KAPITEL 13
Manchmal im Leben gab es Tage, die eine Endlosigkeit lang sein sollten.
Tage, die so schön waren, dass man sie nicht einfach aufgeben konnte, beenden.
Andere Tage wollten nicht schnell genug vergehen. Sie gerieten mit Freude in Vergessenheit.
Es war verrückt, fand Willow, wenn sie darüber nachdachte.
Und sie dachte darüber nach, als sie in den frühen Morgenstunden des Samstags endlich in ihrem Bett lag und den Freitag einfach nicht loslassen konnte.
Wie wundervoll war er doch gewesen.
Erst der Ausflug in die Stadt, dann der Zwischenfall im Garten, ihr Date und zuletzt ...
Zuletzt waren sie wegen Ruhestörung und zu lautem Lachen aus dem Restaurant gebeten worden. Eine urkomische Peinlichkeit, die weder Wesley noch sie berührt hatte und anstatt den Abend zu beenden, nach Hause zu fahren und ins Bett zu gehen, hatten sie die verrückte Fahrt von knapp zwei Stunden auf sich genommen, nur, um sich am Maryland Beach in den Sand zu setzen und ihr Gespräch an einem anderen Ort fortzuführen.
Es war eine Kurzschlussreaktion gewesen und vielleicht hatten die Italiener etwas in ihre Getränke gemixt, dass sie auf diese Idee gekommen waren, aber es war genial gewesen.
Wunderschön, fand Willow.
Eine Frau, die noch nie am Strand spazieren und im Sand gesessen hatte, mit einem Mann, der sich für ihre Bücher interessierte, der sie mehr als tausendmal zum Lachen brachte mit seinen dämlichen Juristen-Witzen, der ihr nicht auf den Zahn fühlte oder sie mit Themen bedrängte, über die sie nicht bereit war, zu sprechen.
Wesley akzeptierte sie. In seiner Nähe konnte sie genau die Person sein, die sie war.
Für diese einsame Zweisamkeit dort im Sand mit dem schönsten Blick auf das rauschende Meer, an dessen Horizont die Sonne irgendwann aufgegangen war, würde Willow alles geben. Zu schön war es gewesen, als sie sich aneinander gelehnt und die aufziehenden, warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut tanzen lassen hatten.
Es war einer der schönsten Tage ihres Lebens und das beste erste Date gewesen, das eine Frau sich erträumen konnte.
Niemand würde ihr mit der Erinnerung an diesen Tag das Lächeln nehmen können – niemals.
Das schwor sich Willow, bevor sie die Augen schloss, um für eine ziemlich kurze Zeit zu schlafen.
Nur ein paar Zimmer weiter versuchte Wesley dasselbe.
Die Augen schließen, schlafen und ein wenig Kraft tanken.
Aber die Müdigkeit wollte einfach nicht kommen.
Da war so viel Energie in ihm, so viel Ruhe und Frieden und gleichzeitig das größte Chaos aller Zeiten.
Da war Willow.
Einfach ... überall.
In seinen Ohren glaubte er ihr zartes Lachen zu hören, auf seinen Lippen prickelte das Gefühl, das er gehabt hatte, als er ihre Haut geküsst hatte, vor seinen Augen sah er in ihre funkelnden Kulleraugen, die seinen Blick erwiderten, und in seinem Kopf hörte er sie kichern und über das Leben reden, als wäre es das liebste, das sie tat.
Eigentlich hatte er sie nur zum Essen ausführen wollen.
Ein wenig reden, ein wenig lachen – nicht mehr, nicht weniger.
Aber der Tag hatte seine ganz eigene Wendung genommen und sein Verlauf war so viel besser, als alles, was geplant gewesen war.
Wesley war üblicherweise ein Mann, der seinen getakteten Zeitplan hatte, der jede Minute etwas anderes zu tun hatte und nicht gerne spontan war.
In seinem Leben gab es auch nicht viele Dinge, die man spontan machen konnte. Da waren sein Zuhause und die Arbeit und ab und an ein Whiskey mit Charlie, doch normalerweise plante er sogar diese Treffen wie Termine.
Er war gerne strukturiert und hatte Sachen nach ihrer Ordnung. Aber Ordnung schien bei Willow ein Fremdwort zu sein.
Bei ihr war alles so ...
Dann hatte sie diese Einfälle ...
Und wenn man sich etwas fest vorgenommen hatte, dann kam sie um die Ecke und warf alles durcheinander.
Sie war alles, was Wesley eigentlich nicht war und trotzdem hatten sie sich heute so unglaublich gut verstanden. Sie hatten geredet, geredet und geredet und Wesley hatte gar nicht aufhören wollen.
War das normal?
Schließlich hatten sie ganze zwei Stunden Fahrt auf sich genommen, nur um sich am Strand von Maryland in den Sand zu setzen und weiterzureden.
Gewiss war das nicht normal und Wesley überlegte krampfhaft, ob er das mit je einer anderen Frau, die er gedatet hatte, gemacht hätte.
Mitten in der Nacht, nur um den Sonnenaufgang zu genießen, ein wenig am Wasser spazieren zu gehen und dann wieder zurück zu fahren.
Er überlegte Ewigkeiten, suchte nach einer Frau, bei der er das bestätigen konnte. Aber da gab es keine.
Davon aufgewühlt, gab er es irgendwann auf und versuchte sich anderweitig abzulenken.
Es war sieben Uhr und er hatte kein Auge zugetan, aber das war irrelevant. Für einen kurzen Moment musste er einfach nur hier weg, von seinen Gedanken loskommen, die sich einfach immer um Willow kreisten.
Das wurde langsam krank und er wusste nicht mehr, wohin mit sich selbst. Kurzerhand warf er sich in eine kurze Sporthose und ein T-Shirt, schnappte sich Smartphone und Kopfhörer und verließ so leise wie möglich das Haus.
Heaver lag wie immer auf dem Rücken in ihrem Körbchen und schnarchte, als er an ihr vorbei tapste und sich aus der Tür stahl.
Er wollte sie nur ungern wecken, hatte sie doch lange auf ihre Willow gewartet und ihn beinahe mordlustig angestarrt, als sie erst so spät wieder aufgetaucht waren. Hätte Willow Heaver nicht so überschwänglich glücklich umarmt, hätte Wesley jetzt vermutlich um sein Leben bangen müssen.
Beim Joggen bekam Wes eigentlich immer den Kopf frei. Er hoffte, dass das auch heute der Fall sein würde, als er sich rund um Innerforks bewegte und nur auf dem Rückweg langsam durch die Gassen lief und sich noch ein wenig umsah.
Innerforks war und blieb ein starker Kontrast zu Washington.
Hier gab es keine Hochhäuser oder touristenüberlaufende Hotspots, an denen wie verrückt Bilder für Instagram geschossen wurden.
Innerforks war eine dieser Städte, von denen nur Einwohner und Bekannte wussten.
Eine Stadt, die es auf Karten nur gab, wenn man ganz lange zoomte.
Er hatte das Anfang der Woche noch ziemlich nervig gefunden.
Aber jetzt, sechs Tage später, hatte es einen seltsamen Frieden.
Ja, wirklich seltsam, weil er nie geglaubt hatte, dass er sich hier je einigermaßen wohlfühlen könnte.
Wesley hatte immer geglaubt, dass er wunschlos glücklich war mit seinem Leben.
Teures Auto, schicke Wohnung, gesunde Familie und ein Job, der seine Aufmerksamkeit forderte und an dem er wachsen konnte.
Merkwürdig, dass ihm erst hier langsam klar wurde, dass er sich nach noch so viel mehr sehnte.
Nach mehr, als Reichtum und Ruhm und platzenden Postfächern mit Einladungen zu Galen und Partys.
Nach mehr, als heißen One-Night-Stands und gutem Sex, glücklichen Mandanten und einer Gruppe von Freunden, mit denen er sich in einem Club für einen Männerabend treffen konnte.
Nach mehr Seiten und Abenteuern, als das Leben in Washington zu bieten hatte.
Während Wesley mit verschwitztem Gesicht und leicht keuchendem Atem durch Innerforks dichteste Gassen lief, wurde ihm vieles über sein bisheriges Leben klar. Vieles, was ihm sonst immer unklar gewesen, womöglich gar nicht in seinem Bewusstsein existiert hatte.
Willow zum Beispiel.
»Wesley!«
Eine laute und schrille Stimme, die Wesley mit Sicherheit noch nie seinen Namen hatte aussprechen hören, halte über die Straße, als er nach minutenlangem Bummeln zurück auf die Hauptstraße in Richtung von Willows Hof bog.
Dass er angesprochen wurde, überraschte ihn ein wenig.
»Wesley Dillons!«
Eine zweite Stimme folgte der ersten und Wesley verzog die Augenbrauen, als sein Blick an zwei Frauen hängenblieb, die in Jeansröcken und bunten Blusen von der anderen Straßenseite auf ihn zugelaufen kamen.
Ihre Gesichter verzogen sich höchst erfreut, als er ihnen die Möglichkeit ließ, zu ihm aufzuholen.
»Siehst du, Lorene, ich wusste, ich habe mich nicht geirrt. Er ist wirklich der von den Fotos!«, flüsterte die eine zur anderen, ehe beide sich mit aufgesetzten Gesichtern vor ihn stellten und mit ihren Haaren spielten.
Wesley war leicht überfordert.
Der letzte ernsthafte Kontakt mit Menschen – die nicht Willow waren – schien ihm meilenweit entfernt und obwohl er schon oft in Situationen gewesen war, die nicht wirklich geschäftlichen Ursprungs waren, schienen ihm diese Unterhaltungen mit Fremden jetzt vollkommen sinnlos.
In Washington war er Wesley Dillons – der Mann von den Fotos.
Aber er freundete sich zunehmend mit dem Gedanken an, dass er nicht jener Mann war, wenn er hier war. Zumindest für den weitesten Teil dieser Stadt. Seine beiden Gesellschafterinnen schienen ihn durchaus aus den Medien zu kennen.
Und was genau wollt ihr jetzt?
»Du bist Wesley Dillons, nicht wahr? Washingtons Staranwalt!«
Sie betonte das Star auf eine überdramatische Weise und hatte er sonst immer viel von sich gehalten und leicht gegrinst, fand er sich heute tatsächlich albern dafür, dass er immer so eitel war.
Dieser Ausdruck klang sogar ein wenig lächerlich.
»Ich schätze, genau der bin ich«, antwortete Wesley dennoch und fühlte sich tatsächlich einen Moment unbehaglich. Als sei sein Name mit Ungenießbarkeit verbunden.
Es war sonderbar.
Äußerst sonderbar.
»Das ist ja so eine Überraschung! Meine Freundin Nadja und ich kennen dich aus dem Fernsehen, weißt du, und dass wir dich einmal im echten Leben treffen würden – so eine Überraschung!«
Die zuvor betitelte Lorene – eine quirlige Blondine mit einer Brille auf der Nase – riss die Augen auf, als ihr das Wort Überraschung über die Lippen floss und hob es extra laut hervor, ehe sie ihre überraschende Erklärung mit einem Grinsen abtat und Wesley lediglich musterte, während er wiederum von einer ausgestreckten Hand abgelenkt war, die seinen Oberarm tätschelte.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah er von Lorene zu Nadja, die ein wenig kleiner war als ihre Freundin, ihr im Aussehen allerdings ziemlich ähnelte. Hypnotisiert schien sie seinen Bizeps mit seinen Augen verwechselt zu haben.
Unbehaglich entzog Wesley ihr seinen Arm und räusperte sich. Diese beiden Frauen waren nicht nur sonderbar, sondern auch ziemlich gruselig und er hatte zwar schon viele aufdringliche Menschen kennengelernt, aber jene Situationen waren ihm doch immer wieder suspekt. Man fasste doch nicht einfach so einen anderen Menschen an. Und wenn es nur dessen Oberarm war.
So viele Dinge schossen Wesley auf einmal durch den Kopf.
Zum einen war dort ein Funken Genugtuung, als die beiden Frauen sich als ziemlich redselig entpuppten und leicht ins Schwärmen gerieten.
Zum anderen waren dort Gedanken, die Wesley zusetzten.
Merkwürdige Gedanken.
Denn urplötzlich und aus dem nichts heraus, begann er Nadja und Lorene mit Willow zu vergleichen.
Wirr spuckte sein Kopf ihm die Meinung darüber aus, dass Willow anstelle einer Brille süße Sommersprossen auf den Wangen haften hatte und dass er brünette Frauen hübscher fand.
Mit den Augen musterte er beide Frauen von oben bis unten, verglich sie mit seiner Mitbewohnerin, ehe er von der äußerlichen Analyse auf Sprache und Gesprächston unterschied und sich immer seltsamer vorkam.
Verdammt, diese Joggingrunde hatte ihm den Kopf frei machen und nicht noch mehr füllen sollen.
Jetzt war alles umsonst gewesen und er hatte zu seinem privaten Chaos auch noch Feger von Blondinen kennengelernt, die auf seine knappe Bestätigung eines Fotos darum stritten, wer als erste ein Selfie schießen durfte.
Wesley rollte mit den Augen.
Er hatte gerade keinen Nerv für diese Art von Diskussion, weswegen er in die Streitereien murmelte, sie sollten ihm Bescheid sagen, wann sie sich entschieden hatten und sich knapp verabschiedete, ehe er eilig davonlief.
Dieser Morgen war ein Reinfall und er wollte nicht, dass es noch schlimmer werden würde.
Es fehlte ein Kaffee mit Milch und Zucker ... und Arbeit.
Ja, seinen Bürokram, den vermisste er auch und genau an den, nahm er sich vor, würde er sich gleich zuhause dransetzen.
Arbeit war doch die zweitbeste Möglichkeit gegen Chaos im Kopf.
Ablenkung, Ablenkung, Ablenkung, Willow ...
xxxx
Willow startete den Samstag nach den wenigen Stunden Schlaf ganz entspannt.
Sie fütterte Heaver und ließ ihre Ziege an dem warmen Sommertag hinaus in den Garten, während sie selbst sich Toastbrote mit Marmelade schmierte, Kaffee kochte und es sich in der Badewanne mit ihrem Laptop gemütlich machte.
Der blumige Geruch nach Flieder und Lavendel füllte das kleine Badezimmer im Obergeschoss und Willow genoss jede Sekunde im warmen, schaumigen Wasser, das ihre Seele baumeln ließ und ihre Glieder entspannte.
Sie liebte es zu baden, obwohl sie sich nur selten dazu hinreißen ließ, weil sie lieber aktiv war und oftmals andere Dinge erstere Priorität hatten.
Der Garten, Heaver, ihre Bücher, die sich auch nicht von selbst schrieben, und neuerdings war Wesley Dillons dazu gekommen.
Wenn sie an ihn dachte, zauberte sich ein Lächeln auf ihre Lippen.
Und das nicht nur, weil Wesley sich gestern von einer ganz besonderen Seite – die leidenschaftlich, losgelöst, gesprächig und lustig war – gezeigt, sondern, weil er ihr eine große Freude bereitet hatte.
Gestern war sie glücklich gewesen. Es war ein Tag vergangen, an den es keine schlechten Erinnerungen gab, der durch und durch ein guter gewesen war. Ein Tag, an den man mit einem Lächeln dachte und nicht die kleinste Negativität überschatten musste.
Ein guter Tag.
Und gute Tage, wusste Willow, musste man sich nahe ans Herz halten.
Denn gute Tage waren selten und gute Tage waren wertvoll.
Was genau der gestrige Tag mit all seinen Facetten zu bedeuten hatte, interessierte Willow nicht sonderlich.
Anders als Wesley tat sie sich nicht sonderlich schwer damit, Dinge, so wie sie waren, hinzunehmen und blind auf ein Morgen zu vertrauen.
Sie wusste nicht, was sich zwischen ihnen beiden entwickeln würde, ob es eine einmalige Sache gewesen war oder sie womöglich noch öfter ausgehen würden.
Ob sie nun Freunde waren oder eventuell mehr, das war unwichtig.
Willow lebte in Momenten.
Sie hatte gelernt, dies zu tun, denn das ganze Leben war ein einziger Moment.
So ging es jemandem immer nur in Momenten schlecht, nur in Momenten gut und niemals dauerhaft.
In alles, was geschehen war, interpretierte Willow nicht das geringste. Sie wollte sich nichts einbilden, wollte wegen der eventuellen Anziehungskraft zwischen ihnen beiden keinen Druck auf Wesley ausüben oder in eine bestimmte Richtung lenken.
Die meisten Dinge zerbrachen, weil man sie übereilte.
Das wollte Willow nicht.
Sie wollte nicht rennen, rennen, rennen und irgendwann außer Atem sein. Sie wollte nicht, dass sie einander abhängten.
Besser war es, alles, was passieren würde, gemeinsam zu bewältigen, gemeinsam zu erkunden.
Und sie würden ihren eigenen Weg finden. Oder eben nicht.
Wie auch immer das Leben spielte, Willow ließ sich zu nichts hinreißen.
Sie genoss lediglich ihre momentane, gute Laune und war zufrieden mit allem.
Sie war glücklich.
Und glücklich wie sie war schrieb sie in der Badewanne gleich drei ganze Kapitel ihres neuen Buches bis das Wasser kalt war und sie sich in ihren kuscheligen Bademantel mit Koala-Motiv vom Badezimmer in die Küche bewegte, um einen saftigen Kuchen zu backen und dabei lautstarke gute Laune Hits über ihre Musikbox zu spielen.
Berührt von der Musik verwandelte Willow die Küche zu ihrer ganz persönlichen Tanzfläche und ließ die Hüften zu Elton John, Taylor Swift und The Neighbourhood schwingen, während sie Milch, Eier und Mehl in eine Schüssel rührte.
Willow war eine Frau mit sehr viel Hingabe. Wenn ihr danach war in Koala-Bademantel und einem Handtuchturban auf dem Kopf schief in ihr Schneebesen-Mikrofon zu singen und dabei ausgelassen um die Kücheninsel zu wirbeln, dann ließ sie sich von nichts und niemandem aufhalten.
Nicht von Heaver, die sie immer sehr schief ansah, wenn sie so verrückt ausschaute wie jetzt.
Und auch nicht von Wesley, der von dem Gesang aus dem Büro gelockt worden war, nachdem er es anderthalb Stunden erfolgreich geschafft hatte, konsequent seine Arbeit zu machen und sich von keinem Gedanken an Willow abzulenken.
Als er sie in der Küche entdeckte, war das allerdings vorbei.
Denn er begegnete Willow Telieve wie sie leibt und lebte und das war, als würde man von einem Wirbelsturm ergriffen werden und in dessen Auge stehen, bis er zu stark war und einen mitriss.
Willow war sein ganz persönlicher Wirbelsturm.
Sie war einzigartig.
Man sah nicht alle Tage eine Frau im Bademantel durch die Küche springen, während sie dabei war einen Kuchen zu backen und gleichzeitig die höchsten Töne in Taylor Swifts "Me!" zu treffen.
Aber, dass Willow dabei leicht verrückt aussah und gleichzeitig den größten Spaß aller Zeiten hatte, verwunderte Wesley nicht im geringsten.
Das war genau die Frau, die er kennengelernt hatte.
Die Frau, mit der er sich gestern stundenlang hatte unterhalten können.
Die Frau, die ihn so schallend zum Lachen gebracht hatte, dass er auch am nächsten Tag noch Bauchschmerzen davon hatte.
Die Frau, die er gestern mit einem Wasserschlauch durch den Garten gejagt und dabei den größten Spaß seit Ewigkeiten gehabt hatte.
Die Frau, die wunderschön war, wenn sie ganz sie selbst war und die Frau, die ihn immer weiter in ihren Bann riss.
Das Lied wechselte und Willow wippte mit dem Fuß auf dem Boden, während sie ein Ei aufschlug und Elton Johns "Tiny Dancer" durch die Musikbox hallte.
Dieses Lied passte perfekt zu der gebotenen Szene.
Denn Willow war, im Vergleich zu dem knapp ein Meter neunzig großen Wesley, mit ihren eins siebenundsiebzig klein und wirkte jung und kindlich, wenn sie in einem Aufzug herumlief, wie diesem.
Für Wesley sah sie perfekt aus.
Weil sie sie selbst war.
Sie konnte alles tragen, wenn sie darin bloß sie selbst war.
Die Frau, die er dummerweise verurteilt hatte und jetzt nicht mehr aus seinem Kopf denken konnte.
Die Frau, die ihm die Leviten laß, deren Meinung ihm wichtig war, die ihm ganz neue Perspektiven auf das Leben zeigte und die ihn zu einem Menschen machte, den er selbst nicht gekannt hatte, aber mehr und mehr zu mögen begann.
»Wesley!«
Willow schien nicht überrascht, dass er seinen Weg in die Küche gefunden hatte und anstelle sich zu schämen und die Musik leiser zu drehen, bildete sich ein diabolisches Lächeln auf ihren Lippen, als sie auf ihn zugelaufen kam.
»Wir tanzen jetzt«, stellte Willow klar und griff nach einer seiner Hände, die er vor der Brust verschränkt hatte.
Wesley erstarrte.
Sie wollte mit ihm tanzen?
Das war ... keine gute Idee.
Als er mit achtzehn seinen Schulabschluss gemacht und auf dem Ball mit einem Mädchen getanzt hatte, hatte das Ganze für sie im Krankenhaus mit einem gebrochenen Fuß geendet.
Danach hatte sie nie wieder ein Wort mit ihm gewechselt, weil er ihr ihren Abschluss versaut hatte.
Man konnte es niemandem verübeln.
Willow wusste genau, dass Wesley mal wieder etwas einzuwenden hatte. Er zierte sich vor so gut wie allem, das nicht seiner Routine entsprach.
Genau deswegen forderte sie ihn schließlich zu Dingen auf, die er sonst niemals tat.
Zäune reparieren und einen Herd benutzen, hatte sie ihm schon beigebracht, jetzt war sein Rhythmusgefühl dran.
»Willow, wenn jemand nicht tanzen kann, dann bin ich das!«, merkte Wesley an und stemmte die Hacken in den Boden, um ihr seine Worte bewusst zu machen.
Aber Willow wäre nicht Willow, wenn sie darauf hören würde und auch Heaver, die insgeheim bloß froh war, dass Willow nicht sie ausgewählt hatte, fand, dass dieser Stadttyp ruhig auch mal sein Tanzbein schwingen konnte.
»Ach, Quatsch. Du willst bloß nicht, dabei weiß ich ganz genau, dass du unter der Dusche richtig abgehst.«
»Was?!« Wesley glaubte sich verhört zu haben und sah mit offenem Mund zu Willow, die den Moment seiner Fassungslosigkeit nutzte und ihn in Richtung provisorischer Tanzfläche zog.
Sie grinste ein verschmitztes Grinsen und wackelte mit den Augenbrauen.
»Mir kannst du nichts vormachen, Dillons. Deine Selena Gomez Stimme schallt morgens um sieben auch in mein Schlafzimmer, denn wenn ich eines weiß, dann das Heaver bisher noch nicht singen kann. Du fühlst die Musik sehr wohl und das ist alles, was man zum Tanzen braucht.«
Wesley wusste nicht, was er dazu sagen sollte.
Er war schockiert und peinlich berührt.
Ja, tatsächlich. So peinlich berührt, dass er einen sanften Rotton auf den Wangen bekam, den Willow mit einem amüsierten Zwinkern abtat.
»Und jetzt los!«, forderte Willow auf, griff nach ihrem Handy und startete "Wolves" von Selena Gomez.
Grinsend sah sie zu Wesley auf, der mit den Augen rollte, weil sie anscheinend wirklich gelauscht hatte.
»In your eyes there's a heavy green«, begann Willow zu singen und stieß Wesley an, während sie mit ihren verschränkten Händen zu wackeln begann und mit den Bewegungen auch seinen Körper zum Beben brachte.
»I wanna feel the way that we did that summer night!«, sang Willow weiter und spürte wie ihr Gegenüber mit sich selbst kämpfte, ehe er mit einem letzten Blick auf Willow doch nachgab und seine verkrampfte Haltung losließ.
»Manchmal hasse ich dich, Willow Telieve!«, brummte Wesley, ehe er auch schon ganz in seiner geheimen Schwärmerei für Selena Gomez verschwunden war, lautstark den Refrain des Liedes mitsang und seine Arme in die Höhe riss.
Es brauchte genau zehn Sekunden und sie beide waren ganz in ihrem Amateur Getanze verwickelt.
Losgelöst und wild schwangen sie um die Kücheninsel und wirbelten ihre Haare durch die Luft, während sie mit Selana Gomez und den Wölfen rannten.
Heaver konnte über die beiden nur den Kopf schütteln.
Gestern waren sie schon wie zwei Bekloppte durch den Garten gerast und heute wollten sie das ganze im Haus veranstalten?
Menschen waren wirklich sonderbar. Und wie konnte man dieses Gehampel auch noch lustig finden?
Essen – das war Spaß.
Leuten in die Schuhe kötteln
oder einem Kind auf der Straße das Eis aus der Hand stoßen.
Aber doch nicht Tanzen oder diese Mehlschlacht, die sie jetzt anzufechten schienen!
Das Zeug schmeckte trocken einfach scheußlich und Willow wusste genau, dass Heaver das nicht vom Boden auflecken würde.
Wenn sie sich mit Kartoffelschalen abwerfen würden oder Schokoladenküssen, darüber ließ sich reden, aber was die beiden da machten?
Nein, nein, das konnte Heaver einfach nicht verstehen.
Und weil sie es nicht verstand und auch nicht recht mit angucken konnte, beschloss sie in den Garten zu gehen, um sich dort ein ruhigeres Plätzchen zu suchen.
Vielleicht konnte sie sich auch wieder auf den Birnbaum nahe der Mauer zum Nachbarhaus legen und den Nachbarshund Frederick nerven.
Ihm auf dem Kopf zu spucken und die Zunge rauszustrecken war Heavers liebste Beschäftigung am Wochenende.
Willow und Wesley bemerkten Heavers Abwesenheit gar nicht. Sie waren gefangen im Rausch von ihrem Spaß und Gelächter und mit dem geschmissenen Mehl hatte Wesley einen waschechten Krieg begonnen, wie Willow mit dem Wasser am Vortag.
Irgendwann aber war die Verpackung des weißen Pulvers leer und sie beide sahen mal wieder reif für eine Dusche aus.
»Wir schaffen es aber auch wirklich jeden Tag, oder?«, fragte Wesley und schüttelte sich ein halbes Kilo Mehl aus den lockigen Haaren.
Willow kicherte.
»Jup!«
Sie nickte und strich sich währenddessen selbst über den pulvrigen Kopf.
Wesley musterte sie.
Trotz allem hast du nie besser ausgesehen, dachte er und wandte sich ab, weil diese ständigen Gedanken rund um Willow ihn wirklich plagten.
»Ähm ... was muss denn noch in den Kuchen?«, fragte er, um sich selbst abzulenken, und wandte seinen Blick auf die Schüssel mit Zucker, Mehl und Eiern.
»Milch, Backpulver, Vanillezucker und ein wenig geraspelte Zitronenschale. Aber das kriege ich alleine hin. Wenn du mir helfen willst, dann kannst du schon mal die Sahne schlagen.«
Sahne schlagen?
Das klang sehr kompliziert.
Aber Wesley irrte sich und während er mit dem Handmixer eins wurde, vollendete Willow ihren Kuchenteig und brachte ihn in einer runden Form in den Backofen.
Während der Teig backte machten sie sich daran, die Küche wieder auf Vordermann zu bringen, wobei dieser Teil der Küchenarbeit sich durch eine zweite – wesentlich kleinere – Schlacht in die Länge zog.
Irgendwann hatten sie es dann aber doch geschafft und Willows Küche war sauberer denn je.
Nebenbei war auch der Kuchen fertig gebacken und während Wesley sich schon mal unter die Dusche stellte, vollendete Willow ihre Kreation, indem sie den Kuchen in der Mitte teilte und die Sahne mit Erdbeerstücken aus dem Garten mixte und zwischen die Böden strich.
Rundherum bekam der Kuchen ebenfalls eine Sahneschicht, die Willow an der Oberfläche in kleine sternförmige Häubchen formte über die sie ebenfalls Erdbeeren und Schokoladenstücke streute und dann alles für einen Moment im Kühlschrank kühlen ließ.
Als sie sich dann frisch machte – das Bad vor einigen Stunden war vollkommen nutzlos gewesen – und sich in richtige Gewänder warf, kam Wesley frisch geduscht wieder zurück und deckte schon einmal den Tisch im Garten. Seine Joggingrunde in der Frühe war ebenfalls von wenig Wirkung gewesen, wenn er erst einmal ein Stück von Willows Torte verdrückt hatte.
Willow grinste, als sie eine Viertelstunde später – und mit fünf Kilo Mehl weniger auf der Haut – in den Garten trat und den gedeckten Tisch neben dem mittlerweile schon wieder getrockneten Rasen sah, auf dem Wesley stand und doch tatsächlich Frisbees mit Heaver warf.
Leicht nach vorne gebeugt, weil Heaver Frisbees immer schrecklich tief warf, stand Wesley auf dem Gras, hatte sein Hemd bis zu den Oberarmen hochgekrempelt und seine Schuhe ausgezogen.
Grinsend spielte er mit der weißen Ziege, die ebenfalls Spaß zu haben schien.
Das freute Willow sehr.
Denn Heaver war der wichtigste Bestandteil ihres Lebens und sie wollte, dass die beiden sich mochten.
Während sie weiterspielten, ging Willow ins Haus und kochte Kaffee.
Als sie dann mit Torte und Lebenselixier zurück in den Garten trat, lenkte sie auch die Aufmerksamkeit ihrer Mitbewohner auf sich, die ihr Spiel abbrachen und sofort zum Tisch gerannt kamen.
Wesley lief das Wasser im Mund zusammen, als er die Sahnetorte sah und Heaver, die natürlich nichts von dem Süßkram haben durfte, wusste, dass wenn alle etwas aßen, sie auch essen durfte.
Willow hatte sie sicher nicht vergessen.
Und, nein, dass hatte Willow tatsächlich nicht.
Eine Schüssel voller Äpfel und Möhren galt ganz ihrer Lieblingsziege.
»Ich glaube, das ist der erste Kuchen in fünfzehn Jahren, an dem ich backen geholfen habe«, überlegte Wesley laut, während er mit der Gabel ein Stück aufpickte und zu seinem Mund führte.
Kaum schmeckte er die Sahne mit den Erdbeeren schloss er genüßlich die Augen und lächelte versonnen.
Köstlich!
»Du schockierst mich jeden Tag ein wenig mehr«, lächelte Willow und verstand nicht, wie Menschen aufs Backen und Kochen verzichten konnten.
Was machten diese Menschen den ganzen Tag?
Und war es nicht toll, sich seine Snacks selbst machen zu können?
Sie persönlich liebte es, neue Rezepte auszuprobieren und in der Küche zu werkeln.
Es gab so viele Tausend Dinge, die sie noch testen wollte.
So vieles, das sie selbst herstellen wollte. Wie konnte Wesley sich so etwas entgehen lassen?
»Ich weiß«, lachte Wesley halbherzig und rollte mit den Augen.
»Womit ernährst du dich dann? Hast du eine Haushälterin oder eine Frau, die für dich kocht?«
Wesley schüttelte sofort mit dem Kopf.
»So weit kommt es noch. Nein, habe ich nicht. Weder eine Frau, die meine Unterhosen wäscht, noch eine, die sie mir klaut. Charlie kocht manchmal. Er ist ein wesentlich besserer Hausmann als ich. Und sonst halte ich mich eben mit Tiefkühlgemüse und dem Lieferdienst über Wasser.«
Willow verzog das Gesicht.
Das klang nicht gerade nach einer super ausgewogenen Ernährung.
Aber was sollte sie dazu schon sagen? Sie selbst hatte bestimmt mehr Süßigkeitenverstecke in ihrem Haus, als der Mann vor ihr, der im Sonnenlicht mit seiner Adonisfigur keine Hinweise darauf ließ, dass er jeden Abend Fast Food bestellte.
»Das klingt ziemlich traurig. Aber glücklicherweise bist du in dieser Woche dem Kochen und Backen ein wenig näher gekommen. Vielleicht überträgt sich das ja auch auf deinen Alltag in Washington«, mutmaßte Willow und dachte plötzlich daran, dass Washington für Wesley gar nicht mehr weit entfernt war.
Nur noch morgen und er würde mit sehr großer Wahrscheinlichkeit von Ricky angerufen werden und konnte wieder zurück nach Hause.
Nur noch morgen und dann würden sie sich vermutlich nie wieder sehen.
Plötzliche Ernüchterung platzte wie eine Gasbombe in ihrem Körper und breitete sich darin aus.
Auch Wesley wurde bitter daran erinnert, dass spätestens am Montag alles wieder so werden würde, wie es immer gewesen war, wie es seine Richtigkeit hatte.
Er würde zurück nach Washington fahren. An den Ort, an dem sein Leben stattfand. Ohne Willow.
»Ja, vielleicht«, bestätigte er, obwohl er wusste, dass es vermutlich nicht so werden würde. Und das nicht, weil er es nicht wollte, sondern vielmehr, weil es ihm ohne Willow keinen Spaß machte.
Seine Haltung dazu war womöglich etwas übertrieben und er konnte selbst nicht glauben, welche Gedanken sich in seinem Kopf abspielten. Es war nur eine einzige Woche vergangen. Doch anscheinend hatte diese Woche insofern ausgereicht, dass er eigentlich noch gar keine Lust verspürte, wieder zurückzufahren.
Viel spannender war es zu sehen, was sich womöglich zwischen Willow und ihm noch entwickeln würde.
Eine betretene Stille machte sich zwischen den beiden breit.
Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach und staunte darüber, was in dieser Woche alles geschehen war und wie geprägt sie davon waren.
Der Moment hielt allerdings nicht lange an.
Denn schneller als sie gucken konnten, platzte Misses Crowfield, die Nachbarin von nebenan, mit ihrem Yorkshire Terrier Frederick um die Hausecke und stolzierte höchsterfreut und mit wildem Winken über das Grundstück in Richtung Terrasse.
»Hallöchen!«, flötete es, während die leicht pummelige Fünfzigjährige ihr kleines, braunes Fellknäul hinter sich herzog, das sichtlich unzufrieden damit war, in die Nähe von der Ziege zu kommen, die mit einem hämischen Grinsen neben ihrer Willow hockte und jeden Schritt seines Herrchens in ihre Richtung mit Genugtuung betrachtete.
»Komm nur her«, dachte Heaver, »Ich hatte noch nie etwas gegen Nachtisch.«
Beide Tiere mochten sich nicht sonderlich. Frederick war ein nerviger Kläffer und Heaver war einfach Heaver.
»Hallöchen, meine Liebe! Tut mir leid, dass ich hier so hereinplatze, aber ich habe gehört, du hast herrschaftlichen Besuch aus der Großstadt und das hat mich neugierig gemacht.«
Das passte ganz zu Misses Crowfield. Willows Nachbarin war für jeden Klatsch und Tratsch zu haben und lud sich mindestens einmal unter der Woche selbst zum Essen ein. Einerseits lag das an Willows leckerem Essen, andererseits war Misses Crowfield für jedes Geheimnis zu haben und es gab niemanden, der so höflich und ruhig ihren ausschweifenden Erzählungen lauschte.
Nicht einmal ihr Mann konnte das länger als eine Viertelstunde ertragen, doch Willow unterbrach sie niemals. Willow war viel zu höflich dazu.
Grundsätzlich war Misses Crowfield eine nette Dame. Sie trug immer bunte Kleider und überdimensional große Hüte in allen Farben und Formen. Aber sie war auch tückisch, bediente sich gerne an Gerüchten und Klischees und versuchte nebenbei immer, sich bei dem ein oder anderen für ihren eigenen Profit einzuschleimen und ihm von ihrer ach so tollen Verwandtschaft vorzuschwärmen.
Sie war eine Blenderin, stand gerne im Rampenlicht und ließ sich beneiden. Aber im Grunde genommen war sie harmlos und nach all den Jahren wusste Willow ganz gut mit ihr umzugehen.
»Hallo, Misses Crowfield«, grüßte sie zurück und tat es kommentarlos ab, dass sich die pompöse Dame in einem violetten Cocktailkleid zu ihnen an den Kaffeetisch setzte und ihren Hund dabei auf ihren Schoß zog – wissend, dass Heaver als der wesentlich bessere Wachhund, sie beide nicht ausstehen konnte.
Heaver störte einfach alles an Familie Crowfield, die neben Patrizia aus ihrem Gatten Thorsten und den drei Kindern Lasse, Carlos und der hochnäsigen Dorothea bestand. Letztere war knapp ein halbes Jahr jünger als Willow und hielt sich für die Queen selbst.
Dorothea Crowfield war Patrizias voller Stolz.
Eine hochgewachsene Frau mit tiefschwarzem Haar und der Haut so zart wie die einer Elfe.
Sie war schön. Ohne Frage.
Aber wie sie sich kleidete, beim Laufen mit den Hüften schwang, sich in ihre Pelzmäntel hüllte und jeden von oben herab behandelte, das stank Heaver gewaltig.
Das Mädchen war einfach nur hochnäsig und eingebildet und zudem versuchte sie Willow immer wieder eins auszuwischen, was bisher nicht wirklich funktioniert hatte, denn Willow zu triezen war beinahe unmöglich.
Sie war die Höflichkeit in Person und konnte einen Menschen einfach nicht verabscheuen.
Sie liebte jeden und jeder liebte sie, weil sie das Gute sah.
Willow sah das Gute in einer eingegangenen Blüte, sah das Gute in einem Unwetter, sah das Gute im Hässlichen und Schlechten.
Das bedeutete nicht, dass sie alles so hinnahm, wie es war.
Sie verurteilte lediglich nicht, was ein Mensch verrichtete, wenn sie das Gefühl hatte, dieser jemand würde seine Taten bereuen und sich bessern wollen.
Willow war in Heavers Augen zu gut für diese Welt und ihre Herzlichkeit verteidigte sie mit all ihren vier Hufen.
Denn selbst wenn Willow so manche Unhöflichkeit einfach so hinnahm und sich auch mit Menschen, die sie ausnutzen wollten, gut gab, Heaver hatte mit so mancher Frechheit gar kein Problem.
»Darf ich Ihnen ein Stück Kuchen anbieten?«, fragte Willow freundlich.
Patrizia nickte, ohne sie dabei anzusehen.
Ihr Blick war ganz schnell nach rechts zu Wesley gehuscht, den sie jetzt mit einem breiten Lächeln von oben bis unten musterte.
»Es ist also wahr! Washingtons begehrtester Anwalt und Junggeselle hat sich tatsächlich in die kleinste Provinz der USA getraut und verweilt auf einem Bauernhof«, begann sie das Gespräch und reichte Wesley ihre Hand, die er entgegennahm und schüttelte.
»Wesley Dillons, Misses Crowfield, es freut mich sehr«, brachte Wes ganz in seinem Anwaltmodus zu Stande und nickte höflich, aber distanziert.
Der interessierte Blick von Willows Nachbarin und ihr Unterton waren nicht zu überhören.
»Meine Tochter Dorothea war ganz aus dem Häuschen, als sie von Ihnen hörte. Ich wollte ihr zunächst nicht glauben, aber dann habe ich Sie und Willow gestern vor dem Haus gesehen und musste mich selbst vom Gegenteil überzeugen. Mister Dillons, es ist mir eine Ehre, Sie kennenlernen zu dürfen. Aber sagen Sie, wie kommt es, dass es Sie ausgerechnet hierher verschlagen hat?«
Patrizia biss von ihrem Kuchenstück ab und wandte ihren Blick dann ganz Wesley zu.
Willow war vergessen.
Aber das störte die Brünette nicht im Geringsten. Sie kannte dieses Getue von ihrer Nachbarin schon und es war ihr egal.
Misses Crowfield orientierte sich am Ansehen und Reichtum eines Menschen und Wesley hatte die Taschen eben voller als sie.
Zudem konnte sie es ihrer Nachbarin nicht verübeln.
Jemanden wie Wesley in einer Stadt wie Innerforks zu treffen, das war wirklich ein Highlight.
»Es war keine Absicht. Aber ich hatte einen Motorschaden, der sich nicht so schnell beheben ließ. Deswegen musste ich für einige Tage hierbleiben und Willow hat mich freundlicherweise aufgenommen.«
Wesley warf seiner Sitznachbarin einen knappen Blick zu und lächelte kurz.
Willow war mit Heaver beschäftigt und versuchte ihre Ziege unauffällig mit Kuscheleinheiten von Frederick abzulenken.
Ihr Anblick traf Wesley für zwei Sekunden mitten im Herzen.
»Das ist ja schrecklich! Ich hoffe, Ihnen ist dabei nichts passiert!«, schockte sich Patrizia.
Wesley lächelte halbherzig.
»Nein, mir ist nichts passiert.«
Du bist lediglich in Kuhscheiße geflogen, als du auf der Suche nach einem Netzbalken warst, erinnerte sich Willow mit einem Grinsen an diesen Anblick und lächelte in die Stille.
»Die Straßen hier sind unmenschlich schlecht. Es gibt so viele Schlaglöcher und bei Regen verspülte Straßenränder. Sie hatten großes Glück!«, dramatisierte Patrizia weiter und biss von ihrem Stück Kuchen ab.
Wesley nickte ein wenig abwesend. Diese Frau war ihm suspekt.
Sie sprach so unglaublich verständnisvoll und schaute ihn schwärmerisch an, das war äußerst seltsam.
»Meine Tochter Dorothea hatte vor Jahren mal einen Motorschaden. Ihr ist zum Glück auch nichts passiert. Aber es passiert wohl häufiger, als man denkt, was?«, plapperte Misses Crowfield mit vollem Mund weiter und betonte den Namen ihrer Tochter dabei besonders unauffällig.
Willow prustete leise.
Daher wehte also der Wind.
Patrizia war auf der Suche nach einem potentiellen Schwiegersohn.
Das machte das Gespräch äußerst interessant.
»Ich koche ihnen mal einen Tee, Misses Crowfield«, beschloss sie höflich und zog Heaver mit sich ins Haus, wissend, dass die Aufforderung nach einem Kamillen Tee sowieso gleich gekommen wäre.
Wesley schaute Willow einige Sekunden hinterher, als sie durch die Terrassentür verschwand.
Er schluckte schwer, als er bemerkte, dass sie das weiße Kleid trug, bei dem sie gestern seine Hilfe gebraucht hatte.
Das wunderschöne Kleid mit den Puffärmeln, in dem sie genau wie der Engel aussah, der sie war.
Heute hatte sie den Reißverschluss aber ohne seine Hilfe zubekommen.
Beinahe schade.
»Jedenfalls–«, lenkte Patrizia seine Aufmerksamkeit wieder auf sich und begann weiter von ihrer Tochter zu erzählen, die anscheinend Mediendesign studierte und ihn unbedingt einmal kennenlernen wollte.
Wesley ahnte sofort wohin dieses Gespräch führen sollte und er wusste nach zehn Minuten auch ganz genau, weswegen Willow sich aus dem Staub gemacht hatte.
Patrizia war anstrengend und so selbstorientiert, dass es kaum auszuhalten war.
Sie redete Wesley in Grund und Boden und erst als er versprach, vor seiner Abreise noch einmal zum Dinner zu kommen, ließ sie sich abwimmeln.
Erleichtert atmete Wesley aus, als er nach tatsächlich anderthalb Stunden Konversation mit dieser Frau – ohne das sie auch nur gemerkt hatte, dass Willow sich in Luft aufgelöst hatte – endlich wieder verschwunden war.
Mit einem tiefen Seufzer und empörten Gesicht lief er ins Haus und suchte nach Willow, die die Frechheit besessen hatte, ihn einfach mit dieser Quasselstrippe allein zu lassen.
Dieses kleine Biest, dachte er und entdeckte Willow keine Sekunde später auf dem Sofa im Wohnzimmer, wo sie unschuldig wie eh und je mit einer Tüte Chips saß und mit Heaver einen Film schaute.
Ertappt sah sie auf, als er sich mit den Händen in die Hüfte gestemmt vor den Bildschirm stellte und sie teuflisch anfunkelte.
»Chips?«, fragte Willow mit verkniffener Miene und man sah sichtlich, dass sie bei seinem Anblick kurz davor war, zu lachen.
»Wolltest du nicht Tee kochen und dann wiederkommen?«, fragte Wes, ohne auf ihre Frage einzugehen und bewegte sich dann in Richtung Couch, nur um Willows Füße hochzuheben, sich hinzusetzen und sie dann auf seinen Schoß zu legen.
»Von wiederkommen war nie die Rede«, antwortete Willow und grinste, als sie sein, vom Geplapper ihrer Nachbarin, taubes Gesicht sah.
Ja, das war ganz Miss Crowfield. Sie redete so lange, bis man vergaß, wo oben und unten war und dann trickste sie einen aus.
Kein Wunder, dass Willow das Weite gesucht hatte.
»Und war es nicht ganz nett, dich mit ihr zu unterhalten? Patrizia hat immer so viel zu erzählen«, redete Willow weiter und platzte vor lachen, als sie Wesleys verzogene Miene sah.
»Ja, ich habe es gemerkt. Und ihre Tochter ist auch ... höchst interessant!«, stellte er ironisch klar und blickte dann auf den Fernseher, um nicht in Willows triumphierendes Gesicht sehen zu müssen.
»Ja? Das ist doch schön. Ihr beide würdet sicher gut zusammenpassen. Sie hat so dunkles Haar wie du und bestimmt auch ein Paar zweitausend Dollar Schuhe im Schrank. Ihr solltet aus–«
Wesley hob warnend einen Finger.
»Sprich das Wort aus, Schäfchen, und du kriegst deine Strafe auf der Stelle«, stellte er klar.
»Meine Strafe?«, fragte Willow und hob die Augenbrauen.
Wesley nickte, ohne sie dabei anzusehen. Im Fernsehen lief Robin Hood – Heavers Lieblingsfilm.
»Was soll das sein?«, fragte sie interessiert und stets amüsiert.
»Finde es lieber nicht heraus«, raunte Wesley und ließ Willow mit seiner Stimme auf die Unterlippe beißen.
»Aber ich finde wirklich, ihr solltet ausgehen«, sagte sie und wusste gar nicht, wie ihr geschah, da hatte er sie auch schon an den Fußknöcheln über das Sofa direkt auf seinen Schoß gezogen, mit einer Hand ihre Taille umfasst und mit der anderen begonnen, sie zu kitzeln.
Willow quietschte laut auf, als Wesleys Hände plötzlich überall waren und erbarmungslos alle Luft aus ihren Lungen weichen ließ.
Sie hatte nie gewusst, wie kitzelig sie gewesen war, bis zu diesem Moment.
»Aufhören!«, keuchte sie lautstark lachend und hatte schon nach wenigen Sekunden ein rotangelaufenes Gesicht.
Aber Wesley war unerbittlich.
»Ich habe dich gewarnt, aber du musstest es ja provozieren«, stellte er klar, hatte aber ein hämisches Grinsen auf den Lippen.
»Natürlich musste ich das!«, kicherte Willow und krümmte sich auf seinem Schoß in alle Richtungen, um ihm zu entkommen.
Aber Wesley sah nicht nur muskulös aus. Er war es auch tatsächlich und er hatte sie ganz schon in er Mangel.
Willow japste vor lachen und bekam schon nach wenigen Sekunden Bauchschmerzen.
»Willst du deine Worte zurücknehmen?«, fragte Wesley grinsend. Er hatte einen großen Spaß daran, sie so durchzukitzeln.
Willows Lachen erfüllte das Haus und es war wie eine nie gekannte Melodie für ihn.
»Was, wenn ich Nein sage?«, fragte Willow und versuchte ihn jetzt mit ihren Armen aus dem Weg zu räumen.
Unglücklicherweise sah Wesley ihren Ablenkungsversuch kommen und warf sie urplötzlich zurück aufs Sofa, nur um sich über sie zu beugen und ihre Arme über den Kopf zu pinnen.
»Dann werden deine Bauchmuskeln ganz schön darunter leiden«, drohte er verspaßt und zwickte ihr einmal in die Seite.
»Du Sadist!«, fluchte Willow und rollte sich von einer Seite auf die andere, bis sie schließlich bemerkte, dass sie Situation aussichtslos war.
»Na gut, na gut!«, keuchte sie, »Du hast gewonnen! Ihr beide passt absolut nicht zusammen!«
»Geht doch«, lächelte Wesley und ließ sie ruckartig wieder los, um sich wieder auf das Sofa zu setzen, ihre Füße auf den Schoß zu nehmen und in den Fernseher zu sehen.
Seine Miene fiel und er schien von einer Sekunde auf die andere, als hätte er sie nicht gerade versucht umzubringen.
Willow pustete einen Schwall Luft aus und versuchte sich zu sammeln.
Die Haare standen ihr wild vom Kopf ab und ihre Kleidung war unbequem verrutscht.
Wesley schmunzelte innerlich.
»Ich mag dieses Kleid. Es steht dir fantastisch«, komplimentierte er ihr Outfit mit der offensichtlichen Absicht, Erinnerungen an den gestrigen Tag aufzuwecken.
Willow wurde rot, aber da sie schon zuvor rot gewesen war, fiel das nicht sonderlich auf. Gestern. Stimmt. Da war ja etwas gewesen.
»Findest du?«, fragte sie, um nicht komplett dämlich einfach nur danke zu sagen und das Gespräch zu beenden.
»Ja, finde ich. Obwohl ... der Bademantel, den du heute Mittag getragen hast, den fand ich noch besser. Ich habe nie gewusst, wie sehr ich Koalas mag, bis ich sie an dir gesehen habe.«
Er warf ihr einen verschmitzten Blick zu, den Willow in ihrer Scham mit einem Tritt gegen seinen Oberarm abtat.
»Sexy«, fügte Wesley hinzu und hätte sich beinahe einen zweiten Tritt eingefangen, wenn er nicht rechtzeitig reagiert und Willows Füße gegriffen hätte, nur um sie wieder auf seinem Schoß zu betten und zu massieren.
Willow sah ihn merkwürdig an. Wesley schaute wieder auf den Bildschirm, wo Robin Hood und Little John gerade dabei waren, den Sheriff auszutricksen und die Gefangenen aus dem Kerker zu befreien.
Noch nie hatte ihr jemand die Füße massiert.
Aber es fühlte sich angenehm an und Wesleys Hände waren warm und sanft.
Es erschien merkwürdig, aber Willow entspannte sich nach einigen Sekunden vollständig und ließ sich ganz kommentarlos weiter von ihm massieren, während auch sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm lenkte und den Film verfolgte. So verlief ihr Abend.
Als hätten sie schon Tausende von Abenden genau so verbracht.
Heaver seelenruhig in ihrem Körbchen, Willow und Wesley auf der Couch und er gab ihr eine Massage, um sie damit unterbewusst in den Schlaf zu lullen.
Nahezu perfekt, dachte Willow, bevor sie tatsächlich einnickte.
Sie hatte eindeutig zu wenig Schlaf in der letzten Nacht bekommen.
Perfekt, dachte Wesley, als er ihre schlafende Gestalt sah.
Perfekt.
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