensterscheiben und den Deckenwänden, sowie den riesigen diamantenen Kronleuchter an der Decke sah.
Ohne Frage, dieser Ort war ein Vermögen wert und sie begab sich auf ein Terrain mit Menschen, denen dieser Lifestyle, solche Räume und Veranstaltungen gängiger waren, als Besuche beim Hausarzt.

Es war verrückt.
Aber auch wunderschön.

»Und? Hat das Landei in dir diesen Ort erwartet?«, fragte Charles, der sich neben sie gesellte.
Willow grinste ihn an.
»Ehrlich gesagt, ja. Ich konnte mir diesen Ort nicht vorstellen, aber er passt perfekt zu dem Wesley, den ich ganz zu Anfang kennenlernte. Es ist protzig, teuer und arrogant.
Perfekt

Charles lachte.

»Glaube mir, perfekt ist hier nur der Schein. Siehst du die Dame dort vorne in dem schrecklichen Khakikleid?«

Er deutete auf eine leicht pompöse Dame mit einem überdimensionalen Hut aus hoffentlich Kunstfedern.

»Misses Jay ist an diesem Abend schon fünf Mal zur Toilette gegangen. Vermutlich hat sie sich den Magen verdorben. Zumindest kursiert darüber das Gerücht unter den Frauen, die nach ihr die Toiletten aufgesucht haben.«

Willow verzog den Mund.
Die arme Frau!
Aber von dem piekfeinen Dinner, das vermutlich aus den exotischsten Tieren und Pflanzen bestand, wäre ihr vermutlich auch schlecht geworden.
Glücklicherweise war sie drei Stunden zu spät und konnte sich jetzt nur noch am Dessert, das auf einigen Buffettischen aufgestellt war – und verdammt köstlich aussah – bedienen.

»Und siehst du den Kerl dort mit der Glatze?«

Willow nickte.

»Er wird morgen als Skandal der Woche auf dem Titelblatt jeder Zeitung sein. Seine Frau ist heute nämlich auf seine zwei Affären gestoßen.«

Willow hielt die Hand vor den Mund. Fürs Fremdgehen hatte sie absolut kein Mitgefühl oder Verständnis.
Wer heiratete, ging damit ein Bündnis ein, das Treue einschloss und dabei auch hochgehalten werden sollte.
Sie glaubte daran, dass bestimmte Menschen für immer zusammengeschweißt worden waren. Und wenn es doch nicht passte, wenn man sich irrte, dann konnte man wenigsten den Stolz des anderen wahren und ihn vorher verlassen, bevor man sich auf jemand neues einließ. Oder zwei.

»Wo wir gerade beim Fremdgehen sind, Charlie. Falls Wesley heute Abend mit einer Begleitung hier aufgelaufen ist, solltest du mich jetzt aufklären, damit ich ihm und mir die Peinlichkeit sparen und direkt zum Buffet abbiegen kann. Ich dachte, man könne Menschen auf simple Art und Weise überraschen, aber das hier ist eine andere Welt für mich und ich kenne mich mit den Regeln absolut nicht aus.«

»Glaub mir, Willow, man fuchst sich schnell in diese Welt. Und keine Sorge, Wesley und ich spielen auch nicht nach den Regeln. Ganz zum Bedauern unserer Mütter, die sich so darauf gefreut hatten, dass wir heute Abend in weiblicher Begleitung erscheinen würden. Aber wie jedes Jahr sind wir beide gemeinsam erschienen, was bedeutet, theoretisch spannst du mir heute Abend das Date aus.«

»Oh, nein! Das tut mir furchtbar leid!«

Charles hielt sich ironisch die Hand aufs Herz und seufzte.
»Ich verzeihe dir. Zumindest, wenn du ihn mir wieder ein wenig aufpäppelst. Du hättest ihn die letzten Wochen erleben sollen, er war unerträglich!«

»Wer war unerträglich?«

Eine Frauenstimme mischte sich in das Gespräch und neben Charles tauchte plötzlich eine Dame in einem wunderschönen violetten Kleid im Meerjungfrauenschnitt auf.
Ihr dunkles Haar trug sie offen, ihre Lippen waren ungeschminkt.

Willow war sie sofort sympathisch. Und sie schien ihr bekannt zu sein. Es war als kenne sie sie schon eine lange Zeit.

»Oh, Kelly ... niemand natürlich!«
Charles hob abwehrend die Hände in die Höhe und spannte die Schultern an.
Die Dame in Violett, die physikalisch gute zwei Köpfe kleiner war, als der blonde Riese, hob eine Augenbraue.
Es war nicht zu übersehen, dass Charles mächtigen Respekt vor ihr hatte.

»Wieso glaube ich dir das nicht, Anderson? Und noch etwas, warum bekomme ich das Gefühl, dass du mit dieser jungen Dame über meinen Sohn sprichst?«

Sohn?

Willow riss die Augen weit auf.
Natürlich! Diese Augen und diese Haare!
Kelly war Wesleys Mum!

Sie musste wie eine Eisstatue aussehen. Zumindest gefror Willow, als Kellys Blick sich auf sie richtete und sie von oben bis unten von der Lady inspiziert wurde.

»Und wer sind Sie überhaupt? Ich habe Sie noch nie zuvor gesehen ...«, richtete Kelly verwirrt das Wort an sie.
Willows Kehle trocknete sich.

Ach du Scheiße! Das war Wesleys Mom!

Und sie war bezaubernd!

Kelly legte den Kopf schief.
Willow öffnete den Mund, doch keine Silbe wollte ihr über die Lippen springen.
Als wäre der Trubel noch nicht genug, rief in diesem Moment jemand laut ihren Namen.

»Willow?«

Sie wirbelte herum und ihre Welt schien abermals stehenzubleiben, als sie den Lockenkopf in einem dunkelblauen Anzug nur ein paar Meter von ihr entfernt stehen sah. Und er sah perfekt aus. Der Anzug betonte seine breiten Schultern und die schützende Gestalt. Seine Locken waren weich geformt und seine schönen grünen Augen funkelten, wie selten zuvor.
Als er zu realisieren schien, dass sie tatsächlich gekommen war, breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus. Ein Lächeln, das Willow noch nie zuvor auf seinem Gesicht hatte strahlen sehen, aber das so glücklich wirkte, dass sie ihr Herz in Ohnmacht fallen spüren konnte. Wesley setzte sich in Bewegung.
Neugierige Gäste machten ihm den Weg frei, den er achtlos fortsetzte.

»Willow?«, hörte Willow Kelly hinter sich fragen.
Sie schien offensichtlich keine Ahnung von der Bekanntschaft zwischen ihr und ihrem Sohn zu haben. Aber Willow ließ das außer Acht.

In diesem riesigen Saal existierten von einer Sekunde auf die andere keine weiteren Menschen mehr.
Und als Wesley die letzten Meter Abstand zwischen ihnen überwand und er sie ohne zu zögern in seine Arme hob, war die gesamte Welt vergessen.

Zuhause, dachte sie.

Wesley konnte es nicht glauben, als er die Taille der Brünette umschlang und sie in die Luft hob, um sie im Kreis zu wirbeln.
Einmalig stieg ihm der Duft nach Früchten und irgendwelchen Gartenkräutern in die Nase, obwohl sie das mit einer Note Parfüm zu verdecken versucht hatte.
Auch dieses Kleid konnte sie nicht verstecken.
Er kannte diese Rundungen, diese Arme, die sich an ihm festhielten, und das Kichern, an seinem Ohr.

Zuhause, dachte er und tat sich schwer darin, Willow nach einigen Sekunden wieder auf die Beine zu lassen.

Mit strahlendem Blick musterte er ihr Gesicht.
Die Sommersprossen, die braunen Augen, das wilde Haar und diese traumhaften Lippen. Alles war noch am selben Ort.
Nur die Ohrringe, die waren neu.

»Wow, du siehst ... atemberaubend aus!«, stellte er fest, als er sie in dem nachtblauen Kleid musterte, das aussah, als würde sie einen Sternhimmel bei sich tragen. Es sah genauso magisch aus, wie diese Frau im Allgemeinen war.

»Du siehst auch gar nicht so schlecht aus«, gab sie das Kompliment halbherzig zurück und für diese feixende Grimasse auf ihrem Gesicht war Wesley bereit vor den Augen aller auf die Knie zu sinken.

»Wie kommt es, dass du doch hier bist? Ich dachte ...«

Willow winkte ab.

»Ich weiß, was du dachtest. Offen gestanden war das hier eine spontane Entscheidung, die dich überraschen sollte.
Hätte ich allerdings gewusst, dass ich auf einer Gästeliste stehen muss, bevor ich den Saal betreten darf, hätte ich mir das zehnmal überlegt.«

Wesley verstand in diesem Moment nur Bahnhof.
Er würde es sich gleich noch einmal genauer erklären lassen. Jetzt konnte er seine übermäßige Freude einfach nicht bei sich behalten und genau aus diesem Grund zog er Willow wieder zu sich und umarmte sie fest.

»H-Hm!«, räusperte sich irgendwann jemand neben ihnen und ein wenig in Trance löste sich Willow von Wesley, um mit geröteten Wangen zu Charles und Kelly zu sehen.
Ersterer zwinkerte ihr grinsend zu, während Kellys Blick undeutbar war. Willow bekam eine Gänsehaut.
Würde diese Frau sie akzeptieren?
Sie war nicht gerade das gelbe vom Ei. Bestimmt hatte sich Kelly Dillons, eine Frau von Name und Bild, eine hübschere und weitaus erfolgreichere und gebildetere Frau an der Seite ihres Sohnes vorgestellt. Eine Frau, die Schmuck nicht trug, um schöner zu wirken, sondern die Schmuck schöner wirken ließ. Eine Frau, die nicht so kaputt war ...

Wesley registrierte seine Mutter erst jetzt.
Seine Pupillen weiteten sich ein wenig, als er ihren strengen und fragenden Blick auf sich wahrnahm.
Innerlich seufze er, doch äußerlich war ihm klar gewesen, dass es zu dieser Begegnung früher oder später sowieso gekommen wäre.
Zumindest, wenn er Willow auch fernerhin in seinem Leben haben wollte. Und das war eindeutig der Fall.

»Mom, darf ich dir Willow vorstellen? Ich habe sie ...« Er kratzte sich am Kopf.
»In meinem Urlaub kennengelernt«, beendete er seinen Satz schließlich vage und wandte sich dann wesentlich wohler an Willow.
Seine Willow, die an diesem Abend erstrahlte, wie der Diamant, der sie nun einmal war. Das Kleid, die Haare, die Schuhe, ihr sanftes Lächeln und die wahnsinnig golden schimmernden Augen. Sie war die Schönheit in Person und er wusste, dass er diese Meinung mit vielen Beteiligten in diesem Saal teilte. Einer Frau von Natur konnte niemand sonst das Wasser reichen.

»Und Willow, das ist meine Mutter Kelly Dillons und direkt neben ihr, mein bester Freund Charles Anderson.«

Willow lächelte.

»Ja, mit ihm bin ich schon bekannt. Vielen Dank übrigens für deine Rettungsaktion.
Und Madame? Es ist mir eine große Ehre, Sie kennenzulernen!«, wandte sich Willow diesmal mit mehr Mut an Kelly und streckte die Hand aus.

Als diese ihre Geste nicht sofort erwiderte, wurde Willow unruhig, doch Kelly Dillons meinte es nicht böse mit ihr.
Sie war bloß viel zu fasziniert von der Hand ihres Sohnes, die wie selbstverständlich um die Taille des wunderschönen Mädchens gelegt war, das in diesem Kleid einen Charakter ausstrahlte, der das Licht an der Decke überstrahlte. Und das ohne viel Schmuck oder geschminkte Augen.
Sie war ganz sie selbst – ihr Lächeln, ihr Auftreten und ihre Nervosität – und sie war traumhaft.

»Liebes, wen nennst du hier Madame? Kelly reicht vollkommen!«, durchbrach Wesleys Mutter die unangenehme Stille irgendwann und zog Willow, direkt wie eine Dillons eben sein konnte, zu sich, um sie in den Arm zu nehmen.

Dieses Mädchen ist anders, spürte Kelly, als sie Willow ihre Geste erst angespannt und dann doch recht zutraulich erwidern fühlte.
Beinahe klammernd schlangen sich Willows Arme um ihre Taille und Kelly lächelte, während sie über Willows Schulter zu ihrem Sohn sah, der ganz genau wusste, dass er ihr eine ganze Menge – und sie meinte eine riesige Menge – zu berichten hatte.

Wie konnte er ihr dieses Mädchen verschweigen?

Dieses Mädchen, von dem er die Augen nicht lassen konnte.
Dieses Mädchen, wegen dem sie Eifersucht in seinen Lidern sah, obwohl es bloß seine Mutter umarmte.
Dieses Mädchen, das ihn mit seiner bloßen Existenz sofort glücklich machen konnte.

Die Unerträglichkeit ihres Sohnes war ihr in den letzten Gesprächen und knappen Konversationen nämlich ebenfalls aufgefallen und kaum war diese Brünette hier, wirkte er aufgeschlossener denn je.

Ihr Herz blühte auf.
Es war überwältigt von diesem Moment.
Denn diesen Moment, dieses Verhalten hatte es schon vor einer langen Zeit herbeigesehnt und stets gemisst. Diese Zufriedenheit, dieses Jugendhafte und Verspielte.
Das alles war in Wesley für diese paar Sekunden zurückgekehrt und riss Kelly aus der Realität in einen wundersamen Traum.

»Mom, lass sie los. Du erdrückst sie sonst noch«, meldete sich Wesley zu Wort.
Kelly löste sich lächelnd von Willow und sah ihr wärmend in die Augen.
»Ich bin sehr erfreut, dich kennenzulernen, Liebes. Du musst unbedingt beim nächsten Dinner bei uns erscheinen. Ich will haargenau wissen, wie du meinen Sohn so um den Finger gewickelt hast. Und streitet es gar nicht erst ab. Ihr seid nicht nur Freunde«, grinste sie, tätschelte Willows Hand und wandte sich dann abrupt ab, eine Taktik, die sie früh gelernt hatte, damit sich Wesley nicht ihrer Einladungen entziehen konnte.

»Habt noch einen wunderschönen Abend, Kinder. Und Charles? Ich gebe dir vollkommen recht. Aber mit diesem Mädchen kann sich alles nur zum Guten wenden«, zwinkerte sie und wandte sich dann mit einem frohen Herzen endgültig ab, um ihren Mann zu finden.
Er würde nicht glauben, was er hier verpasst hatte.

In der Menge war sie sofort verschwunden.
Und niemand konnte so recht aufnehmen, was sie gesagt hatte.
Wesley hatte nicht einmal richtig zugehört.
Willow war überwältigt von dieser ... mütterlichen Geste.
Und Charles war einfach Charles.

»Okay, du musst mir alles erklären! Wie kommt es, dass du doch hier bist? Was meinst du mit Rettungsaktion? Und hat meine Mom dich gerade zum Dinner eingeladen?«

Wesley durchbrach die Stille.
Willow grinste zwischen den Männern hin und her.

»Alles zu seiner Zeit, Wes. Aber weißt du, ich hab da diesen Cupcake-Turm auf dem Tisch dort vorne gesehen und ... da muss ich jetzt mal eben hin.
Ich sterbe vor Hunger!«, platzte es aus Willow hervor und der Direktheit wegen sahen sich die beiden besten Freunde fassungslos an, als sie Willow durch die Menge in Richtung Süßkram folgten.

Frauen.

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