KAPITEL 17


Es war kalt.

Aber Wesley wusste nicht, ob das an den tatsächlichen Temperaturen der frischen Luft lag oder Willows Abwesenheit, die sich mit jeder verstreichenden Minute wie eine blanke Ranke aus Eis um seinen Körper klammerte und ihn zu ersticken drohte. Er fühlte sich seltsam leer. Sein Herz schlug andere Töne, seit sie nicht mehr bei ihm war, und so langsam gab ihm die gesamte Angelegenheit doch deutlich mehr zu denken, als er es je für möglich gehalten hatte.
Nach über einer Stunde des Suchens breitete sich langsam eine Panik in ihm aus, die grauenhafte Ausmaße annahm. Da spielten Szenarien in seinem
Kopf, die er sich niemals mit Willow in der Mitte vorstellen wollte. Szenen, die ihn seltsam aggressiv machten, obwohl er privat absolut nichts mit Gewalt zu tun hatte. Wesley war kein Schläger oder Waffenschütze. Er konnte mit beiden Dingen umgehen. Mit sowohl seinen Fäusten als auch einer Finte. Aber das waren Dinge, die er nur in absolutem Selbstverteidigungsmodus benutzen wollte und auch nur aus diesen Gründen im Umgang erprobt hatte.
Als Vertreter des Gesetztes stand es ihm nicht, Prügel verteilen zu wollen und die kosteten ihn im Ernstfall nur den Job.
Wesley wollte auch gar nicht mit aufgeplatzten Fäusten durch die Gegend laufen. Dieser Drang hatte ihn nie gepackt.
Bis jetzt.
Jetzt wollte er sogar noch weiter gehen. Er wollte morden, sollte sich herausstellen, dass es tatsächlich jemand gewagt hatte, seine Hand an Willow zu legen.
Es baute sich wie eine bedrohliche Macht in ihm auf und anfangs dachte er, er würde neben sich stehen, aber das war ein Irrtum.
Nein, die mörderischen Gedanken filterten sich aus seinen eigenen Gedanken und Empfindungen und wurden durch keine böse Macht in ihm heraufbeschworen.
Es war eine neue Seite seines Charakters, die sich genau in diesem Moment aus seinem Verstand bildete.

»Weißt du einen Ort, wo sie noch sein könnte?«, fragte Wesley das weiße Ungestüm vor sich, dass wie ein Spürhund bei der Polizei schon die gesamte Zeit über den Boden abschnüffelte.

Nachdem sie einmal alle Wege in der Stadt abgelaufen waren, die Willow tagsüber gerne passierte, und sich sogar durch einen Teil des Waldes und zum See getraut hatten, bei dem Wesley am ehesten gehofft hatte, dass sie sie dort finden würden, gingen ihm nun langsam die Ideen aus.
Auch Heaver sah ihn ratlos an. Sie war es nicht gewohnt, dass Willow sie alleine ließ und nicht einmal andeutete, wohin sie gehen wollte.
Eine unverfrorene Angst lähmte ihre Knochen zunehmend und sie bekam es mit einem ernsthaften Bangegefühl zu tun.
Was, wenn Willow nicht zurückkam? Was, wenn sie sie verlassen hatte?
Selten waren Heaver derartige Zweifel gekommen. In den letzten Jahren niemals. Aber jetzt plötzlich war alles anders.

Weitere zwanzig Minuten irrten sie durch den Ort, bis plötzlich Wesleys Handy dringlich zu klingeln begann.
Wie von einer Tarantel gestochen, fischte er das Smartphone aus seiner Hosentasche und nahm den unterdrückten Anruf entgegen.
»Willow?«
Ein Summen und Brummen war am anderen Ende zu hören. Es wummerte durch den Hörer, als sei ihr Gesprächspartner inmitten einer feiernden Meute.
»Nein, nicht Willow. Hier ist Lila«, meldete sich die verzögerte Stimme von Willows Freundin. Wesley hob eine Augenbraue. Wo zum Teufel steckte diese Frau?
»Hör mal, Wesley. Ich weiß ja nicht, was zwischen euch beiden vorgefallen ist, aber Willow kommt niemals hierher. Sie hasst den Kontrollverlust in dieser Umgebung und die Leute, die sich beim Saufen verlieren. Eigentlich geht sie auch nicht in der Dunkelheit durch die Stadt. Sie hat Angst davor.«

Wesley unterbrach ihre Predigt über Willow Vorlieben und Abneigungen.
Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.

»Lila, wovon zum Himmel sprichst du? Und wo bist du? Wo ist sie

»Sie ist bei mir. Im Jack's. Ich habe Spätschicht an der Theke und sie ist vor knapp vierzig Minuten total aufgelöst hier angekommen, hat irgendwas vor sich hin genuschelt und mich um einen Cocktail gebeten. Ich konnte gar nicht so schnell gucken, da hatte sie-«

Lilas Gerede wurde ein weiteres Mal unterbrochen. Diesmal allerdings von einer schrillen und abgedreht klingenden Stimme, die nur zur Hälfte der Person gehörte, die Wesley in den letzten Tagen kennengelernt hatte.

»Ey! Mit wem redest du? Ist das Wes ... leyyyy? Geht ihr beide mir fremd? Ach ich kann's verstehen ... Bei dem Knackarsch! Hi-hi ... Knack-«

Was? Knackarsch?

»Kannst du kommen? Ich kann nicht länger auf sie aufpassen und hier sind einige Kerle, mit denen ich sie ungern alleine lasse.«
»Bin schon unterwegs«, hauchte Wesley und folgte Heaver, die ihre vier Hufe in die Hände genommen zu haben schien.
Ehe er auflegen konnte, fügte Lila allerdings noch hinzu: »Und, Wesley! Was immer zwischen euch vorgefallen ist, klärt es! Ich kann dich bisher echt gut leiden, aber solltest du irgendetwas tun, was meiner Freundin das Herz bricht, dann mach ich deinen Knackarsch zu Wackelpudding!«
Damit legte sie auf und es kehrte die Stille ein, die auch vor dem Anruf geherrscht hatte.
Einige Sekunden starrte Wesley unverwandt seinen Handybildschirm an und konnte nicht glauben, was für ein Telefonat er gerade geführt hatte.
Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte er sich im vollkommen falschen Film, in dem es von Wackelpudding und Hinterteilen nur so wimmelte.

Was zum Kuckuck?

Er wusste, dass Willow betrunken war. Aber sie so losgelöst reden zu hören, während sie vollkommen neben sich stand, war ein Bild, das sich nur schwer in sein Bewusstsein malte.
Es passte überhaupt nicht zu dem kleinen Wirbelwind, dass sie sich einfach davonschlich und dann betrank. Was hatte das alles für einen Auslöser?
Etwa bloß, weil er sich für einen Anruf hatte entschuldigen müssen?

Ja. Er gestand sich selbst ein, dass Charlie einen denkbar schlechten Zeitpunkt ausgesucht hatte, um sich bei ihm zu melden, aber es war um die Organisation der nächsten Woche gegangen, die Wesley noch in Innerforks bei Willow verbringen wollte und das hatte er frühzeitig klären müssen.

Nicht länger nachdenken, sondern die Sache klären wollend, setzte Wesley sich in Bewegung und machte sich daran, Heaver einzuholen, die mit Abstand vor ihm trabte.
Wieso auch immer sie so klug war, aber sie schien dem Anruf entnommen zu haben, wo sich Willow befand und wies ihm nun den Weg.
Sie durchliefen Innerforks dunkelste Ecken, ehe sie am anderen Ende der kleinen Stadt vor einem spärlich beleuchteten Schuppen mit abgewetzter Holztür und abblätterndem Schild stehenblieben.
Der wummernden Musik, die aus dem Inneren des Klappgestells von einem Club kam, nach zu urteilen, war dies genau der Ort, an den Willow sich verkrochen hatte und nun über seinen Hintern philosophierte.

»Du wartest hier. Ich hole sie«, sagte Wesley zu Heaver, die an der Eingangstür kratzte, als würde die Tür sich dadurch auf magische Weise öffnen.
»Tiere sind hier mit Sicherheit nicht erlaubt«, bemerkte Wesley, als die Ziege ihm nicht aus dem Weg gehen wollte.
Auf diesen Kommentar drehte Heaver sich erhobenen Hauptes um und funkelte ihn wütend an.
Unschuldig hob Wesley die Arme.
Heaver roch seine Angst und gab sich innerlich geschlagen. Sie wusste ja, dass er recht hatte. Komischerweise hatte beinahe jeder Mensch ein Haustier, aber wenn es darum ging, dieses ins Haus oder aufs Sofa zu lassen, rasteten sie alle aus.
Gespielt brav setzte sie sich auf ihren Hintern und machte Wesley den Weg frei. Sie gab ihm zwanzig Minuten, ansonsten würde sie diese Tür zur Schnecke machen und danach jeden, der sich ihr in den Weg stellte.
Wesley schluckte angewidert, als er die Tür zum Jack's öffnete. Knarzend und beinahe aus ihren Angeln fallend öffnete sich die Tür.
Ein kleiner Flur mit schwarz-weißen Fliesen führte geradewegs auf eine Treppe zu, die in der Schenke enden musste, denn die Musik wurde immer lauter.
Ein ziemlich launischer Country-Song hallte durch die Bruchbude und verhaltene Kerle schienen ihren Spaß daran zu haben, laut mitzugrölen.
Wesley ballte die Hände zu Fäusten und biss die Zähne aufeinander. Was auch immer ihn dort unten erwarten würde, er wusste, es würde ihm nicht gefallen.

Und damit lag er vollkommen richtig.
Kaum hatte er die Treppe passiert, stand er in einem offenen Raum voller Menschen. Sie saßen an Holztischen mit ihrem Bier in der Hand, klapperten über die provisorische Tanzfläche in der Mitte des Saals oder drängelten sich an der Theke, hinter der er Lila entdecken konnte, die sekündlich ein Glas nach dem anderen austeilte.
Dass jemand wie sie, eine so zart scheinende Frau, hier arbeitete, hatte Wesley nicht erwartet, aber vermutlich waren die Einnahmen mit dem Café einfach unzureichend in einer Stadt wie dieser.
Mit Willows Freundin wollte sich Wesley allerdings gar nicht länger beschäftigen. Irgendwo musste schließlich jedermann arbeiten und es gab schlimmeres als Barfrau in einem Hinterwäldlerschuppen zu sein.
Viel wichtiger war Wesley die junge Frau, die er in einer Ecke auf einem Holztisch sitzen sah.
Das Haar zerzaust, ein Glas Wein in der Hand, die Wangen tiefrot und das Hüftband ihres Bademantels nur noch locker offen, thronte Willow inmitten einer Männermeute, die ihr grölend unverständliche Worte zuriefen und sich prächtig mit ihr amüsierten.
Eine Finsternis huschte über Wesleys Gesicht, als einer der Männer seine Hand nach Willow ausstreckte und unscheinbar an ihrem Bademantel zupfte.
Sofort kam Leben in ihn zurück und er bahnte sich seinen Weg durch die Massen.
Eine ungeahnte Wut überkam ihn. Wie konnte dieser Schweinehund es wagen, sie auszuziehen, obwohl sie offensichtlich nicht mehr in der Lage war, sein Handeln wahrzunehmen und abzulehnen?

Wesley kannte Willow vielleicht nicht umfassend, aber dass sie im nüchternen Zustand unter keinen Umständen von irgendjemandem ausgezogen und danach vermutlich sexuell belästigt werden wollte, das konnte er mit Sicherheit sagen.

Wesleys Blick war starr auf Willow gerichtet, die den Wein in ihrer Hand geext hatte und nun sogar im Sitzen beträchtlich nach links und rechts taumelte.
Sie war wie Frischfleisch, das sich in die Höhle der Löwen verlaufen hatte, die sich jetzt über sie hermachten.
Die Hände auf ihren Oberschenkeln und Armen nahm sie gar nicht wahr.
Ihre Augen waren rot und verquollen und vollkommen verloren sah sie durch den Raum, während dieser eine Mistkerl links von ihr stetig an den Band zupfte, das ihren Bademantel geschlossen hielt.
Wesley lief immer schneller.
Diese Situation würde eskalieren und er musste Willow unter allen Umständen vor dem retten, was in nicht allzu langer Zeit passieren würde.

Oh, Schäfchen, was habe ich nur getan, dass du vor mir wegläufst?

Hätte er gewusst, wie sensibel sie doch war, wäre er nicht halb so dumm gewesen. Dann wäre sie jetzt immer noch sicher zu Hause mit Heaver. Dem Ort, an dem sie sich unter allen Sternen am wohlsten fühlte.
Nie hatte Wesley sie hier und in diesem jämmerlichen Zustand finden wollen, obwohl ihm das noch lieber war, als sie in den Fängen irgendwelcher Entführer zu wissen oder wer auch immer hier sonst noch so herumschlich.

Nur knapp drei Meter voneinander getrennt, schien Willow Wesleys Präsenz zu spüren.
Ihre Augen weiteten sich merklich, als sie Wesley in der Menge festmachte. Mit seiner großen und breiten Statur, den perfekt sitzenden Locken und dem Hemd, das er sich angezogen hatte, wirkte er wie genau der Mann, der er war.
Der tolle Anwalt aus Washington, den jede Frau angaffte, als sei er die Sechs im Lotto. Der große Hauptgewinn. Dabei war er nichts weiter als ein Heuchler.
Leider ... ein verdammt hübscher Heuchler.
Ungewollt trieb ein heißer Schauer über Willow Körper, als sie für eine Millisekunde seinem starren Blick begegnete, der streng und wachsam auf sie gerichtet war. Sie wusste ganz genau, weswegen er gekommen war.
Er war wegen ihr hier.
Ebenso wie sie wegen ihm hier war.
Traurig.

Wesleys Kiefer drohte seine Zähne zu zermalmen.
Je näher er kam, desto besser konnte er die mickrige Gestalt von Ricky erkennen, die links von Willow saß und ihren Körper angaffte, als würde er sie gleich jetzt auffressen wollen.
Begierig wanderten seine Augen über Willows Körper und natürlich war er es, der sie unmerklich versuchte, auszuziehen.
In Wesley brodelte es und Willow schien genau das zu bemerken, denn sie versuchte eilig aufzustehen, als er den letzten Abstand überwand und die Begrüßung übersprang, um gleich nach Rickys Wurstfingern zu fassen und sie in eine unnatürliche Richtung zu biegen.
»Finger weg!«, zischte Wesley zornig und erhielt augenblicklich die Aufmerksamkeit des Tisches.
Neben Ricky saß ein kleiner dicker Kerl mit rotbraunem Schüttelhaar. Seinen halboffenen Augen nach zu urteilen war er auf dem besten Weg im Saufkoma seinen Kater zu empfangen.
Die Männer gegenüber schienen Brüder zu sein. Sie hatten dieselben grünen Augen und dasselbe braune Haar, geschnitten in einen Undercut.
Verständnislos sahen sie Wesley an, während Ricky einen wütenden Fluch losließ.
Er schien noch am klarsten von allen zu sein, was seine Taten noch widerwärtiger machten.
»Lass mich los, du Arschloch! Und dann verpiss dich!«
Wesley rümpfte die Nase. Hier stank es so widerwärtig nach Bier, Schweiß und Zigarren, dass er sich beinahe die Hand vor den Mund gehalten hätte.
»Oh, glaub mir, mein Freund, das werde ich. Aber nicht ohne Willow und deine Versicherung, dass du dreckiger Bastard dich gleich auf den direkten Weg nach Hause machst und deine perversen Spielchen allein und hinter verschlossener Tür fortführst! Das hier ist nämlich nicht nur abartig, sondern auch strafbar!«, donnerte Wesley selbstgefällig und wies auf Willows halboffenen Bademantel unter dem ihr Bikini vom Mittag deutlich zu sehen war.
Die viele freigelegte Haut machte Wesley augenblicklich rasend, doch darum würde er sich gleich kümmern.

»Mach dich mal locker, Bruder! Wir und die Kleine haben bloß ein bissle' Spaß! Da spricht doch nichts gegen! Wenn du willst, kannst du ja auch mal ...«, mischte sich einer der Brüder in das Gespräch ein und schob demonstrativ Willows Bademantel von ihrer Schulter, um dabei ihren Bikini gleich mitzuziehen.
Wesley drohten die Augen aus dem Kopf zu fallen. Seine Faust zuckte.
Was erlaubte dieser Kerl sich?
Wie konnte man so sehr den Kopf verlieren, dass man in einer Frau nur noch ein Sexobjekt sah? Oder war er trocken genauso?
Wesley wollte es gar nicht wissen. Er rückte Willows Bademantel sofort wieder an Ort und Stelle.
Sie schien das gar nicht richtig wahrzunehmen.

»Ich zeige dir 'locker', wenn ich mit dir fertig bin, Bruder! Aber glaub mir, dass wird unschön für dich und deine Kumpanen. Schon mal etwas von Knast und Haftstrafe gehört? Ja? Perfekt. Denn ich werde dich persönlich hinbringen, wenn du nicht von ganz allein einen Abgang machst und dich in Zukunft von derartigen Handlungen distanzierst. Sie könnten dich bis zu drei Jahre auf dem Trockenen kosten! Sexuelle Belästigung – und dazu gehören auch deine widerlichen Fingerspiele und der dämliche Kommentar – sind lange kein Witz mehr. Ich glaube, die Polizei wird das ähnlich sehen.«
Seine angespannten Oberarme, die Fäuste und der Blick, mit dem er die drei Männer durchlöcherte, mussten Eindruck hinterlassen.
Mit erhobenen Händen und einem Funken von Respekt und Angst ließen die Brüder die Finger von Willow, die bis eben noch wach gewesen, nun aber die Kontrolle verloren zu haben schien und kopfüber geradewegs an Wesleys Brust sackte.
Scheiße, sie hat es wirklich übertrieben!
Damit sie nicht auch noch vom Tisch stürzte, schob Wesley Willow einen Arm um die Schultern und drückte sie an sich.
Erleichterung erfasste ihn, als er sie trotz der lauten Musik leise schnarchen hörte.
Mit Glück hatte sie diese Szene morgen vergessen und konnte sich damit auch die Peinlichkeit und die Sorgen ersparen, die sie nüchtern mit Sicherheit befallen würden.

»Ist ja gut ... Entspann dich, Mann, wir wollen keinen Stress mit den Bullen«, meldete sich der andere klärend und erhob sich taumelnd.
»Ich hol mal noch 'ne Runde, Bier!«, hickste er und taumelte davon.

Wesley wandte den Blick ab.
Zurück zu Ricky, der ihn todsüchtig anschaute.

»Wenn du doch so ein Hammerhecht des Gesetzes bist und ihr Retter in der Not, wo warst du dann, als sie hier heulend hereinspaziert kam und sich bereitwillig neben mich gesetzt hat, hm? Du kannst Tim und Pitty mit den Bullen ja so viel Angst bereiten, wie du willst, die beiden haben sowieso schon Stress mit denen, aber mir kannst du nichts vormachen, Dillons! Mir machst du keine Angst und jetzt nimm selbst die Finger von Willow! Sie gehört mir!«, fauchte Ricky und erhob sich, um nicht länger zu klein und kläglich zu wirken.
Der Geruch von Schweiß und Schmierfett stieg Wesley in die Nase. Er hasste diesen Kerl. Da war er sich sicher.
Er hasste ihn ungemein, dafür, dass er so ein Schmierfinger war.
Aber mehr als Ricky hasste er sich selbst, weil er genau wusste, dass er Schuld hatte. Kompromisslos.
Denn Ricky hatte recht.
Wesley war erst der Grund, dass sie überhaupt hier gelandet war.

»Hört mal zu, ihr Höhlenmenschen! Diese Frau gehört niemandem, außer sich selbst und ihrer Ziege und jetzt macht Platz, sonst setzt es was!«
Lilas Stimme zischte schneidend zwischen die Fronten und obwohl man ihr diese Kraft nicht zutraute, bekam sie Willow erstaunlich gut zu packen und hob sie vor den Augen der beiden Aasgeier aus dem Blickfeld.

»Ricky! Das war der letzte Drink für heute! Ich hab die Schnauze voll von deinem Gesüff! Mach die Biege und nimm deine Pisskumpanen gleich mit! Und, Wesley, ich hatte ehrlich mehr von dir erwartet, als irgendwelche Drohungen und dieser Motzauftritt. Du solltest sie nach Hause bringen und dich nicht aufspielen, wie ein König!«
Lilas Worte saßen und bedeuteten das Gesetz. Ohne noch ein Wort löste sich die Gruppe und tatsächlich verschwand Ricky in der Menge. Natürlich nicht ohne Wesley noch einmal aggressiv an der Schulter zu stoßen und ihm zuzuraunen, dass es noch nicht vorbei war.
Für einen Moment blieb Wesley ratlos stehen. Dann folgte er Lila durch die Menge. Sie hatte Willow auf den Armen und trug sie in Richtung einer Tür, die nur für Angestellte gedacht war.
An ihrem Posten an der Bar hatte sich ein junger Mann mit Sommersprossen und blondem Irokesenschnitt positioniert.

Auf die Tür folgte ein Gang, der links zu Umkleiden abging, rechts zu einer Küche und am Ende auf eine Tür nach draußen wies.
Als hätte sie gewollt und gewusst, dass Wesley ihr folgen würde, drehte Lila sich kurz vor der Hintertür um und überreichte ihm Willow, die wie ein nasser Sack in seinen Armen lag und unverständliche Laute murmelte.
Zornig sah Lila ihn an.
»Da du auf deinem Trip der Selbstgefälligkeit und deinem Hass auf Ricky wohl vergessen hast, weswegen du eigentlich gekommen bist, hier ein zweiter Anlauf.
Meine Schicht geht noch eine Dreiviertelstunde. Ich kann Willow nicht nach Hause bringen, aber ich denke, du schon. In genau fünfzig Minuten werde ich an deiner Tür klingeln und dann will ich dieses Mädchen selig in ihrem Bett schlafen sehen. Hast du mich verstanden?«
Wesley nickte. Die Standpauke hatte er verdient.
»Willow mag für euch Männer ja sehr amüsierend scheinen, aber sie ist kein Spielzeug, sondern ein lebendiges Wesen und verdient Hochachtung und Respekt.
Sie ist kein Grund für euch Idioten, dass ihr euch die Köpfe einschlagen könnt. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Wesley nickte. Absolut klar.
Lila seufzte. Wesley bewunderte sie für ihr Temperament. Diese Frau wollte wirklich nur das Beste für ihre Freundin – Wow.

»Gut. Dann läuft die Uhr und zwar ab jetzt. Ich hoffe, du nutzt deine zweite Chance, sonst trete ich dich nach D.C. und werde dafür sorgen, dass du niemals wieder zurückkehren kannst.«

So schnell wie sie gekommen war, war sie verschwunden.

Klar ausgedrückt?

Absolut.

Die Hintertür öffnete den Weg in eine klare Nacht.
Die letzten Wolken hatten sich verzogen und brachten einen sternenklaren Himmel zum Vorschein.
Ein kühler Wind zog durch die Nebengasse, die geradewegs zum Haupteingang führte.
Die sofort umschlagende und deutlich angenehmere Temperatur nahm Wesley zufrieden entgegen.
Willow lag friedlich schlafend in seinen Armen. Immer wieder seufzte sie, aber ansonsten war sie ruhig und rieb nur ihre Wange an seiner Schulter, um es bequemer zu haben.
Selbst in der Dunkelheit sah sie wie der Engel aus, der sie war. Daran konnte auch ihr zerzaustes Haar, die geröteten Wangen und der verrutschte Anblick ihrer Kleidung nichts ändern, die Wesley so gut es ihm mit einer Hand gelang, zu richten versuchte.
Stillschweigend lief er zum Eingang des Clubs, wank Heaver mit dem Kopf mit sich und durchquerte dann abermals ganz Innerforks, um Willow wieder nach Hause zu bringen.

Heaver war sichtlich erleichtert, Willow wieder bei sich zu haben.
Kaum trug Wesley sie durch die Haustür ins Obergeschoss, donnerte sie voran und machte ihm den Weg frei, um sie ohne Umschweife in ihr Bett zu bringen. Wachsam beobachtete sie ihn, wie er Willow zudeckte, liebevoll durch ihr Haar strich und vorsichtig ihre Sandalen von den Füßen zog.
Beruhigt verließ sie den Raum und machte es sich in ihrem Korb im Flur bequem, wissend, dass er ihrer Freundin nichts tun würde.
Nicht dieser Mann.

Wesley konnte nicht anders, als Willow beim Schlafen zuzusehen, während er unbeholfen versuchte, die wirklich kleinen Schnallen ihrer Sandalen zu lösen.
Für seine ungeschickten Klauen war das eine echte Herausforderung, besonders, weil Willow sich immer wieder im Schlaf bewegte.
Irgendwann fing sie sogar zu kichern an und schien so langsam wieder zu sich zu kommen.

»Lass das, Heaver! Ich hab dir schon tauuuuusssend Mal gesagt, dass du meine Füße nicht ablecken sollst! Taaaauuuuusssseeend Mal!«, murmelte sie. Wesley konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Betrunken offenbarten sich ihm ein paar ziemlich interessante Informationen.

»Heaver! Lass das jetzt! Das kitzelt!«, kicherte Willow ein zweites Mal und strampelte plötzlich mit ihrem Fuß durch die Luft, die Sandale wie ein Lasso darum schwingend.

»Willow! Hier ist Wesley und ich will dir nur deine Sandale ausziehen, damit du schlafen kannst!«, meldete er sich leise, weil sie nicht mehr aufhörte ihn zu treten.
Wieder ein Kichern.
»Wesley? Nein ... Das kann nicht sein ... Der ist schon lange weg! Der wollte mich allein lassen, einfach so, ohne sich zu verabschieden«, murrte sie im Halbschlaf und ließ Wesley hellhörig werden.
»Wieso sollte er das denn tun? Woher willst du das wissen?«
Tatsächlich antwortete sie nach einem weiteren Kichern.
»Ich hab ihn gehört ... als er mit seiner Freundin telefoniert hat. Er vermisst sie. Und ich bin ihm eine Klette, die er klammheimlich verlassen will. Lustig nicht? Erst küsst er mich ... und ich dachte, ich würde ihm etwas bedeuten und dann ... ist das alles nur ein Spiel. Ich bin darauf hereingefallen. So wie immer ...«
Sie hickste im Schlaf und drehte plötzlich ihr Gesicht in seine Richtung. Dann öffneten sich ihre Augen und landeten direkt in seinem Blick.
Für einen Moment sahen sie sich starr an. Wesley überrascht, aber erleichtert von den Informationen, die er erhalten hatte, Willow verschlafen und ziemlich neben der Spur. Unwissend, wie verletzt sie gerade gestanden hatte, dass sie nicht wollte, dass er sie verließ.
Zärtlich sah er sie an. Im hinteren Teil seines Kopfes ziemlich amüsiert darüber, dass sie so viel falsch verstanden hatte und sich den denkbar schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht hatte, um sein Gespräch mit Charlie zu belauschen.
»Misstraust du mir so sehr, Schäfchen, dass du ernsthaft glaubst, du würdest mir nichts bedeuten?«, fragte er sie leise und lächelte warm.

Willow zuckte mit den Schultern. Sie wirkte wie ein kleines Kind und dem Sturm in ihrem Kopf nach zu urteilen, war sie gerade auch nichts anderes.
Der viele Alkohol zermarterte ihr Aufnahmevermögen.

»Um das klarzustellen: Ich habe mit Charles telefoniert. Die gesamte Zeit über. Es ging um den Wohltätigkeitsball, den unsere Mütter jährlich veranstalten und auf dem ich gezwungen bin, zu erscheinen und meine Hilfe zu leisten. Ich konnte dem Gespräch, so gerne ich es auch getan hätte, nicht ausweichen, weil meine Mutter in ihrer Aufdringlichkeit vermutlich hier aufgetaucht wäre, um mir die Ohren langzuziehen und das ist das Letzte, was ich will.«
Betrunken lachte Willow.
»So lang wie bei einem Hasen?«, fragte sie kindlich.
Wesley schmunzelte.
»Ja, so lang wie bei einem Hasen.« Willow streckte die Hand nach ihm aus und zog an seinen Ohren. Wesley fuhr unbeirrt fort: »Jedenfalls ging es um sie in dem Gespräch. Nicht um dich. Denn in Washington kann ich ihr kaum ausweichen und da meine Mutter ihren gesamten Gemüsegarten auf meiner Terrasse pflegt, begegne ich ihr zwangsweise täglich, weil sie quasi bei mir lebt.«

»Wieso versteckst du dich nicht einfach? Hasen graben doch Löcher!«

Wesley rollte mit den Augen.
War es überhaupt sinnvoll ihr gerade jetzt die Wahrheit zu sagen? Es schien ihm nicht, als würde sie sich morgen noch an überhaupt irgendein Detail erinnern.

»Ich will einfach nur sagen, dass ich nicht über dich gesprochen habe, als ich gesagt habe, ich würde bloß höflich sein und irgendwann klammheimlich verschwinden. Dass du mir das nach all den Stunden zutraust, ist ... Auf jeden Fall habe ich nicht vor, so schnell zu gehen. Im Gegenteil – und das habe ich ebenfalls im Telefonat klargestellt – eigentlich habe ich vor, noch eine weitere Woche hierzubleiben. Mein Urlaub geht offiziell bis Sonntag und ...«

Urplötzlich fing Willow an zu weinen.
Überfordert sah Wesley sie an und musste sich innerlich darauf besinnen, dass sie betrunken die Stimmungsschwankungen des Jahrhunderts hatte.

»Dann gehst du nicht weg und lässt mich allein?«, fragte Willow leise und so verletzlich, dass es ihm das Herz brach.

»Nein, Schäfchen. Wie kommst du auf diesen Quatsch? Sowas könnte ich dir niemals antun.«
Er strich ihr die Tränen von der Wange.
»Und du hast auch keine Freundin?«
Wesley grinste schmal.
»Nein, auch keine Frau weit und breit. Da gibt es nur dich«, rutschte es ihm raus, bevor er seine Zunge hüten konnte.

Willow nickte, noch immer ein wenig verunsichert, dann klammerte sie sich plötzlich an seinen Arm.
»Kannst du heute Nacht hier schlafen? Ich will nicht allein sein«, gestand sie ehrlich und bevor sie erneut in Tränen ausbrechen konnte, nickte Wesley. Er konnte ihr keinen Wunsch ausschlagen und wenn es sie beruhigte, dass er da war, dann bitte, er hatte nichts zu meckern.

Sofort wieder fröhlich machte Willow ihm Platz, doch Wesley hatte andere Pläne.
Bevor sie ihm entwischen konnte, hob er sie aus ihren Kissen und trug sie ins Badezimmer.

»Du hast die widerlichste Fahne, die ich je gerochen habe, Schäfchen. Bevor wir schlafen, putzen wir Zähne«, stellte er klar und ließ sie vorsichtig neben sich auf die Beine. Willow taumelte ein wenig, aber bevor sie fallen konnte, hielt Wesley sie schon wieder fest.

»Ich sollte mich korrigieren. Ich putze dir die Zähne.«

Und so merkwürdig es auch erschien, aber er tat es tatsächlich.
Während Willow stumm auf dem Klodeckel saß und alle Hände voll damit zu tun hatte, den Mund aufzuhalten, putzte Wesley seine und nebenbei ihre Zähne. Er half Willow sogar beim Ausspucken und Mund spülen, als sie wieder anfing, schläfriger zu werden.

Zurück im Schlafzimmer setzte er sie an die Bettkante und sah sie fragend an.
»Schaffst du es noch in deinen Pyjama?«
Er wusste, sie schlief immer darin. Und sie hatte viele davon.
Ein grüner mit schwarzen Kühen aus Flies lag neben ihr am Bettende.
Trunken nickte Willow und griff danach.

»Okay, du ziehst dich um und ich hole mir eine Jogginghose aus meinem Koffer, okay?«

Wieder ein Nicken.

»Bin sofort wieder da«, stellte Wesley klar und verschwand für einige Minuten in seinem eigenen Zimmer, um sich umzuziehen. In einem Hemd zu schlafen war bekanntlich nicht das Bequemste auf der Welt.
Als er zurückkam, lag Willow schon unter ihrer Decke und hatte ihm Platz gemacht.
Ihre Augen drohten ihr immer wieder zuzufallen, aber sie hielt sie so lange offen, bis er sich neben sie gelegt und sie beide zugedeckt hatte.
Sofort kuschelte sie sich an seine Brust, legte ihren Kopf an seine Schulter und schlang einen Arm um seinen Torso, als müsse sie sich mit allen Sinnen davon überzeugen, dass er tatsächlich bei ihr war.
Wesley offenbarte sich dadurch eine klare Erkenntnis.
Willow hatte nämlich nicht nur Angst vor der Dunkelheit. Nein. Sie hatte auch ausgeprägte Verlustängste.
Jede Geste und Mimik, ihr gesamtes Verhalten den Abend über wies darauf hin.
Sie wollte nicht zurückgelassen werden und brauchte die Bestätigung in jeder Weise, dass sie nicht allein war.
Die Puzzlestücke der Erkenntnis ließen sie gewähren und wie von selbst schlang auch Wesley einen Arm um die junge Frau und drückte sie an sich, während er mit der anderen begann, über ihren Kopf zu streicheln.
Selig seufzte Willow auf und schien endlich entspannen zu können.

»Ich will nicht, dass du weggehst, Wes«, hauchte sie leise in die Stille der Nacht.
»Dafür mag ich dich viel zu sehr.«

Kurz darauf schien sie im Jenseits versunken zu sein.
Wesley konnte ihr Herz immer langsamer schlagen hören und die vollkommene Ruhe ihren Körper erklimmen sehen.

»Und ich will nie wieder gehen, kleine Willow. Du bist dabei, mein Herz zu stehlen.«

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top